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ADHS Aktuell

 
Editorial
 

Im heutigen Newsletter steht das für viele Menschen mit ADHS wichtige, aber noch wenig erforschte, Thema «Hochsensibilität» im Zentrum. Dr. med. Eveline Breidenstein beleuchtet in ihrem umfassenden Artikel Grundlagen der Wahrnehmung, Bereiche der Hochsensibilität, Diagnostik, Behandlung sowie den Arousal. In einer Übersicht zeigt sie anhand von Aussagen betroffener Frauen Wahrnehmungen, Auswirkungen und Bewältigungsstrategien auf.

Aufgrund ihrer grossen Erfahrung in der Begleitung von hochsensiblen Menschen, kennt und benennt Corinne Huber nicht nur die Schwierigkeiten, sondern auch die positiven Aspekte der Hochsensibilität. Sie thematisiert zudem die spezifischen Bedürfnisse im Bereich Therapie, Beratung und Coaching.

und Coaching. Unter der Rubrik «Im Blickpunkt» verweist Isolde Schaffter-Wieland auf interessante News und Studien mit entsprechenden Links. Dies zu Themen wie Behandlungsabbruch von PatientInnen mit ADHS, Vorteile von Neurofeedback bei Kindern mit ADHS, Substanzgebrauchsstörung bei Erwachsenen mit ADHS, Prävalenz von Knochenbrüchen bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS sowie Muster der Remission von ADHS im Erwachsenenalter.

Am Schluss finden Sie einen Safe-The-Date Hinweis auf die Mitgliedertagung der SFG ADHS.

Herzliche Grüsse

Felicitas Furrer und Isolde Schaffter-Wieland

 

Hypersensitivität, Arousal und ADHS

Dr. med. Eveline Breidenstein, FMH Innere Medizin, Ottenbacherstr. 6, 8912 Obfelden Vorstandsmitglied SFG ADHS, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

 

Viele ADHS-Menschen zeigen Hypersensitivitätszeichen in irgendeiner Form (emotional, sozial, oder bestimmte hypersensible Wahrnehmungssinne) – von der bekannten Reizfilterstörung mit genereller Reizüberflutung ganz zu schweigen. Bei ADHS-Betroffenen mit Symptomen einer ASS sind sie noch häufiger zu finden.

 

Unser In einem Seminar der Gehirn- und Traumastiftung Graubünden vom 3.12.2020 sprachen vier Fachleute zum Thema:  Der Psychologe Andreas Müller referierte über die Grundlagen der Hochsensibilität und ihre Diagnostik mittels qualitativem EEG, Frau Prof. Dominique Eich-Höchli über wissenschaftliche Studien zum Thema; Frau Marionna Münger informierte über die Grundlagen des Arousalzustands auf die allgemeine Leistungsfähigkeit und Frau Birgit Graf über Auswirkungen des Arousals auf psychotherapeutische und medikamentöse Therapiestrategien. Neben den referierten Themen führe ich als allergologisch und psychosomatisch interessierte Hausärztin noch eigene Gedanken und Erfahrungen an im Artikel.

 

Grundlagen der Wahrnehmung / Reizempfindung

Reize können auf physikalischem Weg (z.B. elektromagnetische Schallwellen oder Druck), durch physikalisch-chemische Reizung der Tast- oder Schmerzrezeptoren oder über chemische Botenstoffe wie Geruchsmoleküle im menschlichen Wahrnehmungssystem ankommen; daneben erfolgen auch Wahrnehmungen aus dem Körperinnern (z.B. Hunger, Schmerz, Schlafdruck, sexuelle Erregung). Alle diese Reize werden jedoch nicht immer gleich wahrgenommen und verarbeitet. Eigene Erlebnisse, wie z.B. traumatische Erfahrungen und die persönliche Erfahrung im Umgang mit «Hochreiz-Situationen» (erfolgreich gemeistert oder hilflos ausgeliefert gewesen), beeinflussen - neben der genetischen Veranlagung – den Grundarousal, also den Anspannungs- und Wachheitszustand. Ein erhöhter Arousal führt meistens zu verstärkter Wahrnehmung von äusseren und inneren Reizen. Zusätzlich verändern auch aktuelle hormonelle Zustände wie Menstruationszyklus und aktueller Stresszustand, die allgemeine Empfindlichkeit der Reizempfindung und die spür- und messbare Reaktion darauf.

 

Hochsensibilität = Hypersensitivität = High sensitive processing

Hochsensible Menschen reagieren bereits auf kleinere Reize (= tiefere Wahrnehmungsschwelle) und bei Reizen normaler Intensität mit einer stärkeren bzw. überstarken Wahrnehmung (= normale Reizintensität führt u.U. zu unangenehm hoher Erregung). Zitat Elaine N. Aaron, Kalifornien.

Bereiche der Hochsensibilität 

Hochsensibilität kann sich in verschiedensten Wahrnehmungsbereichen zeigen:

  • Hochsensible Menschen nehmen z.B. im sozio-emotionalen Bereich häufig schon kleine Veränderungen wahr (sie spüren, was in der Luft liegt). Um diese Wahrnehmungen für sich zuerst einordnen und die Folgen bedenken zu können, und weil sie unter Umständen auch stärker in Erregung geraten und dadurch blockiert sind, brauchen sie Zeit, bis sie reagieren («komplexes Entscheidungsverhalten»), sie wirken dadurch zurückhaltend oder blockiert. Grundsätzlich werden die Gefühle und Gedanken anderer intensiver wahrgenommen, so dass sie stärker mitleiden und auch gute Situationen intensiver erleben.
  • Häufig sind sie besorgt um soziale Gerechtigkeit und zeigen ein starkes Mitgefühl.
  • Sie zeigen teilweise auch schneller Schreckreaktionen und sind deshalb grundsätzlich ängstlicher.
  • Viele Hochsensible sind künstlerisch begabt oder haben eine Leidenschaft für Kunst, da ein Aussen-Reiz im Vergleich zu normal sensiblen Menschen zu einer intensiveren ästhetischen Wahrnehmung führt und entsprechend klarer künstlerisch umgesetzt werden kann.
  • Hochsensiblen Menschen fehlen auch in anderen Wahrnehmungsbereichen die Filter. Häufig werden sie durch andere Sinneswahrnehmungen stärker beeinflusst als der Durchschnittsmensch: So wird Licht schnell als grell oder normale Klänge als kreischend empfunden. Auch Gerüche oder Geschmacksempfindungen werden intensiver wahrgenommen, was manchmal zur Selbstisolation (zum Schutz vor Reizüberflutung) oder zu sehr einseitigem Essverhalten führt (dies kann unter Umständen in einem Skorbut enden!).

Diagnostik

Die Hochsensibilität kann mittels Fragebögen oder qualitativem EEG (= Q-EEG) ermittelt werden. Im Q-EEG erfolgt die Reizantwort nach evozierten Potentialen (s. Abb. 1) sowohl im direkten Wahrnehmungszentrum als auch im dahinter geschalteten Verarbeitungssystem (retikuläre Aktivierung) und im assoziativen Kortex stärker als bei der Referenzpopulation.

Abb. 1: Beispiel der Reizantwort im EEG bei visueller Provokation

Evolutionäre Bedeutung der Hochsensibilität

Sind hochsensible Menschen der aussernormale Teil der Normalverteilung in der Gausschen Kurve, welcher dazu führt, dass die Mehrheit der Menschen ein normales Leben führen kann – trotz allen Reizen, Unterhaltungsmöglichkeiten und kulturellen Errungenschaften des 21. Jahrhunderts, von denen sich unsere Steinzeitvorfahren weder hätten abgrenzen müssen noch für sie entscheiden können? Oder sind die Hochsensiblen schlicht die Spitze der Wahrnehmungs-Evolution, also die evolutionär Fittesten, ohne deren Wahrnehmungsfähigkeiten keiner von uns «Normalen» in der Natur mehr überleben würde?

Ob Hochsensibilität für den betroffenen Menschen zum Segen oder Fluch wird, hängt – wie viele persönliche Eigenheiten – davon ab, ob diese Besonderheit, dank weiterer Begabungen und glücklicher Lebensumstände, als herausragendes Merkmal fürs eigene berufliche Biotop genutzt werden kann (siehe erfolgreiche Kunstschaffende). Im negativen Fall führen diese Sensibilitäten u.U. zu einer sich selbst dekonditionierenden Abwärtsspirale von Isolation und Vermeidung. Als Beispiel zu beobachten unter den Verfechtern der Multiple Chemical Sensitivity Syndrom-Theorie, welche sich wegen multiplen subjektiven Unverträglichkeiten von diversen Stoffen (etwa von chemisch hergestellten Stoffen, natürlichen Gerüchen, Giftstoffen aus beispielsweise zahnärztlichem Material, bestimmten Nahrungsmitteln oder Textiloberflächen) aus dem Alltag zurückziehen, um Reize zu vermeiden. Dieses Vermeidungsverhalten lässt die Betroffenen leider zunehmend empfindlicher werden gegenüber den Reizen und führt nicht zur Besserung der Lebensqualität, sondern oft in die Invalidität.

 

ADHS und Hochsensibilität

Es gibt nur wenige Studien zur Komorbidität von ADHS und allgemeiner sensorischer Hypersensitivität. Frau Prof. Dominique Eich zitierte eine Zusammenstellung der oben erwähnten Hypersensitivitäten bei ADHS durch Terry Matlen, 2008 oder auch die grosse Assoziation bei Denise Bijlenga, 2017 (bis 40% der von einer ADHS betroffenen Frauen und 20% der Männer). Grundsätzlich ist eine Hypersensititivät bei vielen Menschen mit ADHS unbestritten, gehört sozusagen schon zu den erweiterten Diagnosekriterien (vgl.Abb. 2; die Zusammenstellung von P. Wender von 1995, rot markierte Items).

Abb. 2: ADHS-Leitsymptome nach Wender

 

Daneben zeigen sich bei einigen ADHS-Betroffenen auch Nahrungsmittelunverträglichkeiten oder Allergien (als Beispiel gelte die Zusammenstellung von L. Pelsser und Team von 2009. Eine individuell angepasste Eliminationsdiät zur Behandlung der ADHS-Symptomatik kann sowohl die eigentlichen ADHS-Symptome (Inca-Studie von Pelsser et al. 2008, Review https://doi.org/10.1371/journal.pone.0169277 ) als auch eine allgemeine Empfindlichkeit und Allergien bessern (Erfahrung der Verfasserin).

Behandlung der Hochsensibilität

Die Hochsensibilität soll nicht mit Stimulantien behandelt werden, da sie per se nicht eine Krankheit ist. Andererseits bessert sich durch die Stimulantientherapie die allgemeine Filterfunktion, so dass während der Medikamentenwirkungsdauer auch die Überempfindlichkeit auf Reize abnimmt.

Eine Patientenanekdote mag dies illustrieren:

14-jähriges, hochintelligentes Mädchen mit Erschöpfungszustand und Schulverweigerung in der 1. Sekundarklasse; auch das Einkaufen von Kleidern führte aufgrund der Überreizung jeweils nach 30 Minuten zum fluchtartigen Verlassen des Warenhauses und nach kurzer Zeit zu Hause zum erneuten Drängen nach der nächsten Einkaufgelegenheit (die Kleider fehlten ja noch immer). Aufgrund stark verminderter Selbstorganisation und der ADHS-Diagnose des Bruders entstand der Verdacht auf ADHS. Die abklärende Kinder- und Jugendpsychiaterin konnte zwar in den Fragebogen einzelne Hinweise auf ADHS finden, da sich aber weder in den Testuntersuchungen noch im Q-EEG klare ADHS-Zeichen zeigten, war die Diagnose formal nicht zu stellen. Die Schulsituation drohte zu eskalieren.

Nach Rücksprache mit mir, gab die Mutter ihrer Tochter 5mg Ritalin an einem schulfreien Tag – und ging mit ihr einkaufen. Zur Überraschung aller verkündete das Mädchen nach 45 Minuten Kleidereinkauf, dass es nun auch noch Schuhe benötige…. Aufgrund dieser positiven Stimulantienwirkung erhielt es eine regelmässige Methylphenidatmedikation und hat nun erfolgreich die Maturität im anspruchsvollen Englisch-Immersions-Typ bestanden.

Hyper- und Hypoarousal

Arousal

Zur Grundlage der Reizverarbeitung gehört eine generelle Reaktionsfähigkeit des Organismus; technisch gesprochen, muss die «Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit angeschaltet» sein. Der Arousalzustand beschreibt den Grunderregungszustand des ZNS, von dem aus alle ZNS-Aktivitäten, also auch körperliche, physische und emotionale Reaktionen und Wahrnehmungen ausgehen. Nur mit einem genügend hohen, ausgewogenen Arousal ist die Möglichkeit zur Aufmerksamkeit und Reaktion gegeben.

Der Grunderregungszustand kann grob in drei Stufen eingeteilt werden: Koma – Schlaf – Wachheit; der Arousal wird aus den Tiefen des retikulären Systems und dem Thalamus gesteuert via ARAS (aufsteigendes retikuläres Aktivierungs-System).

Der Grad des Arousals kann mittels elektrodermaler Aktivität, Pupillometrie, Herzfrequenzvariabilität oder EEG-Frequenzbereich (v.a. Theta-Beta-Ratio), siehe Abb. 3 oder subjektiv mit Fragebögen gemessen werden.

 
Abb. 3: EEG-Frequenzbänder

ADHS und Hyper- bzw. Hypoarousal

Viele ADHS-Menschen schwanken zwischen Hyperarousal und Hypoarousal; dies wirkt sich bekanntermassen aus auf die Aufmerksamkeit und Impulsivität: Hyperarousal bewirkt impulsive bzw. hyperaktive Handlungen, Hypoarousal eine verminderte Aufmerksamkeit durch reduzierte Ausdauer, Motivation und Antrieb. Effiziente Schul- und Arbeitsleistungen sind nur in der mittleren Arousalzone möglich; vgl. Abb. 4

Abb. 4: Arousalzustände und Leistungsfähigkeit

Psychiatrische Symptomatik des Hyperarousals und Hypoarousals

Durch Hyperarousal und Hypoarousal entstehen aber auch Verhaltenszustände im erweiterten (über die ADHS-Symptomatik hinausgehenden) psychischen Bereich und in der sozialen Interaktion:

Der Zustand des Hyperarousals zeigt sich sozial in Reizbarkeit und Aggression bzw. Angst und Panik, sowie Schlafstörung; der Zustand des Hypoarousals als Apathie, Depressivität und Antriebsstörung, Rückzug bis zur Dissoziierung / Derealisation; Abb. 5

Abb 5: Zustände des Arousals und psychosoziale Auswirkung

 

 

Soziale Kompetenzen – im Sinne der an die sozialen Umstände angepassten Selbststeuerung – können nur im optimalen Zustand zwischen Hyper- und Hypoarousal aufgebaut werden. Menschen im Zustand der Extrempositionen sowohl von Hyper- als auch Hypoarousal wirken äusserlich erstarrt: im Untererregungszustand wegen Ohnmacht, Erschlaffung, emotionaler Leere; im Übererregungszustand als Erstarrung durch Überflutung.

Gerade auch zur Konfliktbewältigung ist diese Erstarrung unter Umständen stark hinderlich. Frau Birgit Graf referierte über den Zusammenhang zwischen der verminderten Aktivität im anterioren cingulären Cortex (durch verminderte Aktivität im limbischen System, anterioren Thalamus und anterioren Cingulum) und der verminderten Möglichkeit, zum Erarbeiten von Handlungsalternativen im Konfliktmonitoring. Das heisst, statt in Konfliktsituationen innerlich verschiedene Reaktionsweisen zu vergleichen, fühlen sich Menschen mit Hypoarousal ratlos und scheinen indifferent.

Behandlungsstrategie anhand des Arousalzustands

Therapeutisch ist es ganz wichtig, zwischen den Ursachen der Blockadezustände zu unterscheiden: Für den Zustand des Hypoarousals kann neben dem Erlernen von Selbstmotivation und -Motivatoren mit zeitnahen, positiven Rückmeldungen auch bewusste Bewegungsaktivierung eingesetzt werden: Sei es als kreislaufaktivierende Ausdauerleistung vor der geistigen Anstrengung oder als bewusst eingesetzte Körperaktivierung während der Konzentration (taktile Aktivierung z.B. mit Stressball zum Kneten, Kritzeln; Stricken oder Körperpositionsaktivierung mittels Sitzball oder Stehpult). Medikamentös kann eine niedrigdosierte Stimulantientherapie eingesetzt werden, häufig wirkt Dexamphetamin besser als Methylphenidat, um zu helfen, die Antriebs-Motivationsschwelle zu überwinden und eine bessere Selbstwirksamkeit zu erleben.

Ein weiteres Problem betrifft den negativen Hyperfokus, in den sensible ADHS-Menschen häufig geraten können – sie grübeln lange oder zeigen unangebrachte Sorgen. Es fällt ihnen schwer, Interpretations- und Handlungsalternativen zu überlegen und zu entwerfen. Dieses depressiv anmutende Verhaltensmuster kann unter Stimulantien-Wirkung besser überwunden werden; viele ADHS-Frauen mit intermittierender Medikation berichten, dass sie bewusst Stimulantien verwenden, um sich aus dem negativen Gedankendrehen rauszubringen.

Für ADHS-Menschen im Zustand des Hyperarousals sollen in erster Linie Psychotherapie und Coaching für die Alltagsstrukturierung (z.B. vermeiden von Reizüberflutung – auch im Beziehungsnetz, erarbeiten von Rückzugsmöglichkeiten, liebevolle Führung mit positiven Rückmeldungen) sowie das Erlernen von Entspannungsverfahren und Achtsamkeitstraining eingesetzt werden. Ist eine Medikation notwendig, sind bei posttraumatischem Hyperarousal eher SSRI indiziert. Unter Stimulantien verschlechtert sich häufig die Übererregung, so dass diese, falls nötig, sehr niedrig dosiert eintitriert werden müssen. Für posttraumatische Schlafstörungen können auch Alpha2-Antagonisten probiert werden.

Zusammenfassung

Hypersensibilität ist häufig bei ADHS mit und ohne ASS-Symptomatik. Sie kann sich sozio-emotional oder auch in anderen Wahrnehmungsbereichen äussern. Je nach Arousal (d.h. Grundaktivität) sowie lebensgeschichtlichen, psychosozialen Erfahrungen und somatischen Zuständen wirkt sich eine genetische Veranlagung zur hypersensiblen Wahrnehmung unterschiedlich stark aus.

Für die therapeutische Begleitung ist es wichtig, die Hypersensibilität als zusätzliche Auffälligkeit im Verhaltensspektrum von ADHS-Menschen zu kennen und in psychotherapeutische und medikamentöse Strategien einzubeziehen.

Eine Übersicht verschiedener Hypersensitivitäten und Folgesymptome sowie entsprechende Bewältigungsstrategien

Eine Zusammenfassung von Aussagen betroffener Frauen der ADHS-Selbsthilfegruppe Affoltern auf den Input „Hypersensitivität und ADHS“ vom 08.09.2021.

 Zur Verfügung gestellt von Dr. med. Eveline Breidenstein

Somatosensorische Wahrnehmung

 

Sicht- oder spürbare Folgen

 

Bewältigungsstrategien

Dauergeräusche wie Uhrticken, Schnarchen des Bettnachbarn, Kühlschranksurren, Heizungsbrummen können nicht ausgeblendet werden

Schmerzen in den Ohren, Kopfschmerzen

 

Raum verlassen

Ohrstöpsel

Empfindlichkeit auf das Knistern von industriellen Textilien

   

Vermeiden solcher Textilien

Starker Lärm wie Baustelle oder Ambulanz-Sirene

Blockade, nicht mehr weiterlaufen können

Fluchtreaktion

 

Vermeidung, Ohren zuhalten

       

Helles Licht blendet

Blendegefühl

 

Sonnenbrille tragen

Storen sind tagsüber unten

Kleinste Lichtmengen stören beim Schlafen

Zu frühes Aufwachen

 

Augenbinde und Lichtschutz-Vorhänge

Sonnen-Unverträglichkeit in den Augen oder auf der Haut

Rote Augen, Sonnenbrand, Sonnenstich

 

Sonne meiden, Sonnenbrille

       

Geräusche, blinkende Reklamen, viele Leute im Einkaufszentrum

Sehr schnelle Ermüdung, Kopfschmerzen

 

Einkaufen in kleinen Läden; Shoppingcenter- Besuche delegieren

Online-Shopping

       

Viele Leute auf engem Raum

Überforderungsgefühl, Kopfschmerzen

 

Rush Hour meiden (ÖV, Geschäfte)

Keine Grossveranstaltungen

Geruchsempfindlichkeit (inkl. natürliche Gerüche wie Urin, Ethanol, Kaffee, Blumen)

Übelkeit, Kopfschmerzen

 

Parfum, Plätze und Gegenstände mit entsprechendem Geruch meiden

Berührungsempfindlichkeit (inkl. z.B. antippen des Gesprächspartners)

Erstarren bei Berührung

Blockade

Aggressivität

 

Kommunikation ans Gegenüber, nur verbal zu sprechen und für Berührungen anzufragen

Verdauungsaktivität innerlich unangenehm wahrnehmen

Verminderte Konzentrationsfähigkeit

 

Nur kleine Portionen essen, Blutzuckerschwankungen vermeiden

 

Emotionale Wahrnehmung

 

Sichtbare Folgereaktion

 

Bewältigungsstrategie

Stimmungen anderer im Raum sofort wahrnehmen

Blockierung der eigenen kognitiven Leistung Verstummen

 

Rückbesinnung auf eine somato-sensorische Wahrnehmung

Negative, despektierliche Reaktionsweise anderer sehr persönlich nehmen

Tagelange depressive Verstimmung

 

Meidung von nicht nahestehenden Personen, die sich negativ verhalten (Kontaktabbruch);

Information von nahestehenden Personen, diese Reaktionsweise zu vermeiden

Fiktiver Brief an die auslösende Person

Diskussionen und Streit sehr persönlich nehmen

Ausrasten, handgreiflich werden

 

Sich zurückziehen, bevor der Streit eskaliert

Zu starkes Mitleid empfinden

In Tränen ausbrechen

 

Sich zurückziehen

Empfindlichkeit auf bestimmte Wörter (z.B. Scheisse, kotzen)

Unwohlgefühl bis subdepressiv, da Erinnerungen triggernd

 

Verbot dieser Wörter im nahen Umfeld

Erinnerungen an negative Situationen

Gedankenkarussell

Dissoziatives Verstummen

 

Hörbuch (auch nachts, bis zum erneuten einschlafen)

 

Grundsätzlich hilft es allgemein, genügend zu schlafen, die Tages- und Abend-Abläufe ritualisiert gleich zu halten, um weniger zu ermüden und die Reize besser verarbeiten zu können. Bei Ferienaufenthalten stets an den gleichen Ort zurückkehren.

Sensitivitätsfragebogen für Erwachsene und für Kinder der HBimed AG Chur finden Sie unter dem folgenden Link: https://sfg-adhs.ch/hypersensitivit%C3%A4t-fragebogen-der-hbimed-ag-chur.html

Wir danken der HBimed AG für die Genehmigung die Fragebogen zu verlinken.

Erhöhte Neurosensitivität – Hochsensitivität – Highly Sensitive Person

Kultivieren statt ignorieren, stilisieren oder stigmatisieren

 

«Wenn es hochsensiblen Menschen gut gehen soll, können sie nicht anders als anders zu leben.»

(Christine Prohribneac)

Corinne Huber, Mitglied SFG ADHS, eidg. Anerkannte Coachin, betriebliche Mentorin, Dipl. Craniosacral Therapeutin (EMR anerkannt), schulische Heilpädagogin. Zert. Med. Hypnosetherapeutin, spezialisiert auf ADHS und Hochsensibilität, eigene Praxis in Basel seit 2003

 

Die unterschiedlich starke Ausprägung der Sensibilität, der Empfindlichkeit eines jeden Menschen ist eine Veranlagung, ein Wesenszug, ein Persönlichkeitsmerkmal und keine Krankheit. Sie zeigt sich am auffälligsten in der Sinnes- und Gefühlswahrnehmung, aber auch in Denkmustern, der Resilienz und den daraus resultierenden Fähigkeiten und Bedürfnissen.

Liegt eine Veranlagung zu einer sehr breiten und vertieften Reizaufnahme vor, kann das auf eine Hochsensibilität hindeuten. Dies würde bedeuten, dass das Gehirn mehr Zeit braucht, die vielen Eindrücke zu verarbeiten und zu regenerieren, d.h. der hochsensible Mensch benötigt mehr reizarme Pausen, um den Überblick über die täglichen Anforderungen zu behalten und in seiner Kompetenz zu bleiben. «Hochsensibilität hat das Potential, eine Stärke zu sein», äussert Christina Pohribneac, Spezialistin für Hochsensibilität und Chefärztin der Klinik Heiligenfeld in Deutschland in einem Podcast. Sie habe viele Vorteile, berge aber auch Gefahren.

Der Begriff der Hochsensibilität wurde bereits 1996 durch die amerikanische Forscherin, Universitätsprofessorin und Psychotherapeutin Elaine N. Aaron bekannt. Er wird allerdings heute noch nicht abschliessend verstanden, teilweise verneint und als Modeerscheinung oder esoterisches Konstrukt abgelehnt. Dies manchmal mit dem Vorwurf, eine ADHS-Diagnose umgehen zu wollen.

Hochsensible waren schon immer das Salz der Erde

(nach Marcel Proust)

Die Benennung von äusserst sensiblen Merkmalen bei Menschen reicht bereits in die Zeit der Psychoanalyse zurück, was Michael Pluess nebst den aktuellen Forschungsergebnissen aufzeigt. Er ist Professor für Entwicklungspsychologie an der Queen Mary Universität in London und einer der führenden Forschungsexperten für Sensibilität bei Kindern und Erwachsenen. Weltweit werde in den nächsten zehn Jahren noch zunehmend, differenzierter und empirisch zum Thema "Empfindlichkeit" geforscht. Das Augenmerk richte sich dabei sowohl auf die Neurowissenschaft, die Physiologie und die Genetik, als auch auf realistische – anstelle von negativen oder überspitzt positiven – Merkmale der Hochsensibilität. Die Beziehung zwischen Hochsensibilität und Gesundheit liege dabei im Brennpunkt.

Bereits 2002 griff hierzulande der Psychiater und Chefarzt Samuel Pfeifer das Thema des sensiblen Menschen und möglichen Auswirkungen dieser Ausprägung in einem vielbeachteten Buch auf. Und die Psychiaterin Doris Ryffel wies 2003 auf die Hochsensibilität im Zusammenhang mit ADHS hin. Ihr Buch spricht viele ADHS-Betroffene an. Der Bestseller von Georg Parlow «Zart besaitet» (2003) half vielen Hochsensiblen, sich selbst besser zu verstehen. Coaches, Beraterinnen und Therapeuten wiederum können besser auf die speziellen Bedürfnisse ihrer Besucher und Besucherinnen eingehen und entsprechende Unterstützungsmassnahmen entwickeln. Die Forschung untersucht die Hochsensibilität in sich und nicht als Komorbidität von ADHS. Dabei wirft sie einen ausgewogenen Blick auf die Ressourcen. Eine Differenzialdiagnose speziell zwischen AD(H)S und Hochsensibilität wird spannend bleiben, wahrscheinlich ebenso auch aus dem Blickwinkel von Trauma und (partieller) Hochbegabung.

Das hochsensible Gehirn reagiert aktiver

Die natürliche Empfindlichkeit eines jeden Menschen wird laut Michael Pluess auf einem Kontinuum in eine niedere, höhere oder sehr hohe Sensibilität unterteilt. Dabei spielen Strukturen und Funktionen mehrerer Gehirnregionen – speziell auch im limbischen System – eine wichtige Rolle. Auch soziale Prägung, genetische und neurologische Ursachen werden untersucht, wobei ungefähr die Hälfte der Unterschiede auf genetische Faktoren hinweisen. Sensibilität lässt sich grundsätzlich trainieren (Meditation, Achtsamkeitstraining u.a.). Inwieweit jedoch eine Hochsensibilität «antrainiert» werden kann, ist Forschungsgegenstand. Es sieht eher so aus, dass stark einwirkende und überfordernde äussere Faktoren wie beispielsweise eine Bindungsthematik oder ein Trauma, eine Hochsensibilität auslösen können.

Bei der Veranlagung zu einer erhöhten Sensibilität wirken äussere Faktoren wie die visuelle, akustische und mediale Reizfülle sowie die gesteigerte Leistungserwartung und -geschwindigkeit der heutigen Zeit, sehr wahrscheinlich verstärkend – und führen schneller zu Überforderung. Distress wird von hochsensiblen Menschen subjektiv verstärkter wahrgenommen. Dementsprechend liegt auch eine gesteigerte Anfälligkeit gegenüber überfordernden Begebenheiten vor und diese schneller als traumatisch zu erleben. Umgekehrt kann eine auffällig niedrige Stressresistenz auf eine Hochsensibilität hinweisen. Oftmals fehlen Betroffenen geeignete Copingstrategien. Dies führt in der Folge zu längeren Regenerationsphasen und – im ungünstigen Fall – zu sozialem Rückzug, Ängsten, Schlafstörungen, psychosomatischen Beschwerden und zu depressiven Episoden oder Burnout.

Viele hochsensible Menschen sind lebensfroh, zufrieden und erfolgreich unterwegs. Sie geniessen ihre Sinnesvielfalt und die Reichhaltigkeit des Lebens.

Ein antrainiertes Bewusstsein über die Auswirkungen einer höheren Empfindlichkeit, Selbstreflexionsfähigkeit, geeignete Selbsthilfe- und Copingstrategien lassen die durchaus vorhandenen Vorteile einer Hochsensibilität überwiegen, sie wertzuschätzen und inneren Stress abzubauen. Die Vielfalt an auffallend ausgeprägten Fähigkeiten können dementsprechend kultiviert und – sinnvoll eingesetzt – nützlich sein. Ich denke dabei an die Interessensvielfalt, Begabungen, das Erkennen von Details, Erfassen von komplexen Zusammenhängen, Querdenken, tiefes Empfinden für Werte und Bedürfnisse der Welt, Gewissenhaftigkeit, ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, innovative Ideen und Phantasie, gesteigerte Kreativität, hohe Empathie, Natur- und Tierliebe, Interesse an philosophischen Fragen. Und nicht zuletzt aber auch an feine bis ungewöhnliche, nicht messbare Wahrnehmungen und den Zugang zur feinstofflichen Ebene und Spiritualität u.a. Es gibt jedoch auch Hochsensitive, die weniger tiefe Gefühle (Einfühlungsvermögen) entwickeln als andere. Vielleicht sind das eher die High Sensation Seeker.

Seit ihrer Kindheit hören hochsensible Menschen nebst negativen Glaubenssätzen oft auch Aussagen wie «Sensibelchen», «Mimose», «was du dir wieder alles einbildest», «du hörst das Gras husten», «schwächle nicht so», «du übertreibst mal wieder», «Prinzessin auf der Erbse», «sei ein Mann», «Heulsuse», etc., was verunsichernd und bei häufigen Wiederholungen über Jahre hinweg stigmatisierend wirken kann. Es versteht sich von selbst, dass solche Aussagen sicher nicht zu einer von Vertrauen geprägten Selbstwahrnehmung beitragen («kann ich mir noch trauen?»). Grenzüberschreitungen dieser und anderer Art müssen Menschen mit einer hohen Empfindlichkeit im Alltag öfters erleben. Nicht selten führt dies zu einem Unvermögen, eigene und fremde Grenzen wahren zu können bzw. diese überhaupt zu erkennen. Etwas «aushalten» zu müssen, ist ein Gefühl, das viele Hochsensible kennen.

Unsere Welt braucht Menschen mit feinen Antennen

Hochempfindliche Menschen fühlen sich meistens «anders», manchmal auch zu «fragil» für diese Welt. Sie haben einen hohen Sinn fürs Authentische und die Wahrheit. Metakommunikation ist ihnen zuwider. Sie fühlen sich oftmals weniger zugehörig und verstanden. Trauer, Scham, Selbstanklage, sozialer Rückzug, ein vermindertes Selbstwertgefühl, innere Einsamkeit und Flucht in «Zwischenwelten» können die stillen Folgen sein. Überanpassung, chronische Selbstoptimierung und Leistungssteigerung bis hin zum Perfektionismus – um es «richtig und gut» zu machen und in Sicherheit zu sein – führen u.a. dazu, dass sich Hochsensible mehrheitlich nach Aussen orientieren. Sie müssen vermehrt aufpassen, nicht "auszupowern". Psychische und physische Stresssymptome (Psychosomatik) können dabei nicht selten zum Ventil werden. Auf Seelenverwandte zu treffen, die ebenso einen Zugang zu erweiterten Wahrnehmungsebenen haben und die «gleiche Sprache» sprechen, kann sich anfühlen, wie «nach Hause» zu kommen und hat eine heilsame Wirkung.

Der tiefe Wunsch nach Sicherheit, Geborgenheit, Zugehörigkeit, Verbundenheit, aber auch nach Stille, genügend Ruhe, Raum und Kontemplation ist bei vielen hochsensiblen Menschen meistens omnipräsent. Diesen zu erfüllen ist zeitweilig mit viel Anstrengung verbunden. Trotzdem ist es wichtig, dass sehr empfindliche Menschen in aktiver, ehrlicher und realistischer Auseinandersetzung mit sich selbst ressourcenorientiert die Eigenverantwortung für ihr Handeln, ihre Kommunikation, ihren Lebensstil, ihr Wohlbefinden und letztlich für ihre Lebensqualität übernehmen. Ein Überstilisieren der Veranlagung Hochsensibilität, eine narzisstische Fixierung auf sich selbst oder ein Verharren in der Opferhaltung (die andern sind schuld an Ungereimtheiten), führen in eine Sackgasse und gleichen einer Abwärtsspirale.

Auch zarte Pflanzen brauchen starke Wurzeln

Immer wieder kann es geschehen, dass Menschen mit einer hohen Ausprägung an Empfindlichkeit in ihrem Leben streckenweise Unterstützung suchen – sei es in der Komplementärtherapie, im Coaching oder in der Psychotherapie. Dies geschieht manchmal nach einer langen Odyssee, wenn Betroffene das Gefühl haben, den Überblick über ihr Leben zu verlieren oder wenn medizinische Konsultationen aufgrund diffuser und teils wechselnder Körperbeschwerden keinen pathologischen Befund ergaben. Wahrscheinlich ist, dass sie durch ihre Veranlagung in den medizinischen Bereich der Psychosomatik gelangen. Dies zu akzeptieren fällt nicht so einfach, weil Scham- und Minderwertigkeitsgefühle dadurch verstärkt werden oder Schuldgefühle dazukommen können, das Leben nicht im Griff zu haben. Solche Empfindungen können die Selbstannahme beeinträchtigen und Autoaggressionen auslösen oder gegenteilig zu einer Aggressionsunterdrückung führen, was wiederum psychosomatische Störungen nach sich ziehen kann.

Wärme und Herzlichkeit steigern therapeutische Effektivität

Wenn hochsensible Menschen um Unterstützung bitten, ist die Haltung von ärztlich und therapeutisch tätigenden Fachleuten zentral. Der unumgängliche Türöffner für eine tragfähige, von Vertrauen geprägte Beziehung ist die aufrichtige Anerkennung der hohen Sensibilität auf körperlicher und emotionaler Ebene und deren nicht immer einfachen Auswirkungen für die Patientin, den Patienten. Gleichermassen empfiehlt sich die Wertschätzung der bis anhin geleisteten Anstrengungen sowie der allgemeinen Vorzüge einer Hochsensibilität überhaupt. Letztlich geht es wie bei anderen Hilfesuchenden ums angenommen werden und den Erhalt der Würde.

Gleichermassen wichtig ist, hochsensiblen Persönlichkeiten Achtsamkeit, Herzlichkeit und im Rahmen des Möglichen Schutz, Sicherheit und Geborgenheit anzubieten, den Blick auf ihre Ressourcen zu richten, was grundsätzlich eine therapeutische Voraussetzung sein sollte. Die heilsame Wirkung einer wohlwollenden Begegnung ist nicht zu unterschätzen. Trotz engagierter Zuwendung und Empathie ist es für Fachpersonen wichtig, den Fokus auch auf ihre eigene Selbstfürsorge auszurichten und Grenzen sorgfältig zu wahren.

Mit positivem Mindset zu mehr Selbstwirksamkeit, Erfolg und Resilienz

Auf der Basis von Vertrauen und gegenseitiger Wertschätzung wird es möglich sein, sich mit den Hilfesuchenden auf einen ermutigenden Weg zur Stärkung und Potentialentfaltung zu begeben und – ohne Scham oder Schuldgefühle auszulösen – auch schwierigere Themen zu ergründen. Sich dabei regelmässig Emotionen und Körperreaktionen bewusst zu machen, kommt einem Königsweg gleich. Hochsensible Menschen sind häufig kritisch, konfrontativ und manchmal auch introvertiert. Sie hinterfragen gerne. Therapie-Sitzungen können gleichermassen bereichernd wie herausfordernd sein. Raum und Zeit zu bekommen, begleitet Selbsterfahrungen zu machen, Strategien zu üben, Fehler zu reflektieren, Persönlichkeit zu stärken, um Schritt für Schritt mehr Selbstvertrauen, Selbstregulation und Selbstkompetenz zurückzugewinnen, führt meistens zur erhofften Resilienz und ermöglicht, Nachhaltigkeit aufzubauen.

Nebst Psychoedukation sollte der Hauptfokus auf das Erarbeiten von Selbsthilfestrategien ausgerichtet sein. 

Ins Coaching, in die Beratung oder Therapie sollten – je nach Bedürfnis – nebst Strategien zu einem verbesserten Selbstmanagement, Achtsamkeitstraining, verschiedene Wahrnehmungs- und Meditationstechniken (Empfehlung: nur kurze Trancezustände!) und auch Übungen für mehr Selbstmitgefühl, Mental- und Kommunikationsstrategien, Bewegungsangebote oder Trainingseinheiten miteinfliessen – z.B. Beobachtungsaufgaben zum Thema Grenze. Im Rahmen der Therapie sind der Miteinbezug der Metaebene zur Verbesserung der Selbststeuerung sowie stressreduzierende Strategien hilfreich.

Miteinbezug einer ganzheitlichen Betrachtungsweise ist zielführend

Zur komplementär- und hypnotherapeutischen Unterstützung sowie anderen geprüften Heilverfahren haben viele hochsensible Menschen oftmals einen guten Zugang. Sowohl zur Stabilisierung, Optimierung oder Prävention, als auch parallel zur Psychotherapie und ergänzend zur Schulmedizin können diese Verfahren gerade auf der Ebene des Nervensystems wertvolle Unterstützung bieten. Nebst einer verbesserten Stressregulation durch Selbstzentrierung, ist es möglich, die eigene Wahrnehmung zu verbessern, die Konzentration zu fördern, Schmerzen zu reduzieren sowie Denkgewohnheiten und Gefühlsmuster zu verändern. Gleichzeitig lässt sich der innere Abstand zu sich selbst und anderen gegenüber positiv beeinflussen.

 

Literatur zum Thema

  • Dr. med. Susann Kirschner-Brouns, Cordula Roemer (2017), «Hochsensibel. Leichter durch den Alltag ohne Reizüberflutung», GU Ratgeber Gesundheit
  • Dr. med. Samuel Pfeifer (2017), «Der sensible Mensch. Leben zwischen Begabung und Verletzlichkeit», Verlag SCM Hänssler.
  • Dr. med. Doris Ryffel-Rawak (2015), «Wir fühlen uns anders! Wie betroffene Erwachsene mit ADS/ADHS sich selbst und ihre Partnerschaft erleben», Verlag Hogrefe.
  • Georg Parlow (2017), «Zart besaitet. Selbstverständnis, Selbstachtung und Selbsthilfe für hochsensible Menschen», Festland Verlag
  • Stephen W. Porges (2010), «Die Polyvagal-Theorie. Neurophysiologische Grundlagen der Therapie, Emotionen, Bindung, Kommunikation und ihre Entstehung», Junfermann Verlag
  • Maja Storch (2021), «Spirituelles Embodiment. Stimme und Körper als Schlüssel zu unserem wahren Selbst», Arkana Verlag
  • Akademie für Hochsensibilität, Schweiz: www.ifhs.ch
  • Prof. Dr. Michael Pluess: www.michaelpluess.com
  • https://sensitivityresearch.com
  • https://www.netzwerk-hsp.ch/forschung-zur-empfindlichkeit-was-wir-wissen-und-was-wir-noch herausfinden-muessen/
  • Klinik Heiligenfeld, Deutschland – spezialisiert auf Hochsensibilität und Psychosomatik: www.heiligenfeld.de 
    www.akademie-heiligenfeld.de
    Heiligenfeld-Podcast – verschiedene Podcasts auf youtube zur Hochsensibilität

 

 

Im Blickpunkt

 

Virtuale Internationale ADHS-Konferenz vom 4. bis 6. November 2021

Die von der amerikanischen ADHS-Organisation CHADD realisierte, internationale ADHS-Konferenz dient dem Informationsaustausch zwischen Fachpersonen und Betroffenen. Spannende Referate von SpezialistInnen aus Medizin, Forschung und der Coaching-Szene. Workshops, Peer-to-Peer-Meetings. Weitere Informationen und Online-Anmeldung:

http://www.theadhdconference.org

 

Presseschau und Studien

Patienten mit ADHS beenden die Behandlung häufiger

Eine aktuelle Studie hat ergeben, dass Personen mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und anderen psychiatrischen Diagnosen mit grösserer Wahrscheinlichkeit die Einnahme ihrer ADHS-Medikamente abbrechen. Die Studie ist laut den Autoren die bisher umfangreichste ihrer Art, und die Ergebnisse wurden im American Journal of Psychiatry veröffentlicht. Die Ermittler sammelten Daten von 9133 Patienten mit diagnostizierter ADHS und deren Verschreibungen von Medikamenten in Dänemark seit 1995.

 https://newsroom.au.dk/en/news/show/artikel/personer-med-flere-psykiatriske-diagnoser-dropper-oftere-adhd-behandlingen/

Studie verdeutlicht die Vorteile von Neurofeedback für Kinder mit ADHS

Eine von Elsevier veröffentlichte Studie im Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry (JAACAP) berichtet über eine Überprüfung nichtpharmakologischer Behandlungen von ADHS – insbesondere Elektroenzephalogramm (EEG-Biofeedback oder Neurofeedback), die eine grosse Verbesserung der Unaufmerksamkeit am Ende der Studie zeigt, jedoch ohne einen signifikanten Unterschied zwischen den beiden Behandlungen.

View Article: News-Medical.net, July 27, 2021

 

Kein erhöhtes ADHS-Risiko bei Kindern, die pränatal Antipsychotika ausgesetzt waren

In einer Analyse von mehr als 300‘000 Mutter-Kind-Paaren zeigten Kinder von Müttern, die während der Schwangerschaft ein Antipsychotikum einnahmen, kein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS; gewichtete HR 1,16, 95 %-KI 0,83-1,61) oder Autismus-Spektrum Störung (wHR 1,06, 95% CI 0,70-1,60) oder für das Gestationsalter zu klein geboren zu werden (wOR 1,36, 95% CI 0,86-2,14), berichteten Kenneth Man, PhD, von der University College London School of Pharmacy, und Kollegen in JAMA Innere Medizin.

View Article: MedPage Today, August 16, 2021

 

Die Hälfte der Erwachsenen mit ADHS hatte eine Substanzgebrauchsstörung

Eine Studie der Zeitschrift Alcohol and Alcoholism zeigt auf, dass die Hälfte der befragten 20- bis 39-Jährigen mit einer ADHS eine Substanzgebrauchsstörung (SUD) hatte. Dies ist deutlich höher als bei jungen Erwachsenen ohne ADHS, die in ihrem Leben eine Substanzstörung hatten (23,6%).

View Article: Medical Xpress, August 25, 2021

 

Prävalenz von Knochenbrüchen bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS

Laut Metaanalyse beträgt die Prävalenz von Frakturen bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS 4,83 %. Es ist wichtig, dass Ärzte, Eltern und politische Entscheidungsträger sich dieser Ergebnisse bewusst sind, um betroffene Kinder und Jugendliche zu unterstützen, um ihre Gesundheit und Sicherheit zu optimieren.

View Article: MDLinx, August 22, 2021

 

Die 12 besten Apps für ADHS von 2021

Es gibt Hunderte von Apps, die Menschen mit ADHS unterstützen können. In diesem Artikel konzentrierte sich die Jury auf Apps mit den höchsten Benutzer-Bewertungen der Benutzer und las unzählige Bewertungen, um den tatsächlichen Nutzen zu eruieren. Alle Apps sind für Android als auch für iOS verfügbar. 

View Article: PsychCentral, August 12, 2021

 

Nutzung medikamentöser und nicht-medikamentöser Therapien bei Kindern und Jugendlichen mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung: Primär- und Sekundärdaten-basierte Analysen

 

Kumulative Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde (Dr. rer. nat.)

Universität Bremen, Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften

vorgelegt von Oliver Scholle

https://media.suub.uni-bremen.de/bitstream/elib/4449/1/Scholle_Diss_2020-09-11_ePub.pdf

Validierungsstudien zur Diagnostik der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter

Faschina, Silvia. Validierungsstudien zur Diagnostik der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter. 2021, Doctoral Thesis, University of Basel, Faculty of Psychology.

https://edoc.unibas.ch/83100/

Variable Patterns of Remission from ADHD in the Multimodal Treatment Study of ADHD

(Am J Psychiatry 2021; 00:1–9; doi: 10.1176/appi.ajp.2021.21010032)

Margaret H. Sibley, Ph.D., L. Eugene Arnold, M.D., James M. Swanson, Ph.D., Lily T. Hechtman, M.D., Traci M. Kennedy, Ph.D., Elizabeth Owens, Ph.D., Brooke S.G. Molina, Ph.D., Peter S. Jensen, M.D., Stephen P. Hinshaw, Ph.D., Arunima Roy, Ph.D., Andrea Chronis-Tuscano, Ph.D., Jeffrey H. Newcorn, M.D., Luis A. Rohde, M.D., Ph.D., for the MTA Cooperative Group.

Der Artikel ist unter dem folgenden Link abrufbar: https://ajp.psychiatryonline.org/doi/pdf/10.1176/appi.ajp.2021.21010032

 

 

Veranstaltungshinweis

 

SAVE-THE-DATE:

Online-Tagung und Mitgliederversammlung  SFG ADHS am 10. März 2022, ab 14:00 – ca. 17:30 Uhr. Auch Nichtmitglieder sind herzlich willkommen.

Weitere Informationen folgen auf der Website der SFG ADHS https://www.sfg-adhs.ch/

ADHS Aktuell

Editorial

Im ersten Newsletter 2022 wirft Isolde Schaffter-Wieland einen Blick zurück auf die Online-Mitgliedertagung vom 10. März 2022 mit Referaten zum Thema «Aktuelle ADHS Forschungen» und Fachaustauschgruppen zum Thema «Behandlung von ADHS».

Welche Auswirkungen Covid-19 auf die Lese- und Rechtschreibkompetenz – die bei einer ADHS häufig beeinträchtigt ist – und die allgemeine Entwicklung von Kindern in verschiedenen europäischen Ländern hatte, wurde in verschiedenen Forschungsarbeiten untersucht. Die Ergebnisse stellt Dr. phil. Monika Brunsting in ihrem Bericht über das Herbstseminar der European Dyslexia Association (EDA) vor.

Unser Vorstandsmitglied Dr. med. Eveline Breidenstein widmet sich in ihrem Beitrag dem Thema ADHS bei Frauen und den noch wenig empirisch erforschten spezifischen Auswirkungen von Hormonen und Menstruationszyklus. (Hinweis: Der Beitrag wurde für das Journal für Gynäkologische Endokrinologie/Schweiz verfasst und zur dortigen Publikation angenommen: https://springermedizin.ch/zeitschriften/journal-fur-gynakologische-endokrinologie-2/ Mit freundlicher Genehmigung des Verlags darf er hier abgedruckt werden).

Dass es Möglichkeiten gibt, das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen mit ADHS zu steigern und ihre Persönlichkeit zu stärken, zeigen Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund in ihrem Beitrag «Drei Glücksgewohnheiten, die man mit ADHS-betroffenen Kindern trainieren kann». Dabei verweisen sie auch auf ihr kürzlich erschienenes Buch «Jaron auf den Spuren des Glücks», das Dr. phil Monika Brunsting im letzten Newsletter besprochen hat.

Zum Schluss stellt Isolde Schaffter-Wieland das neue Buch «EINE KINDHEIT MIT ADHS – Leben mit dem Aufmerksamkeitssyndrom» von Daniela Chirici, einer engagierten Mutter eines Sohnes mit ADHS, vor.

Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre und grüssen Sie herzlich.

SFG ADHS, Felicitas Furrer, Geschäftsleiterin

 

ONLINE-MITGLIEDERTAGUNG SFG ADHS VOM 10.03.2022

Isolde Schaffter-Wieland, ehemaliges Vorstandsmitglied SFG ADHS

Nach dem grossen Erfolg der letzten virtuellen Tagung verfolgten auch diesmal rund 70 Teilnehmende die spannenden Referate und den Fachaustausch, obwohl draussen die Frühlingssonne lockte…

 

Als Dr. med. Sarah Schiebler, Oberärztin/Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie nach der Begrüssung durch den SFG ADHS Co-Präsidenten Prof. Dr. med. Thomas Müller mit ihrem Referat über die Auswertung von MRI-Daten zu adultem ADHS mit Schlafstörungen startete, waren bestimmt alle hellwach. Die Somnologist-Expertin in Sleep Medicine (ESRS) präsentierte eine bisher unveröffentlichte Studie des USZ, an der 99 Personen teilnahmen (Durchschnittsalter 25 Jahre). Die meisten ADHS-Patienten litten auch an Schlafstörungen und bei über 75% der Kinder und erwachsenen ADHS-Betroffenen war eine Schlafphasenverschiebung erkennbar.

Fazit der Referentin: Bei ADHS-Patienten sollte unbedingt eine vorhandene Schlafstörung behandelt werden. Bei Schlafstörungen hilft Atomoxetin eher als Methylphenidat. In der anschliessenden Fragerunde interessierten sich Teilnehmende für Therapien mit Licht oder Melatonin sowie die Wirksamkeit einer Maske (CPAP-Therapie Continuous Positive Airway Pressure) bei ADHS-Patienten mit Schlafapnoe  – ob ADHS-Symptome damit ebenfalls gelindert werden  können, wurde bisher nicht untersucht.

Die Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. med. Edna Grünblatt, Leiterin Forschungsbereich Translationale Molekularpsychiatrie an der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der PUK Zürich, nahm anschliessend in ihrem komplexen Vortrag Wachsen ADHS-Neuronen anders? Eine Untersuchung mit pluripotenten Stammzellen mit auf eine interessante und anspruchsvolle Reise in die Welt der Genetik und Neuronen. Dabei fokussierte sie sich auf folgende Fragestellungen:

  • Wachsen ADHS-Neuronal-Zellen mit unterschiedlichen Wachstumsraten?
  • Beeinflusst Methylphenidat die Wachstumsrate und wie?

ADHS ist gemäss den Forschungen stark beeinflusst von genetischen Faktoren, aber auch von Umwelteinflüssen wie prä- und postnataler Stress (= starke Prägung). In einer Meta-Analyse wurde bei Kindern/Jugendlichen mit einer ADHS eine Hirnreifeverzögerung bis zu 4 Jahren sichtbar. Ebenfalls erkannt wurde in diesem Zusammenhang, dass Methylphenidat einen positiven Einfluss auf die Hirnreifung hat (RCT-Studie mit Kindern während 16 Wochen). Ein Test an Mäusen/Ratten ergab zudem, dass die MPH-Behandlung die Stammzellen beeinflusst und die Proliferation (Wachstum und Vermehrung von Zellen) verringert sowie die neuronale Differenzierung (Reifung) verbessert.

ADHS und den pathologischen Medienkonsum thematisierte Dr. med. Anna Werling, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Oberärztin im Ambulatorium Uster. Forschungsschwerpunkte: Untersuchung genetischer Ursachen bei ASS und ADHS sowie klinische Erhebung und Untersuchung des problematischen Medienverhaltens. In diesem Kontext stand die top aktuelle und faszinierende Lockdown-Studie 1.0 der PUK Zürich, die die Spezialistin ausführlich vorstellte.

Im Zentrum der Untersuchung stand unter anderem der problematische Internet- oder Mediengebrauch, der pathologische Internetgebrauch, die Medienabhängigkeit, Computerspielsucht, Internetsucht, Mediensucht kurz PUI = Problematic use of the internet. Es ist dies der Überbegriff für dysfunktionale Verhaltensweisen, die im Internet oder mit digitalen Medien ausgeübt werden. Das Verhalten führt zu einer funktionalen Beeinträchtigung im Alltag (Umgang mit Freunden, Familie, Schule, Ausbildung).

Problematische Verhaltensweisen von PUI (Fineberg et al. 2018) sind:

  • unkontrolliertes Gaming (online, offline)--
  • Suchtartige, exzessive Nutzung von Angeboten (soziale Netzwerke, Videofilme, Clips, Online-Shopping, Cyberpornographie) !
  • Risikoreiche Verhaltensweisen: Cybermobbing, Cybergrooming, Sexting

PUI zeigt eine hohe Komorbidität mit anderen psychiatrischen Störungen: ADHS, ASS, Depression, Zwang, Essstörungen, Störung des Sozialverhaltens etc. (Fineberg et al. 2018)

Dabei ist jedoch unklar ob:

PUI psychische Störungen verursacht/verstärkt

oder psychische Störungen PUI verursachen, respektive verstärken.

Prävalenz von PUI (meist Gaming) bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS

  • beide treten häufig gemeinsam auf (12.8 %) (Wu et al., 2014)
  • Kinder mit ADHS waren 9,3 Mal anfälliger für die Entwicklung einer Internetabhängigkeit als Kinder ohne ADHS (odds ratio – 9.3) (Enagandula et al., 2018).
  • ADHS plus Störung des Sozialverhaltens erhöht den Schweregrad von PUI (Gunes et al. 2018).
  • ADHS kann als Risikofaktor für die Entwicklung von PUI angesehen werden (Barth and Renner 2015) und als Komorbidität.

 

An der Lockdown-Studie nahmen 126 Eltern von Kindern/Jugendlichen im Alter zwischen 10 und 18 Jahren teil.

Markante Erkenntnisse:

  • Kinder mit ADHS schliefen während des Lockdowns deutlich länger und waren weniger müde.
  • Nach dem Lockdown haben sich etwa 20% weniger Patient*innen weniger extrem einsam gefühlt.
  • Während des Lockdowns kam es zu einer Zunahme von 46% der Medienzeit, die sich nicht vollständig zurückbildete.
  • Gemäss Elternurteil haben sich die ADHS-Symptome während des Lockdowns bei 19% verschlechtert und bei 34% verbessert (aufgrund von weniger Schul-, Leistungs- und Peerdruck während Schulschliessung?), bei 47% sind sie gleichgeblieben
  • Signifikant längere Mediendauer in den Patientengruppen war

            mit einer Verschlechterung der ADHS-Symptomatik verbunden.

Gesamte Mediendauer

  • 9,50 Std. mit Verschlechterung vs. 4,80 Std. mit Verbesserung

Patient*innen, die als moderat bis stark reizbar eingeschätzt wurden, hatten einen erhöhten Medienkonsum.

Patient*innen, die sich wenig konzentrieren konnten, hatten höhere Medienzeiten.

Aber: Patient*innen, die mehr oder weniger unruhig / hyperaktiv waren unterschieden sich nicht bzgl. Medienzeiten.

FAZIT Dr. Anna Werling & Team:

  • Wir haben keine allgemeine Zunahme der ADHS-Symptome während des ersten Lockdowns festgestellt (insbesondere der Schlaf hat sich bei einigen Patientengruppen verbessert).
  • Kinder und Jugendliche mit ADHS waren/ fühlten sich oft einsam und traurig, zeigten aber keine aggressiveren Verhaltensweisen
  • Signifikanter Anstieg der geschätzten Gesamtmedienzeit bei ADHS während Lockdown im Vergleich zu der Zeit vor und nach dem Lockdown. Allerdings kehrt die Medienzeit nach dem Lockdown nicht vollständig zum Ausgangswert zurück.
  • Es zeigte sich ein negativer Einfluss der Bildschirm-Mediennutzung auf Aspekte der ADHS-Symptome und des täglichen Lebens (psychische Gesundheit, Familienleben, Aggression)

Im anschliessenden Fachaustausch fanden angeregte Diskussionen statt und Dr. Werling vermittelte den interessierten Fachpersonen anhand eines Fallbeispiels wertvolle Informationen, Empfehlungen und Tipps.

Die Tagung wurde unter der Leitung von unseren Vorstandsmitgliedern mit drei weiteren Austauschgruppen zu verschiedenen Themen bereichert. So vermittelte Dr. med. Markus Müller sein Wissen rund um die Medikamentenbehandlung durch die Grundversorgung. Prof. Dr. med. Thomas Müller stand betreffend Nebenwirkungen von Medikamenten Rede und Antwort und Dr. med. Stephan Kupferschmid, Facharzt Kinder- und Jugendpsychiatrie, Chefarzt Psychiatrie für Jugendliche und junge Erwachsene IPW Winterthur tauschte sich mit Teilnehmenden über die Transition vom Jugendalter ins Erwachsenenalter aus. Es ist eine Tatsache, dass im Alter zwischen 15 und 20 Jahren in der Behandlung der ADHS eine massive Verschlechterung stattfindet und eine sinnvolle Überbrückung dringend notwendig ist.

 

Thomas Müller verdankte den Einsatz der renommierten Fachpersonen und freute sich, dass an der anschliessenden Mitgliederversammlung über 30 Stimmberechtigte teilnahmen.

Der Vorstand bedankt sich herzlich bei allen, die online an der Tagung und an der Mitgliederversammlung teilgenommen haben

 

European Dyslexia Association (EDA) Herbst-Seminar 16. Oktober 2021

Dr. phil. Monika Brunsting, Fachpsychologin für Psychotherapie FSP, Sonderpädagogin

Dank komfortablem Online-Setting war es einfach, an diesem Seminar teilzunehmen. Forschungsarbeiten über die Auswirkungen von Covid-19 auf die Lese- und Rechtschreibkompetenz und die allgemeine Entwicklung von Kindern in verschiedenen europäischen Ländern bildeten diesmal den Schwerpunkt.

Dyslexie und ADHS sind bekanntlich zwei häufig zusammen auftretende und stark überlappende Schwierigkeiten. Im Folgenden ein paar Blicke zurück auf diese Konferenz.

Lisa B. Thorell, Professorin am Karolinska Institut in Stockholm, präsentierte die erste Keynote unter dem Titel «Experiences of homeschooling during the COVID-19 pandemic for children with special educational needs».

Sie fasste die Untersuchungen in verschiedenen Ländern zu dieser Thematik zusammen (Schweden, Deutschland, Belgien, UK, Niederlande und Spanien). Kinder aus sozio-ökonomisch tiefen Schichten hatten oft Stress mit den Eltern. Nicht selten hatten diese auch miteinander Konflikte und häufig waren auch Alkoholprobleme im Spiel. Die Kinder hatten oft wenig Zugang zum Schulunterricht, weil das technische Equipment in der Familie dafür nicht ausreichend war. Es gab grosse Unterschiede zwischen den Ländern. Manche waren sehr kreativ und hängten z.B. die Aufgaben in Plastiksäckchen vor dem Schulhaus auf. Insgesamt zeigte sich, dass Kinder mit schlechten exekutiven Funktionen, die Eltern haben mit ebenfalls schlechten exekutiven Funktionen, mehr litten unter der Pandemie.

Negative Effekte waren der Stress und eigene Probleme. Positiv war, dass soziale Probleme in der Schule im Lockdown wegfielen (Mobbing etc.), dass es allgemein weniger Streitereien gab und die Kleiderfrage nicht mehr wichtig war. Man hatte mehr Zeit, um Sport zu betreiben oder als Familie etwas zu unternehmen. Die Kinder lernten kochen, der Weg zur Schule fiel weg, was schulwegbedingten Stress minimierte. Die Kinder schliefen mehr. Die schwedische Studie, über die Lisa Thorell ausführlicher berichtete, umfasste 1584 Familien und zeigte, dass 29% der Kinder mit «special educational needs» an Dyslexie oder Dyskalkulie litten und 35% an ADHS. 20% der Eltern fanden Extra-Hilfe nötig für ihr Kind, längst nicht alle bekamen diese. Ein Teil der Eltern hielt Zusatzhilfe nicht für nötig.

Valentina Berlusconi (University of Insubria, Varese, Italy) referierte unter dem Titel: «COVID-19 lockdown and specific learning disabilities: effetcts on school performance and emotion» über schulische Fertigkeiten in Coronazeiten und deren Zusammenhang mit den Ressourcen ihrer Familien: Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen litten deutlich mehr als solche aus sozial starken Familien. Letztere profitierten teilweise sehr vom Homeschooling. Sie konnten auf diese Weise in ihrem eigenen Tempo arbeiten und so grosse Fortschritte machen, was sie sehr motivierte weiterzulernen.  Auch für die emotionale Entwicklung waren entsprechende Unterschiede zu beobachten.

Tzipi Horowitz-Kraus et al., Assistenzprofessorin in Israel und in den USA berichtete über ihre Forschungsarbeiten zum Thema: «How much screen-based literacy and reading exposure is beneficial? Neurobiological perspective». Sie untersuchte die Unterschiede zwischen der Präsentation von Geschichten durch die Lehrperson (DRG, Dialogic Reading Group) und durch ein elektronisches Medium (SSL, Screen-based Story Listening). Es zeigt sich bei 4-6-jährigen Kindern ein deutlicher Vorteil für die DRG: der Wortschatz verbesserte sich und im EEG zeigte sich auch eine Verbesserung aufmerksamkeitsrelevanter Netzwerke. Geschichten elektronisch hören ist gut – sie im Unterricht erzählt zu bekommen aber besser.

John Rack, Prof. und Akademischer Beirat der EDA, sprach über «Dyslexia in the pandemic, parent, stakeholders and personal perspectives – Overview pandemic learnings.» Eine besondere Herausforderung durch die Pandemie war, dass Kinder viel lesen, schreiben und verstehen mussten. Viele mussten allein lesen, weil ihre Eltern die Sprache nicht genügend beherrschen, um ihnen helfen zu können. 80% der Eltern merkten in der Coronazeit, wie schlecht ihr Kind in gewissen Bereichen ist. Auch Erwachsene litten teilweise unter der Situation im Homeoffice, v.a. Familien, die in kleinen Wohnungen leben.

Den Abschluss dieser Konferenz machte Nadine Gaab (Professorin an der Harvard University) die berichtete über: «Dyslexia professional perspective on COVID-19: Early Literacy Milestone and Dyslexia Screening: The Role of early Identification and its Implication for Intervention pre- and post-COVID-19». Sie zeigte auf, wie wichtig es ist, Kinder mit Dyslexie früh zu erfassen. 65% der Kinder in der 4. Klasse sind mit Lesen im Rückstand, was seit 25 Jahren so sei. Aufholen sei schwierig und es wäre besser, durch frühe Erfassung einen Rückstand zu verhindern: Der «wait-to-fail-approach» sei keine gute Lösung. Es brauche dafür keine fundierte Dyslexie-Diagnose, sondern ein gutes Screening, das helfe, durch rechtzeitige Förderung die Entwicklung einer Dyslexie zu verhindern.

Gerne weisen wir auf den Weiterbildungszyklus Dyslexie und Dyskalkulie hin: flyer_weiterbildungszyklus_dyslexie.pdf (lerntherapie.ch)

 

ADHS bei Frauen, spezifische Auswirkung von Hormonen und Menstruationszyklus

Dr. med. Eveline Breidenstein, Allgemeine Innere Medizin FMH, Vorstandsmitglied SFG-ADHS

MedVita Praxis GmbH, Ottenbacherstr. 6; 8912 Obfelden, www.medvita-praxis.ch

Hinweis: Der folgende Artikel wurde für das Journal für Gynäkologische Endokrinologie/Schweiz verfasst und zur dortigen Publikation angenommen: https://springermedizin.ch/zeitschriften/journal-fur-gynakologische-endokrinologie-2/ Mit freundlicher Genehmigung des Verlags darf er hier abgedruckt werden.

ADHS im Allgemeinen

ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung) ist eine genetische Disposition, die durch Veränderungen in der Dopamin- und Noradrenalin-Produktion im Gehirn (Frontalhirn & frontostriatale Verbindungen) zu Veränderungen im Bereich der exekutiven Funktionen führt. Dazu gehören die Aufmerksamkeitsleistung, Schwierigkeiten bei der Planung, Strukturierung, Selbstorganisation, sowie dem Zeit- und Finanzmanagement. Hinzu kommen mögliche Veränderungen der motorischen Aktivität, der Impulskontrolle, der Emotionskontrolle. International gibt es zwei Klassifikationssysteme: Entweder spricht man gemäss amerikanischer Klassifikation DSM-5 von ADHD (Attention Deficit Hyperactivity Disorder); dort können problemlos auch ADHS vom rein unaufmerksamen Typ ohne Hyperaktivität diagnostiziert werden, was v.a. für die Diagnostik von Frauen wichtig ist, da Frauen häufig weniger sichtbare Hyperaktivität zeigen. In der internationalen Klassifikation ICD-10 spricht man von ADHS («einfacher Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung»), wobei ein gewisses Mass an Hyperaktivität gefordert wird. Damit werden Personen, insbesondere Frauen, welche keine Zeichen von Hyperaktivität zeigen, weder eine ADHS-Diagnose erhalten noch eine angemessene Behandlung.

 

Die ADHS-Behandlung erfolgt multimodal, d.h. neben der psychotherapeutischen Unterstützung auch mit Medikamenten. Die Substanz der ersten Wahl ist Methylphenidat, ein Stimulans, (z.B. Ritalin ®). Medikamente der zweiten Wahl sind Dexamphetamin oder Atomoxetin. Weitere Medikamente, wie z.B. Antidepressiva mit noradrenergem Effekt (Bupropion oder Duloxetin), können ebenfalls hilfreich sein.

Neben den von Heinrich Hoffmann beschriebenen “Zappelphilipp” und “Hanns-Guck-in die-Luft" gibt es Betroffene mit milderen Ausprägungen, die dank vermehrtem Kraftaufwand ihre Symptomatik lange Zeit kompensieren können und erst bei anspruchsvollen lebensgeschichtlichen Übergängen (z.B. Pubertät, Menopause, Doppelbelastung von Beruf und Familie) dekompensieren. Diese Patienten präsentieren sich mit Erschöpfungszuständen oder Burnout und nicht mit der zugrunde liegenden klassischen ADHS-Symptomatik.

Deshalb gehört zur sorgfältigen psychiatrischen Abklärung eines scheinbar rein depressiven Zustandsbildes neben dem Ausschluss organischer Ursachen der Erschöpfung (Schilddrüsenhormon- und Cortisol-Disfunktionen, Hyperparathyroidismus, Vitaminmangelzustände) auch ein ADHS-Screening.

Dazu hilft Nicht-Psychiatern der Screening-Test der WHO.

Eisen und Dopamin

Die Dopaminsynthese ist eisenabhängig, da Eisen ein Co-Faktor der Tyrosinhydroxylase ist (Umwandlung von Tyrosin zu L-Dopa, der Vorstufe von Dopamin); die Ferritinspiegel sollten also bei allen ADHS-Betroffenen im oberen Normalbereich liegen (mind. 50ug/l) und nicht dem häufig tieferen Frauen-Wert entsprechen.

Hormone und Dopamin

Oestrogen und Progesteron stehen in Wechselwirkung mit Dopamin und Serotonin: Sie modulieren die Synthese, Ausschüttung, Rezeptorbindung und die Wiederaufnahme von Dopamin und Serotonin. Der ganze Mechanismus ist komplex: Oestrogen wirkt grundsätzlich aktivierend und steigert die kognitive Leistungsfähigkeit.

Fallstudien lassen vermuten, dass sich ADHS-Symptome in der Woche vor der Menstruation (während eines Rückgangs von Östrogen und Progesteron; Quinn, 2005) verschlimmern und während der Schwangerschaft (während eines Anstiegs von Östrogen und Progesteron (Nadeau & Quinn, 2002)) verbessern können, aber es fehlt an empirischen Arbeiten. Einzig in der Studie von Roberts wurden die Effekte der Hormonspiegel auf die ADHS-Symptomatik untersucht[1]--.

 

[1]-- Reproductive Steroids and ADHD Symptoms Across the Menstrual Cycle; Bethan Roberts, Ph.D., Tory Eisenlohr-Moul, Ph.D., and Michelle M. Martel, Ph.D.†; Psychoneuroendocrinology. 2018 Feb; 88: 105–114.

 

 

Perimenopausal müssen bei sinkenden Oestrogenspiegeln allenfalls die Stimulantien angepasst werden. Das Führen eines Tagebuchs unter Berücksichtigung von Wallungen, Schlafstörungen und Aufmerksamkeitsleistungen kann bei der Anpassung der Dosierung helfen.

Um postmenopausal weniger Schwankungen der Leistungsfähigkeit zu provozieren, sollte der Hormonersatz eher kontinuierlich als zyklisch erfolgen (orientierend an den postmenopausalen Symptomen). Die Richtlinien der gängigen Hormonersatztherapie (altersgemässer Einsatz im „window of opportunity“; kombinierte Oestrogen-Gestagentherapie bei erhaltenem Uterus; nach Möglichkeit transdermal statt oral usw.) gelten auch für ADHS-Frauen.

Allenfalls braucht es zusätzlich zur Hormonersatztherapie neu auch Stimulantien bzw. eine Anpassung der Stimulantiendosierung zum Ausgleich der kognitiven Einbussen durch den Wegfall der Geschlechtshormone.

Spezielle Lebensphasen bei Frauen mit ADHS

ADHS-Frauen sind meist grundsätzlich empfindlicher auf jegliche Einflüsse von aussen wie auch des Körperinnern; die Kombination von Schwankungen der Geschlechtshormone bei ihrem ADHS-bedingt tiefen Dopamin-Grundhaushalt macht sie zusätzlich vulnerabel in bestimmten lebensgeschichtlichen Phasen (s. Übersicht)

 

Direkte Auswirkung bei Frauen mit ADHS

Weitere Auswirkungen

Menarche

Starkes / verlängertes prämenstruelles Syndrom

 

 

Starke Stimmungsschwankungen

 

Adoleszenz

Wenig vorausschauend

Höherer Kick suchend / Gefahr wird in Kauf genommen

Frühe sexuelle Aktivität, frühe Schwangerschaften, STD (sexually transmitted disease)

 

Schlechtere Einschätzung der Gefühle anderer

Kurze Beziehungen, häufiger sexueller Gewalt ausgesetzt

Schwangerschaft

Weniger ADHS-Symptome

Weniger Schwankungen

(viele Schwangerschaften, da angenehmer Zustand)

Kinderphase

Postpartale Hormonschwankungen stärker

Wegen Kindern stark gefordert (Schlafmangel, Doppelbelastung), Überforderung körperlich

Gefahr der postpartalen Depression oder des Burnouts bei Müttern von Kleinkindern

Menopause

Mehr ADHS-Symptome

Schlechte kognitive Funktion

 

Zusammenfassung

Wichtig sind Kenntnisse der Zusammenhänge zwischen Geschlechtshormonveränderungen und kognitiver Leistungsfähigkeit. Damit kann die ärztliche Fachperson bei ADHS-Betroffenen dank aktivem Erfragen der verschiedensten Symptome (z.B. von prämenstrueller Dysphorie, Wallungen, Schlafstörungen bis zu Ablenkbarkeit oder Merkfähigkeitsstörung) zusammen mit der betroffenen Frau die jeweils optimale Unterstützung finden.  Diese ist von Frau zu Frau unterschiedlich, psychotherapeutisch-unterstützend und/oder medikamentös mit Stimulantien, Antidepressiva und / oder Hormonbehandlung.

 

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Drei Glücksgewohnheiten, die man mit ADHS betroffenen Kindern trainieren kann

Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund sind Psychologen, Autoren („Erfolgreich lernen mit ADHS“, „Lotte, träumst du schon wieder?“) und leiten gemeinsam die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Mehr zu ihrer Arbeit erfahren Sie unter: www.mit-kindern-lernen.ch

Für Kinder und Jugendliche, die von ADHS betroffen sind, hält der Alltag viele Frustmomente bereit. Ihre Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität machen ihnen schulisch und sozial das Leben schwer und gehen mit einer verminderten Lebenszufriedenheit einher (Ogg et al., 2014). Auch ihr Selbstwertgefühl leidet und viele von ihnen neigen zu depressiven Verstimmungen. Ein Blick in die Glücksforschung und die Positive Psychologie eröffnet verschiedene Wege, um ihr Wohlbefinden zu steigern und ihre Persönlichkeit zu stärken. In diesem Artikel stellen wir drei „Glücksgewohnheiten“ vor, welche man mit ADHS-betroffenen Kindern trainieren kann.

Eine Glücksgewohnheit gegen das Schwarzmalen

Viele Eltern berichten nicht nur vom übersteigerten Gerechtigkeitssinn ihrer von ADHS betroffenen Kinder, sondern machen sich auch Sorgen darüber, dass ihr Nachwuchs eine solch pessimistische Weltsicht hat: „Meine Tochter jammert ständig und findet alles ungerecht!“ oder „Unser Sohn ist so ein Schwarzmaler und sieht immer nur das Negative, obwohl doch auch vieles gut läuft“, sind Aussagen, die in diesem Zusammenhang immer wieder fallen.

Zum Teil ist diese negative Grundhaltung eine Folge realer Erfahrungen. So werden ADHS-Betroffene häufiger kritisiert, erzielen schlechtere Noten als Gleichaltrige, haben größere Schwierigkeiten, enge Freunde zu finden, erfahren häufiger Zurückweisungen durch Peers und werden öfter gehänselt (Psychogiou et al. 2007, Beaten et al. 2020; Loe & Feldman, 2007; Bagwell, 2001; Unnever & Cornell, 2003).

Gleichzeitig deuten wissenschaftliche Forschungsergebnisse darauf hin, dass derlei Pessimismus wiederum eine Reihe von negativen Konsequenzen nach sich zieht. So werden Menschen mit einer pessimistischen Grundhaltung häufiger krank, sterben früher, sind unglücklicher in ihren Beziehungen, kommen schlechter mit Enttäuschungen zurecht und ergeben sich Problemen eher, anstatt sie aktiv zu lösen (z.B. Carver & Scheier, 2014; Prati & Pietrantoni, 2009; Rasmussen et al., 2009).

Doch wie lässt sich dieses Muster zugunsten einer optimistischeren Grundhaltung durchbrechen? Wie können Kinder und Jugendliche dazu angeregt werden, das Schöne und Gute im Leben vermehrt wahrzunehmen und zu genießen? Wie lässt sich die Überzeugung stärken, dass sie und die Welt sich positiv entwickeln können?

Eine Möglichkeit bietet die „Was ist gut gelaufen“-Übung aus der Positiven Psychologie. Diese hebt bei regelmäßiger Anwendung nicht nur das Wohlbefinden, sondern kann sogar Menschen mit depressiver Symptomatik signifikante Linderung verschaffen (vgl. Seligman, 2012).

Dabei erzählen sich Elternteil und Kind, beispielsweise am Abend im Bett, jeweils von drei schönen Momenten des Tages. Man kann sich dazu fragen: „Was ist heute gut gelaufen?“ Oder auch: „Über welche Kleinigkeit, die ich gesehen, gehört, geschmeckt, gerochen, gefühlt oder erlebt habe, habe ich mich heute gefreut?“

Werden Kinder dazu angeregt, sich positive Ereignisse bewusst zu machen und davon zu erzählen:

  • können sie die damit verbundenen angenehme Gefühle noch einmal wiederbeleben.
  • schärft dies ihren Blick für all die kleinen gelungenen Momente im Alltag, die ansonsten übersehen würden.
  • sorgt man dafür, dass ihnen diese Ereignisse besser in Erinnerung bleiben.
  • stärkt dies langfristig die Überzeugung, dass auch ihnen viel Positives widerfährt.

Eltern können die „Was ist gut gelaufen- Übung“ vertiefen, indem sie interessiert zuhören und nachfragen: „Warum ist das wohl so gut gelaufen?“ oder „Was könntest du tun, damit das noch öfter passiert?“ Dadurch wird den Kindern bewusst, was sie aktiv zu den gelungenen Momenten beitragen und wie sie diese im Alltag mehren können.

Viele Familien berichten zudem, dass der Nachwuchs im Anschluss an diese Gespräche am Abend leichter in den Schlaf findet und sich die Beziehung zueinander vertieft.

Ältere Jugendliche und Erwachsene können ihre drei schönen Momente auch für sich in einem kleinen Notizbuch festhalten. Wichtig dabei ist, dass die „Was ist gut gelaufen-Übung“ nicht tagtäglich durchgeführt wird, bis sie zu einer lästigen Pflicht verkommt, sonst verliert sie ihren Nutzen. Wirkungsvoller ist es, sie an ein bis drei Tagen pro Woche ganz bewusst umzusetzen (vgl. Lyubomirsky, 2014).

Eine kostenlose Vorlage für die „Was-ist-gut-gelaufen-Übung“ findet sich unter folgendem Link zum Download: https://www.mit-kindern-lernen.ch/lernen-kinder/jarons-gluecksjournal/392-glueck-ist-wenn-man-den-blick-auf-das-schoene-und-gute-lenkt-und-sich-daran-erfreut

Eine Glücksgewohnheit gegen den Eindruck, klein und schwach zu sein

Vor einigen Jahren begleitete ich, Stefanie Rietzler, eine jugendliche Klientin mit ADHS zu einem Gespräch am runden Tisch. Sie erschien mit ihren Eltern, dazu gesellten sich die Lehrkraft, die Schulleiterin, die Heilpädagogin und der Psychotherapeut des Mädchens. Zu Beginn blickte der Vater in die Runde und murmelte in Richtung seiner Tochter: «Siehst du, so schlimm ist es mit dir, dass all diese Leute jetzt hier sein müssen.»

Auch ohne solche Aussagen erleben sich viele ADHS-Betroffene allzu häufig in die Rolle eines „Hilfsbedürftigen“ gedrängt: im Alltag erleben sie an vielen Stellen, dass sie nicht das leisten können, was von Gleichaltrigen erwartet wird. Sie benötigen noch lange Unterstützung bei der Morgenroutine oder den Hausaufgaben, während das jüngere Geschwister dies mühelos absolviert; Sie brauchen in der Schule vielleicht immer wieder Sondererklärungen der heilpädagogischen Kraft, weil sie den Faden verloren haben; Und sie werden nicht selten von einer Therapie in die nächste geschickt, um ihre Konzentration, Emotionsregulation oder ihre sozialen Kompetenzen zu verbessern.

Die Erfahrung, ständig auf andere angewiesen zu sein, kann ihnen den Eindruck vermitteln, schwach und defizitär zu sein – und damit ihr Selbstwertgefühl untergraben. Umso wichtiger ist es, dass ADHS-betroffene Kinder und Jugendliche sich nicht immer in der Rolle des Hilfeempfängers wiederfinden, sondern immer wieder auf der Seite des Gebenden stehen können, bei der sie anderen Hilfe anbieten und sich mit ihren Stärken einbringen können.

Wenn wir Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit bieten, sich für andere einzusetzen und einen Beitrag für die Gemeinschaft oder eine gute Sache zu leisten, profitieren sie in vielerlei Hinsicht: mehrere Studien zeigen, dass Menschen, die sich auf diese Weise engagieren, in der Folge mehr Selbstvertrauen, ein gesünderes Selbstwertgefühl und eine höhere Lebenszufriedenheit entwickeln und ihr Leben als sinnvoller empfinden. Jugendliche, die sich regelmäßig für eine gute Sache einsetzen, laufen zudem weniger Gefahr, Alkohol oder Zigaretten zu konsumieren oder kriminell zu werden. Zudem reifen ihre Sozialkompetenzen und sie dürfen sich über bessere Schulleistungen freuen (z.B. Harlow & Cantor, 1996; Jenkinson, 2013; Johnson et al., 1998; Latham, 2003; Moorfoot et al., 2015; Uggen & Janikula, 1999; Van Willigen, 2000; Wilson, 2000; Zaff et al., 2003).

Welche Anliegen sind Ihrem Kind, Ihrem Klienten, Ihrer Klientin besonders wichtig? Sind es die Natur, Tiere oder Kinder in Not? Und wie könnte sie oder er in diesem Bereich einen Beitrag leisten? Vielleicht möchte das Kind eine Patenschaft für ein jüngeres übernehmen, am Wochenende die Hunde des örtlichen Tierheims ausführen, für die gebrechliche Nachbarin einmal wöchentlich die Einkäufe erledigen oder im Altersheim vorlesen? Vielleicht will es eine Unterrichtsstunde zu seinem Spezialthema vorbereiten, eine Tombola oder einen Sponsorenlauf veranstalten, um Geld für Kinder in Not zu sammeln, regelmäßig im Wald Müll sammeln oder Insektenhotels für Bienen bauen?

Eltern sind regelmäßig erstaunt, wie sehr ihre ADHS-betroffenen Kinder aufblühen, wieviel Feuereifer, Organisationstalent und Geschick sie plötzlich aufbringen, wenn sie sich für ihre Mitmenschen oder die Natur einsetzen dürfen.

Kostenloses Arbeitsmaterial zu dieser Glücksgewohnheit finden Sie hier: https://www.mit-kindern-lernen.ch/lernen-kinder/jarons-gluecksjournal/398-glueck-ist-wenn-man-fuer-andere-da-ist-und-ihnen-hilft

Eine Glücksgewohnheit gegen den Fokus auf die Schwächen

Wenn Schüler/innen viele ungenügende Noten schreiben, vielleicht zusätzlich zur ADHS noch eine Lese-Rechtschreibstörung oder Dyskalkulie aufweisen, dann dringen ihre Schwächen zunehmend in den Familienalltag ein und nehmen immer mehr Raum ein: Der Vater übt mit der Tochter Diktate, die auch nach dem fünften Durchgang mit Fehlern übersät sind. Die Mutter brütet mit der Tochter am Wochenende über all den Aufgaben des Wochenplans, die das Mädchen unter der Woche nicht geschafft hat – beide verzweifeln, weil sich die Arbeit über Stunden hinzieht und vom Gelernten kaum etwas hängenbleibt.

Bald kommt die Angst ins Spiel. Die Eltern machen sich Sorgen, dass die Mitschüler/innen am eigenen Kind vorbeiziehen, dass es den Anschluss verliert. Die Anstrengungen werden nochmals ausgeweitet, der Druck auf Eltern und Kind steigt. Erste Hobbys werden gestrichen, um mehr Zeit für das Lernen aufwenden zu können.

Nun beginnen sich die Kinder mehr und mehr zu verschließen. Sie bekommen einen Kloß im Hals, wenn sie die Aufgaben nur schon sehen. Erste Tränen kullern. Die Eltern trösten, werden aber auch immer häufiger wütend, wenn das Kind nicht kooperiert. Es tauchen Zweifel an der Motivation des Kindes auf: Wenn es doch nur wollen würde, dann wäre alles einfacher.

Mit der Zeit macht sich die Hilflosigkeit breit. Das Kind fühlt sich dumm, die Eltern sind ratlos: „Was sollen wir denn noch machen? Wir haben doch schon alles versucht!“

Für manche Kinder wird das Leben in dieser Phase fast unerträglich. Sie werden in der Schule und zu Hause permanent mit ihren Schwächen konfrontiert. Es wird nicht nur zusätzlich geübt – die Probleme des Kindes bestimmen auch immer mehr die Gespräche in der Familie. Das Kind erlebt dies als permanente Abbuchungen von seinem „Selbstwert-Konto“.

Mit jeder schlechten Note, mit jeder Aufgabe, an der man scheitert und die den anderen leicht zu fallen scheint, mit jedem:

„Jetzt pass doch auf.“

„Das haben wir doch geübt!“

„Wieso hast du das jetzt wieder falsch geschrieben?“

„Warum will das nicht in deinen Kopf?“

verliert das Kind etwas mehr von seinem Selbstvertrauen, seinem Selbstwertgefühl und seiner Lebensfreude.

Manche Kinder wirken durch diese Erfahrungen mit der Zeit so desinteressiert, unmotiviert, müde und freudlos, dass die Eltern das Gefühl haben: Mein Kind hat kaum Stärken und Interessen. Wenn wir in dieser Situation nachfragen, was das Kind besonders gut kann, kommen oft Aussagen wie: „Na gut, Sport – aber damit kann man auch kein Geld verdienen.“ oder „Sie malt sehr gerne – aber wenn sie sich in der Schule nicht mehr Mühe gibt, kann sie später doch sowieso nicht machen, was sie will.“

Das Problem ist: Wird jedoch nur auf die Schwächen fokussiert, wissen Kinder später auf die Frage, was sie gut können, was sie auszeichnet und was ihnen Freude bereitet keine Antwort. Es wäre jedoch gerade für Kinder, die schulisch schwach sind, besonders wichtig, dass sie auf diese Frage konkrete, klare Antworten haben. Schließlich werden sie ihren späteren Beruf nicht auf geschwächten Defiziten, sondern ihren Talenten und Begabungen aufbauen.

In einer kleinen, aber spannenden Untersuchung von Prof. Krapf teilten Lehramtstudierende der Universität Zürich schulisch schwache Kinder in zwei Gruppen ein. Die eine Gruppe erhielt Nachhilfeunterricht für ihre Problemfächer, die andere wurde in den Bereichen gefördert, in denen sie eine Stärke hatten.

Das spannende Resultat: Die Förderung in den starken Bereichen wirkte sich auf die Leistungen in den Problemfächern aus. Diese Gruppe zeigte am Ende in den Problemfächern sogar bessere Leistungen als die Gruppe, die Nachhilfe für ihre Problemfächer erhielt.

Die Untersuchung ist methodisch zu schwach, um die Ergebnisse zu verallgemeinern. Aber sie spiegelt eine Erfahrung wider, die wir in der Praxis auch machen konnten: Wird einem Kind ein geliebtes Hobby gestrichen, um mehr Zeit für die Schule und das Üben zu gewinnen, verlieren die Kinder jegliche Motivation. Gleichzeitig führen Erfolgserlebnisse und die Erfahrung, etwas zu können, zu mehr Energie, mehr Selbstvertrauen und der Überzeugung, auch mit Schwierigkeiten umgehen zu können.

Deshalb gilt: Schaffen wir Raum und Zeit für die Interessen und Stärken der Kinder – egal ob uns Erwachsenen diese „sinnvoll“ oder „wichtig“ scheinen!

Manchmal sind wir Erwachsenen derart versteift auf Stärken, die in der Schule im Vordergrund stehen wie die sprachliche oder logisch-mathematische Kompetenz, dass wir andere Talente, die im späteren Berufsleben wichtig sind, übersehen. So haben viele ADHS-Betroffene eine Menge Kreativität, Verkaufstalent, Entwicklergeist, verfügen über eine ausgeprägte soziale Ader oder sind künstlerisch enorm begabt. Es ist wertvoll, wenn diese Fähigkeiten auch als Stärken gesehen und zurückgemeldet werden.

Zu guter Letzt können Eltern den Blick für das, was ihr Kinder positiv auszeichnet, weiten. Dazu füllen sie über zwei Wochen hinweg jeweils abends ein „Stärkentagebuch“ aus, in dem sie festhalten, was ihnen heute an ihrem Kind angenehm aufgefallen oder sie überrascht hat.

 

Buchtipp: Jaron auf den Spuren des Glücks

 

Überall im Alltag versteckt sich das Glück. In dieser abenteuerlichen Geschichte machen sich Kinder ab 8 Jahren gemeinsam mit dem jungen Fuchs Jaron und seinen Freunden auf Spurensuche und entdecken einzelne „Glückslektionen“. Im Anhang des Buches findet sich ein Glücksjournal mit vielen Mitmachseiten und Impulsfragen, die zum Diskutieren über das Glücklichsein und Glücklichwerden in Familie, Schule und Therapie einladen.

 

Eine Geschichte über die kleinen und großen Fragen des Lebens, über den Mut, zu sich selbst zu stehen und die verwandelnde Kraft der Freundschaft.“

 

Dabei gibt es ein Wiedersehen mit den beliebten Figuren aus dem Bestseller „Lotte, träumst du schon wieder?“, in dem verträumte Kinder und ihre Eltern im Rahmen einer spannenden Geschichte wissenschaftlich überprüfte Methoden kennenlernen, um sich besser zu konzentrieren.

 

Buchbesprechung

 

EINE KINDHEIT MIT ADHS – Leben mit dem Aufmerksamkeitssyndrom

Daniela Chirici, hogrefe, Fr. 28.90

 

  

Isolde Schaffter-Wieland, ehemaliges Vorstandsmitglied SFG ADHS

Die Autorin ist eine von vielen engagierten Müttern mit einem ADHS-betroffenen Kind. Sie schildert in dieser Publikation ihre unermüdlichen Bemühungen um die Integration von Kilian in der Schule und Gesellschaft.

Authentisch widerspiegelt sie den Leidensdruck ihres Sohnes und der Familie, aber auch die vielen glücklichen Momente im Zusammenleben. Ebenso würdigt sie in den biografischen Aufzeichnungen die Fortschritte, die Kilian durch die aussergewöhnlich intensive und jahrelange Unterstützung durch den Zuger Kinder- und Jugendpsychologen Roland Abegglen (Paar- und Verhaltenstherapeut SGVT) machte. Für die ADHS-Organisation elpos schrieb Daniela Chirici während 10 Jahren eine Kolumne. Nun hat sie diese Texte in einer Publikation zusammengefasst und mit Informationen zu wirksamen Massnahmen ergänzt. Das Geleitwort stammt aus der Feder der ehemaligen elpost-Redaktorin Verena Schenk-Leu, die 2011 Daniela Chirici aufgrund des SRF-DOK-Films «Hyperaktive Kinder, Modeerscheinung oder Warnsignal?» kontaktierte. Das spürbare Leiden des Buben hatte die ADHS-erfahrene Journalistin sehr berührt. «Aus dem Entschluss, in einer Rubrik über Kilians Leben und das seiner Familie zu berichten, ergab sich eine langjährige und bereichernde Zusammenarbeit…». Roland Abegglen verfasste ein Fazit seiner über zehn Jahre dauernden Begleitung und schreibt darin: «Psychotherapie kann keine Wunder bewirken, aber sie ist oft in der Lage, wichtige Impulse zu liefern, um Menschen dabei zu unterstützen, resilienter zu werden, d.h., eigene Denk- und Verhaltensweisen und Entwicklungsschritte zu modulieren und funktionaler zu gestalten und sich damit insgesamt robuster zu fühlen und sich so über ein gesteigertes physisches und psychisches Wohlbefinden zu freuen.» Kilian lernte mit seinem Verhaltenstherapeuten schrittweise, seine Emotionen zu bändigen und sein impulsives Sozialverhalten besser zu bremsen…». Gemäss Abegglen soll diese wahre Geschichte aufzeigen, wie trotz vieler Hürden und Widrigkeiten erfolgreich mit ADHS umgegangen werden kann und dass auch Kinder und Jugendliche trotz und mit ADHS eine produktive Entwicklung und glückliche Lebensperspektive haben können. Daniela Chirici arbeitet heute als ADHS-Coach, Erziehungsberaterin und Schulassistentin. Zurzeit absolviert sie eine Ausbildung als Entwicklungs- und Lerntherapeutin. Mit ihrem Buch will sie anderen Familien Mut, Hoffnung und Zuversicht geben und bestätigen, dass es immer eine Lösung gibt. Denn für sie ist klar: Dranbleiben lohnt sich!

 

 

 

ADHS Aktuell

Editorial

Der dritte Newsletter 2022 steht ganz im Zeichen von «ADHS und psychotherapeutische Behandlung». «Wenn-Dann-Pläne», multimodale Behandlungsansätze und die Zusammenarbeit von Psychotherapeut*innen und Coaches während einer Behandlung werden ausgeführt.

Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler stellen in ihrem Beitrag «Wenn-Dann-Pläne» vor, die sich als wirksame Möglichkeit zur Impulskontrolle erwiesen haben, gerade wenn ADHS-betroffene Kinder und Jugendliche sich in einem Umfeld bewegen, in dem eine beschränkte Mitwirkkraft des Umfeldes gegeben ist.

Der zweite Beitrag von Sophie Beck, Nina Waber, Kathrin Hug-Riesen und Dr. med. Andrea Höberth beschäftigt sich mit multimodalen Behandlungsansätzen bei ADHS im Erwachsenenalter und beschreibt verschiedene Richtungen der therapeutischen Möglichkeiten. Es wird für ein multimodales Setting der Ressourcenaktivierung plädiert.

Ursula Ammann widmet sich in ihrem neuesten und bedauerlicherweise letzten Beitrag der Serie «ADHS Analog» der Zusammenarbeit von Psychotherapeut*innen und Coaches. Die Wichtigkeit des Austausches zwischen Coaches und Psychotherapeut*innen wird betont und regelmässige «runde Tische» oder gemeinsame «Standortgespräche» vorgeschlagen. Wir möchten uns an dieser Stelle herzlich bei Ursula Amman für Ihr Engagement bedanken.

Hinweis in eigener Sache: Im letzten Newsletter fehlten aufgrund eines Versehens beim ersten Artikel «Weiterentwicklung der Invalidenversicherung, Neuerungen für Jugendliche und Erwachsene mit ADHS unter besonderer Berücksichtigung versicherungsmedizinischer Aspekte» die Namen des Autors und der Autorin, Dr. med. Detlev Blocher, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Teamleiter RAD, IV-Stelle Kanton Bern, Cornelia Siegel, Teamleiterin und stv. Bereichsleiterin Eingliederungsmanagement, IV-Stelle Kanton Bern. Wir bedauern diesen Fehler und entschuldigen uns dafür.

Zum Schluss finden Sie ein paar Veranstaltungshinweise so vor allem auf unsere spannende Tagung zum Thema «Transition» am 9. März 2023. Wir freuen uns auf Ihre Anmeldung.

Wir wünschen Ihnen und Ihren Familien einen guten Rutsch ins neue Jahr und grüssen Sie freundlich.

SFG ADHS, Dr. Susanne Kempf, Geschäftsstelle

Wenn-Dann-Pläne: eine wirksame Möglichkeit zur Impulskontrolle
 

Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund sind Psychologen, Autoren („Erfolgreich lernen mit ADHS“, „Lotte, träumst du schon wieder?“) und leiten gemeinsam die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Mehr zu ihrer Arbeit erfahren Sie unter: www.mit-kindern-lernen.ch

Was können wir in Beratung und Therapie tun, damit sich ADHS-betroffene Kinder und Jugendliche in Kontexten wie der Schule anders verhalten? Sich beispielsweise besser konzentrieren, mit der Arbeit beginnen, bei einer Provokation nicht aus der Haut fahren?

Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Therapeutische Interventionen bei ADHS bauen oft darauf auf, dass das Umfeld mitwirkt. So werden beispielsweise die Eltern dazu angehalten, erwünschtes Verhalten zu loben oder mittels Verstärkerpläne zu belohnen.

Wir können aber gerade bei Therapiezielen, die sich auf das schulische Umfeld beziehen, nicht immer davon ausgehen, dass eine Zusammenarbeit mit Lehrkräften, Heilpädagoginnen etc. möglich ist.

Wie kann es uns hier gelingen, mit Kindern an ihren Zielen zu arbeiten?

Eine hilfreiche Möglichkeit bieten Wenn-dann-Pläne. Diese schließen die Lücke zwischen Zielen und Handlungsabsichten und dem tatsächlichen Handeln.

Sie bestehen aus einem Ziel (z.B. Ich will mich besser organisieren können. / Ich möchte mit meiner Wut konstruktiver umgehen) und mehreren Wenn-Dann-Sätzen, die diesem Ziel dienlich sind, z.B. („Immer wenn ich mit einer Hausaufgabe fertig bin, dann stecke ich sie gleich in meinen Schulranzen.“, „Immer wenn das Abendessen vorbei ist, dann nehme ich den Stundenplan zur Hand und packe den Schulranzen für den nächsten Tag.“, „Immer wenn die Lehrerin die Hausaufgaben an die Tafel schreibt, dann nehme ich mein Hausaufgabenheft und schreibe es ab.“ / „immer, wenn mich jemand ärgert, dann sage ich laut und deutlich: Hör auf!“).

Mehrere Studien von Gawrilow und Kollegen zeigen, dass der Einsatz von Wenn-Dann-Plänen sogar stark impulsiven Kindern mit einer ADHS-Diagnose dabei helfen kann, sich selbst besser zu steuern. So ließen sie Kinder mit und ohne ADHS im Labor Mathematikaufgaben lösen. Immer wieder wurden die Kinder durch einen Filmausschnitt von der Arbeit abgelenkt. Vorab hatte man die Kinder per Zufall einer von drei Gruppen zugeteilt:

Gruppe 1 wurde dazu angeleitet, sich für die Arbeit ein allgemeines Ziel zu setzen: „Ich will mich nicht ablenken lassen.“

Gruppe 2 formulierte einen positiv formulierten Wenn-Dann-Plan, der ihnen zeigte, was sie in der kritischen Situation tun können: „Immer wenn der Film kommt, dann konzentriere ich mich wieder auf meine Aufgabe“

Gruppe 3  prägte sich einen allgemein formulierten Plan ein, der sie darauf hinwies, was sie in der Problemsituation unterlassen sollten bzw. wie sie ihr Verhalten hemmen können: „Immer wenn der Film erscheint, dann beachte ich ihn nicht / ignoriere ich ihn.“

Es zeigte sich, dass Kinder, mit denen man im Vorfeld einen Wenn-dann-Plan erarbeitet hatte, sich am wenigsten ablenken ließen. Der positiv formulierte Plan („Immer wenn der Film kommt, dann konzentriere ich mich wieder auf meine Aufgabe“) zeigte die beste Wirkung auf die Aufmerksamkeitsleistung - auch bei den Kindern mit ADHS.

Um die Ergebnisse auf den Schulalltag zu übertragen, führte dieselbe Forschergruppe eine Untersuchung in einer Schule durch. Dabei wurden Lehrpersonen dazu angehalten, mit ihrer Klasse ein kurzes Training zu absolvieren. In einem ersten Schritt wählte jedes Kind ein Ziel für den Unterricht aus, welches mit einer Verbesserung der Selbststeuerung zu tun hatte (z.B. ich möchte im Unterricht besser zuhören. / Ich möchte mich besser konzentrieren können. / Ich mache weniger Krach.). Ein Teil der Kinder bekam im gleichen Zug zudem die Möglichkeit, einen Wenn-dann-Plan zu ihrem Ziel zu erarbeiten, z.B. „Immer wenn der Lehrer mich anschaut, dann höre ich wieder zu.“ Alle Kinder gestalteten ein Merkkärtchen für ihr Pult mit der Zielsetzung (und ihrem Wenn-Dann-Plan). Nach 14 Tagen zeigte sich, dass die Zielsetzung alleine keine Verbesserung der Selbststeuerung mit sich brachte. Langfristig konnten die besten Ergebnisse erzielt werden, wenn die Kinder zuerst ein Ziel auswählten und darauf achteten und in einem zweiten Schritt 14 Tage später entsprechende Wenn-Dann-Pläne formulierten, mit denen sie zukünftig darauf vorbereitet waren, dieses Ziel zu erreichen. 

Tipp: Formulieren Sie mit dem Kind nicht, was es nicht mehr tun möchte, sondern, was es stattdessen tun will

Wenn wir mit Kindern arbeiten, die sich schlecht steuern können, sehen die Bezugspersonen meist das, was ein Kind nicht mehr tun sollte: es soll nicht mehr in den Unterricht rufen, weniger Lärm machen, während der Schulstunde nicht aufstehen oder auf dem Pausenhof nicht zuschlagen, wenn es provoziert wird. Kindern fällt die Umsetzung leichter, wenn wir mit ihnen gemeinsam überlegen, was sie stattdessen in der jeweiligen Situation tun könnten, z.B.:

  • „Immer wenn mir eine Antwort einfällt, dann melde ich mich und warte, bis ich aufgerufen werde.“
  • „Immer wenn die Lehrerin sagt: „Markus, sei ruhig!“, dann presse ich meine Lippen aufeinander und bin still.“
  • „Immer wenn ich hibbelig werde, dann balle ich zweimal die Fäuste.“
  • „Immer wenn Tobias mich im Unterricht anquasselt, dann sage ich „sag es mir in der Pause“.
  • „Immer wenn Dominik etwas Blödes zu mir sagt, dann sage ich „An dir mache ich mir nicht die Finger schmutzig“, drehe mich um und gehe.

Sobald wir uns Gedanken dazu machen, was das Kind in der entsprechenden Situation stattdessen tun sollte, nehmen wir seine Fortschritte in diesem Bereich auch eher wahr. Wir können Lehrkräften mitteilen, dass wir mit dem Kind an diesem Punkt arbeiten, damit diese kleine Veränderungen sehen und zurückmelden.

Haben Sie Geduld, falls das Kind in alte Muster zurückfällt

Bereits Walter Mischel entdeckte in seinem Marshmallow-Experiment, dass Kinder weniger Selbstkontrolle aufbrachten, wenn sie kurz vor dem Experiment gebeten wurden, an etwas trauriges zu denken. Hielt er die Kinder dazu an, sich etwas Lustiges oder Schönes vorzustellen, konnten sie sich deutlich besser steuern. Aus der bildgebenden Forschung wissen wir, dass emotionaler Stress die Funktionsweise des präfrontalen Kortex beeinträchtigt -also ebendiesen Hirnbereich, der unser rationales, wohlüberlegtes Handeln steuert. „Gut automatisierte Programme“ übernehmen die Kontrolle über uns. Wir reagieren eher aus dem Bauch heraus und fallen leichter wieder in alte Muster zurück. Man wird lauter, obwohl man sich vorgenommen hatte, ruhig zu bleiben. Man isst die Tafel Schokolade, obwohl man eigentlich auf Diät ist.

Wer auch unter Stress dazu in der Lage sein möchte, sich selbst zu steuern, muss das neue Verhalten gut einschleifen. Dabei ist es nützlich, wenn das Verhalten an eine spezifische Situation gekoppelt wird. Auf diese Weise kann es besonders gut automatisiert werden – mit der Zeit muss man nicht mehr bewusst darüber nachdenken. Wenn-Dann-Pläne erfüllen diese Funktion. Sie koppeln eine Handlungsabsicht an eine spezifische Situation, sodass eine neue Routine aufgebaut wird:

  • Immer wenn ich an einer Prüfung nervös werde, dann sage ich mir «eine Aufgabe nach der anderen» und atme einmal tief durch.
  • Immer wenn mich die Lehrerin ermahnt, dann konzentriere ich mich sofort wieder auf die Aufgaben und arbeite weiter (anstatt zu diskutieren oder zu widersprechen).

Bis diese Wenn-Dann-Pläne eingeschliffen sind, benötigt das Kind Zeit und jede Menge Übung. Es ist hilfreich, wenn Sie jeweils nur einen Plan aufs Mal mit dem Kind üben. Sie können das Kind dazu anleiten, sich die Situation mehrmals bildlich vorzustellen und für sich zu imaginieren, wie es sich im entscheidenden Moment die richtige Anweisung gibt.

Falls die Lehrkraft des Kindes zur Zusammenarbeit bereit ist, ist es besonders hilfreich, wenn sie das Kind an seinen Plan erinnert und ihm positive Rückmeldungen gibt, sofern es ihm gelingt.

Wie das geht, zeigt das Video «der Wolf kann nicht warten» - es bietet Lehrer/innen zudem eine Kurzzusammenfassung der Methode:

https://www.youtube.com/watch?v=nPMOG952AkE

Literaturtipps:

Weitere Studien und hilfreiche Tipps für die Umsetzung von Wenn-Dann-Plänen in der Praxis finden sich im Buch «Störungsfreier Unterricht trotz ADHS: Mit Kindern und Jugendlichen Selbstregulation trainieren» von Caterina Gawrilow, Lena Guderjahn und Andreas Gold.

Im Buch «Lotte, träumst du schon wieder?» von Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund finden besonders Kinder vom unaufmerksamen Erscheinungsbild eine Anleitung, um sich im Unterricht besser zu fokussieren. Hasenmädchen lernt von der weisen Wölfin Sakiba den Wolfsblick kennen und erinnert sich mittels Wenn-Dann-Plänen, sich im richtigen Moment bewusst zu konzentrieren.

Multimodale Behandlungsansätze bei Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter

M. Sc. Sophie Maria Beck, Neuropsychologin i.A./DAS in Neuropsychology UZH, Praxis für Neuropsychologie und Psychotherapie, Basel, M. Sc. Nina Jael Waber, Psychotherapeutin i.A., Privatklinik Meiringen, Kathrin Hug-Riesen, Dipl. Feldenkrais Therapeutin, EMR anerkannt und Dr. med. univ. Andrea Höberth, Oberärztin, Privatklinik Meiringen

Die Psychotherapie bei Erwachsenen mit Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) hat in der bisherigen Forschung bezüglich einer langfristigen Lebensqualität der Betroffenen eine wichtige Rolle gespielt. Bedeutsame Ziele in der Psychotherapie sind je nach Lebenssituation die Integration von Erlebnissen mit Mitmenschen und Misserfolge durch Leistungsdruck, die Akzeptanz des selbst empfundenen «Anders- Seins», die Behandlung von Komorbiditäten (u.a. Angststörungen, Depression, Substanzkonsum, Schlafstörungen) und Prävention von destruktiven Verhaltensweisen sowie das Erlernen eines leichteren Umganges mit ADHS-Symptomen und die Stärkung von Ressourcen.[1]¦[2] 

Zu Beginn einer Psychotherapie stehen oft psychoedukative Elemente im Vordergrund.[3] Die präzise Thematisierung von mit ADHS verbundenen Schwächen und Stärken sowie deren Einfluss auf verschiedene Lebensbereiche (Familie, Sozialkontakte, Beruf und Freizeit) ist für Erwachsene mit ADHS oft hilfreich, um vergangene Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen besser einordnen zu können und sich zukünftiger Situationen in diesem Wissen gedanklich bewusst zu werden. Die Psychotherapie ist nicht alleiniges Feld nebst der oft medikamentös unterstützten Behandlung der adulten ADHS.  Anhand der bereits gut erforschten Wirkungsweisen von Stimulanzien können bei ADHS relevante physiologische Prozesse auch mit alternativen Methoden angegangen werden. In der Literatur wird beschrieben, dass gerade bei meditativen und körperbasierten Verfahren dieselben neuronalen Netzwerke stimuliert und diesbezüglich auch die Regulation von Neurotransmitter-Systemen (u.a. Dopamin und Noradrenalin) bewirkt werden, wie bei medikamentösen Ansätzen[4]¦[5].

 

  

Gerade neben den kognitiv und emotional angesprochenen Methoden der Psychotherapie fördert der Miteinbezug anderer Fachdisziplinen eine Ausweitung der vielen Ressourcen, die ADHS- betroffene Erwachsenen in sich vereinen. Hierbei spielen insbesondere für die Kernsymptomatik der ADHS (Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, Hyperaktivität und innere Unruhe, Impulsivität) meditative Ansätze und Achtsamkeitstrainings, körperbasierte Verfahren, Bewegungsmöglichkeiten und kreativ-künstlerische oder musikalische Tätigkeiten eine entscheidende Rolle. Den betroffenen Individuen soll ein umfassendes multimodales Setting angeboten werden, damit die oft intensiven Emotionen, Gedanken, Wahrnehmungen und Körperempfindungen bestmöglich Ausdruck und somit innere Verarbeitung finden können. Im Kanalisieren von innerer Unruhe in einen selbstförderlichen und stärkenden Umgang werden Bewegungs-, Tanz-, Theater-, Kunst- und andere kreative Ansätze zur Sprache gebracht. Gleichzeitig werden selbstdestruktive Verhaltensweisen (u.a. Substanzkonsum, Selbstabwertung) hinterfragt. Im Fokus aller multimodalen Therapien steht die Hinführung zur besseren Selbstwahrnehmung und Möglichkeit kreativen Schaffens, was gerade bei ADHS-Betroffenen dank einer vielseitigen und offenen Persönlichkeit gut Anklang findet[6]. Dies zeigt sich in der Bewegungskoordination und Zentrierung in Körper- und Tanztherapie, Eigenreflexion in der Psychotherapie, Alltagsgestaltung und Struktursuche innerhalb der Ergotherapie oder in systemischen Ansätzen zur Wahrnehmung der eigenen Person in Familie, dem Freundeskreis oder Arbeitsfeld.

In der Gesprächstherapie stehen je nach Lebenssituation unterschiedliche Themen im Fokus: das Bremsen von Impulsen, der Umgang mit Autoritäten, der oft stark ausgeprägte Gerechtigkeitssinn und das Thema von Grenzwahrnehmung und -überschreitung. Die ressourcenorientierte Stärkung und Potenzialentfaltung von oft hinter den Fähigkeiten zurückgebliebenen Leistungen stellt auch hinsichtlich der Entwicklung eines gesunden Selbstwertes ein bedeutendes Ziel der Psychotherapie dar. Zudem werden eigene Wertvorstellungen und persönliche Ziele in verschiedener Hinsicht thematisiert.

Vielen ADHS betroffenen Menschen ist die Suche nach Stimulation gemeinsam, wobei Langeweile oft schlecht toleriert werden kann. Damit Betroffene auch mit äusseren monotonen Situationen einen leichteren Umgang finden, kann die Beschäftigung mit inneren Themen und kreativer Betätigung eine wichtige Erfahrung sein.

In der Ergotherapie werden konkrete Alltagsstrategien erlernt: Angehen von administrativen Angelegenheiten, das Anbringen von Gedächtnisstützen, die effizientere Planung von Alltagstätigkeiten und Pflichten, Zeit- und Pausenmanagement, das Aufstellen einer Tagesstruktur. Eine optimale Passung von sicheren und klaren äusseren Strukturen, innerhalb welcher ein Mensch doch frei entscheiden und einen kreativen Weg finden kann, fördert die Selbstwirksamkeit der von ADHS betroffenen Erwachsenen. Dies hat auch in der Ergotherapie wichtige Implikationen für die Berufswahl und die Gestaltung des Alltags von ADHS betroffenen Erwachsenen.[7] Letztere profitieren nicht selten von einem wohlwollenden und verständnisvollen Umfeld, was den Betroffenen ermöglicht, Verantwortung zu übernehmen und positive Rückmeldungen des Umfeldes wiederum als stark motivierend und potenzialentfaltend erleben zu können[8].

Die Körpertherapie fördert die differenziertere Wahrnehmung der gerade bei ADHS oft sensiblen und unmittelbaren Verbindung von Körper und Psyche. Nicht selten finden sich bei ADHS gehäuft komorbide körperliche Erkrankungen (Migräne, Nackenverspannungen, destruktive Essgewohnheiten, Magen-Darm-Probleme) wie auch Koordinationsprobleme, welche Fein- und Grobmotorik betreffen können. Fest verankerte Stressmuster, die sich körperlich in Anspannungen, Schmerzen und Körpersymptomen niederschlagen, können durch körperbasierte Methoden angegangen werden. Auffälligkeiten in der frühkindlichen Entwicklung (das Erlernen von Motorik und Sprache) sind oft mit ADHS vergesellschaftet und können in der Körpertherapie durch neue und leichtere Bewegungsabläufe aufgezeigt und variiert werden. Die Feldenkrais Methode beispielsweise fokussiert auf die Bewusstseinsförderung über den Zusammenhang von Bewegung und ihrer Organisation durch das neuromuskuläre System[9]. So eröffnet sich den Betroffenen meist ein weiteres Feld an Handlungsmöglichkeiten, was sich wiederum positiv auf den Selbstwert auswirken kann. Da gerade ADHS betroffene Erwachsene oft eine feinfühlige Wahrnehmung gegenüber Schwächeren aufzeigen, sich selbst jedoch oft nicht im gleichen Ausmass begreifen, kann beispielsweise die Feldenkrais Methode hier einen wichtigen Grundstein im Selbstverständnis legen.[10] Dieses Thema wiederum kann die Psychotherapie mit der Förderung einer differenzierten Selbst- und Fremdwahrnehmung aus kognitiver und emotionaler Sicht aufgreifen. Diese methodenübergreifenden Ansätze spiegeln das weite Feld an Möglichkeiten, das sich in einer offenen Therapiehaltung im Sinne einer Selbstwirksamkeitsförderung bei ADHS-Betroffenen ergeben kann und das hinsichtlich der Nachhaltigkeit von Therapieerfolgen lohnend erscheint. Zudem macht die bisherige Literatur zu ADHS im Erwachsenenalter darauf aufmerksam, dass sich ein multimodaler Therapieansatz am effektivsten ausgewirkt hat, was auch auf die weitere Notwendigkeit der Erforschung von alternativen Behandlungansätzen zum besseren Verständnis der dahinterliegenden neurophysiologischen Prozesse hinweist[11].

ADHS-Betroffene profitieren von Abwechslung und Vielseitigkeit sowie immer wieder gestellten neuen Herausforderungen. Auch deshalb erscheint ein multimodales Setting in der Ressourcenaktivierung bei ADHS betroffenen Erwachsenen notwendig.

 

[1] B. Hesslinger, A. Philipsen, H. Richter, Psychotherapie der ADHS im Erwachsenenalter: Ein Arbeitsbuch. Hogrefe Verlag, Göttingen, 2004.

[2] A.P. Lam, S. Matthies, E. Graf et al., Long-term Effects of Multimodal Treatment on Adult Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder Symptoms- Follow-up Analysis of the COMPAS Trial. JAMA Network Open, 2(5), 2019.

[3] P. Altherr, ADHS bei Erwachsenen: Fallbuch für Betroffene für zu Hause und bei der Arbeit. Hartung-Gorre Verlag Konstanz, 2021.

[4] A. L. Chimiklis, V. Dahl, A. P. Spears, K. Goss, K. Fogarty, A. Chacko, Yoga, Mindfulness, and Meditation Interventions for Youth with ADHD: Systematic Review and Meta-Analysis. Journal of Child and Family Studies 27, 3155–3168 (2018). 

[5] P. L. A. Schoenberg, S. Hepark, C. C. Kan, H. P. Barendregt, J. K. Buitelaar, A. E. M. Speckens, Effects of mindfulness-based cognitive therapy on neurophysiological correlates of performance monitoring in adult attention-deficit/hyperactivity disorder. Clinical Neurophysiology, 125 (7), 1407-1416 (2014).

[6] L. A. Kurtz, Understanding Controversial Therapies for Children with Autism, Attention Deficit Disorder, Other Learning Disabilities: A Guide to Complementary and Alternative Medicine. Jessica Kingsley Publishers, London and Philadelphia, 2008.

[7] T. Pruschmann, ADHS im Erwachsenenalter – Von Hitzköpfen und Rasern. Ergopraxis, 4(1), 20-23 (2011).

[8] H. Lachenmeier: Mit ADHS erfolgreich im Beruf: So wandeln Sie vermeintliche Schwächen in Stärken um. Springer, Berlin, 2021.

[9] M. Chivers, Dyslexia and Alternative Therapies. Jessica Kingsley Publishers, London and Philadelphia, 2006.

[10] S. Elgelid, C. Kresge, The Feldenkrais Method: Learning through movement. Handspring Publishing Limited, 2021.

[11] L. Schmalzl, C. E. Kerr, Editorial: Neural Mechanisms Underlying Movement-Based Embodied Contemplative Practices, Frontiers in Human Neuroscience. 10, 169 (2016).

 

ADHS Analog

In unserer Serie schreibt Ursula Ammann, MAS Supervision und Coaching ZHAW und Studienleiterin icp über analoge Methoden, die sich im Therapie- und Coachingbereich bewährt haben.

Wie Psychotherapie und Coaching Hand in Hand arbeiten

(ua) Diesmal gibt es ein etwas anderes ADHS Analog – mit dem ich mich nach all den Jahren gerne von dieser Kolumne verabschiede. Es hat Spass gemacht, Euch in diverse analoge Methoden hinein schauen zu lassen und ich danke auch für alle Rückmeldungen und alle Inspiration! Bleibt dran!

Seit vielen Jahren habe ich das Vorrecht als Coach mit ADHS Betroffenen unterwegs zu sein -seit ebenfalls einigen Jahren habe ich im Mandat das Vergnügen, jedes Jahr 22 Studierende in einem Nachdiplomsstudium auf dem Weg zum ADHS Coach ICP auszubilden. Immer wieder ist da auch das Thema der Abgrenzung zur Psychotherapie.

Gerne brauche ich da ein Bild aus dem Detailhandel. Man sprich dort von flachen, breiten Sortimenten und engen, tiefen Sortimenten. Migros zB. Ist eine Vertreterin der ersten Gruppe. Man findet da Schokolade, Getränke, Körperpflegeprodukte, Socken und sogar Spielsachen in einem durchschnittlichen MM. Wenn ich aber gerne jene leckere Schoggi mit ganzen Mandeln und in Dunkel möchte, oder noch spezifischer die mit den Himbeeren in weiss – dann gehe ich zu Läderach. Dort finde ich ausser Schokoladenspezialitäten nichts anderes. Er hat ein enges, aber tiefes Sortiment.

Genauso mit der Psychotherapie (PT). Immer noch studiert ein Psychologe* oder Psychiater* in der Regel 4-6 Jahre weiter für die PT Anerkennung. Für ADHS Betroffene haben sich dabei die Richtung der Verhaltenstherapie und der Schematherapie als besonders hilfreich erwiesen.

Als Coaches machen wir Anleihen an verschiedene Therapierichtungen – bzw. vertiefen uns in einige der bewährten Tools. Wir erwerben in guten Ausbildungen1 einiges Wissen an psychischen und somatischen Zusammenhängen, schauen, mit welchen Tools wir gut arbeiten können und setzten uns mit den Grenzen unseres Tuns auseinander. Diese Grenzen sind je nach Vorbildung sehr unterschiedlich. Selbstverständlich haben unsere Studierenden, die aus den Bereichen Medizin und Psychologie kommen ein anderes Vorwissen, als jene die aus den Pädagogischen Hochschulen zu uns finden. Das gilt es zu Erkennen und sich mit der eigenen Rolle auseinander zu setzten.

Coaching ist ein Begriff aus der Wirtschaft und dem Sport. Als Coach (Kutscher) bekommt man vom Klienten* (PT:Patienten*) einen Auftrag – manchmal auch von der IV oder dem Arbeitgeber. Die Coachinganliegen drehen sich sehr oft um den Arbeits- oder Schulkontext. Da geht es um das Erreichen von kurz-, mittel- und langfristigen Zielen. Diese Ziele müssen eine bestimmte Messbarkeit und damit eine Überprüfbarkeit haben. Ganz wichtig ist neben der Sozial-, Fach- und Selbstkompetenz des Coaches,  dessen Methodenkompetenz. Wir verfügen im Idealfall über einen grossen Methodenkoffer an analogen Skills (s. meine Kolumne über die letzten Jahre), die wir zielgerichtet und klientenangepasst einsetzen.

Als Coaches bekommen wir unsere Aufträge in der Regel von der IV, von Arbeitgebern aber auch von Betroffenen direkt. Coaching ist keine Krankenkassenleistung (leider!!! -  obwohl es mittlerweilen als drittes Standbein der ADHS Therapie Goldstandard ist) und wenn kein anderer Kostenträger vorhanden ist, müssen unsere Klienten unsere Rechnung selbst bezahlen. Dabei kostet die Coachingstunde zwischen 120.-- - 150.—(bei Beträgen darüber müsste man gut hinschauen, weshalb dies so ist....). Meistens drehen sich die Coachingaufträge um konkrete Anliegen, wie zB Joberhalt, Umgang mit herausfordernden Situationen, Elterncoaching etc. Eine Besonderheit ist dabei das Coaching während der beruflichen Erstausbildung, das auch Jugendliche via IV zugute haben, bei denen es eine Spätdiagnose gab (Voraussetzung: die Diagnose muss IV relevant sein, was ADHS ist, und der Coach muss IV anerkannt sein).

Es ist also ein zielorientierter Auftrag, startend im «Hier und Jetzt». Als Coaches schauen wir durchaus auch an, wo solche Muster in der Vergangenheit schon vorkamen, bzw. was an Prägungsanteilen zur Zielerreichung hinderlich sein könnte. Die Bearbeitung der Muster und Prägungsanteile obliegt dann aber den Psychotherapeuten. Und hier müsste das Unterwegssein Hand in Hand gehen. Dies kann in regelmässigen «runden Tischen» oder «Standortgesprächen» - aber auch in Intervision und persönlichem Austausch geschehen. Dabei ist wichtig, dass nichts hinter dem Rücken der Klienten/Patienten passiert, sondern dass diese transparent über unsere von ihnen autorisierten Kontakte informiert werden. Dann kann man auf Augenhöhe zum gleichen Ziel hin unterwegs sein. Nicht als Konkurrenz, sondern als bereichernde Ergänzung, die schlussendlich entlastend für die Fachpersonen und zielführend für die Menschen, die sich mit uns auf den Weg machen, ist. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und Euch allen ein gutes «miteinander unterwegs sein»!

1 Was zeichnet eine gute Ausbildung aus? Zum einen sicher die Tatsache, ob sie von der SFG-ADHS  und allenfalls der IV als solche anerkannt ist – zum anderen aber auch die Anzahl und Profession der Dozierenden. Wer unterrichtet was und welche Befähigung hat er/sie dazu. Das kann ein guter Gradmesser sein.

 

Veranstaltungshinweise

 

  • Veranstaltung der SFG ADHS
    Voranzeige: 9. März 2023, 14.00 - ca. 16.30 Uhr, Tagung mit anschliessender Mitgliederversammlung in Bern zum Thema «Transition» (Übergang vom Jugendlichen- ins Erwachsenenalter). Die SFG ADHS freut sich, dass sie für diesen Anlass zwei ausgewiesene Experten gewinnen konnte, den international bekannten Prof. Dr. Swaranpreet Singh, Universität Warwick, UK, sowie Dr. med. Stephan Kupferschmid, Chefarzt Adoleszentenpsychiatrie, Integrierte Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland.

    Auch Nichtmitglieder sind herzlich willkommen.
    Weitere Informationen werden Sie zu gegebener Zeit auf unserer Website www.sfg-adhs.ch finden.

  • Veranstaltungen Dritter

    AG ADHS, 23. März - 26. März 2023, Hamburg, Internationaler Fachkongress ADHS – weiblich

 

Weitere Informationen zu den Veranstaltungen finden Sie auf der Website der SFG ADHS www.sfg-adhs.ch

ADHS Aktuell

Editorial

Der letzte Newsletter 2021 ist dem Thema ADHS und Trauma gewidmet.

Sabine Weber, Irène Koch, Markus Landolt & Stephan Kupferschmid zeigen in ihrem umfassenden Artikel Zusammenhänge zwischen Traumafolgestörungen und ADHS sowie Überlappungen in der Symptomatik auf und legen dar, welche konkreten Empfehlungen für die Diagnostik und die Therapie daraus abgeleitet werden können.  

Der zweite Beitrag über Trauma als Ursache von ADHS ist ein Auszug von der Webseite www.adxs.org von ADxS.org., den wir mit freundlicher Genehmigung der Betreiber dieser Website in unserem Newsletter übernehmen dürfen. Der interessante Artikel geht der Frage nach, wieweit traumatisierende Erfahrungen in der Kindheit einen Risikofaktor für die ADHS darstellen.

Unter der Rubrik «Im Blickpunkt» verweist Isolde Schaffter-Wieland auf interessante News und Studien rund um das Thema ADHS mit entsprechenden Links.

Ursula Ammann beschreibt in ihrem neuesten Beitrag «ADHS Analog» wie mit dem «Entspannungsbild», einer Methode, die vergleichsweise einfach und rascher als andere Entspannungsmethoden funktioniert, gearbeitet werden kann.

In der Rubrik «Buchbesprechungen» werden zwei interessante, lesenswerte Neuerscheinungen vorgestellt. Das Sachbuch «Hochbegabung und Hochsensibilität» ist ein fundiertes und breitgefächertes Sachbuch mit einem interdisziplinären Ansatz. Isolde Schaffter-Wieland empfiehlt es Fachpersonen aus dem Gesundheitsbereich, der Pädagogik und dem Sozialwesen sowie Betroffenen und ihrem persönlichen Umfeld zur Lektüre. An dieser Stelle verweisen wir im Nachgang zu unserem letzten Newsletter zum Thema «ADHS und Hochsensibilität» gerne auf die neue CD «Sensibeli» der Schweizer Sängerin Jael, die sich in ihrem Album musikalisch und mit illustrierter Erzählgeschichte mit dem Thema auseinandersetzt: https://www.jaelmusic.ch/sensibeli.

Dr. phil. Monika Brunsting stellt mit Begeisterung das liebevoll gestaltete Buch «Jaron auf den Spuren des Glücks» von Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler vor.Die packende Geschichte zeigt Wege wie man dem Glück näherkommt.

Am Schluss finden Sie Hinweise auf Veranstaltungen.

Wir wünschen Ihnen und Ihren Familien ein gesundes, glückliches neues Jahr.

Herzliche Grüsse

Felicitas Furrer und Isolde Schaffter-Wieland

 

Beziehungsstatus: "Es ist kompliziert" - Traumafolgestörung oder ADHS?

Autorinnen und Autoren:

Dr. phil. Sabine Weber, Leitende Psychologin, Integrierte Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland

Wieshofstrasse 102, CH-8408 Winterthur, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

lic. phil. Irène Koch, Leitende Psychologin, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Albanistrasse 24, 8400 Winterthur, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Prof. Dr. phil. Markus Landolt, Ordinarius UZH, Leitender Psychologe Universitäts-Kinderspital Zürich – Eleonorenstiftung Steinwiesstrasse 75 CH-8032 Zürich

Dr. Stephan Kupferschmid, Chefarzt Psychiatrie für Jugendliche und junge Erwachsene, Vorstand SFG ADHS, Integrierte Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland

Wieshofstrasse 102, CH-8408 Winterthur, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

In aktuellen Diskussionen über Themen der psychischen Gesundheit stehen sowohl Traumafolgestörungen als auch die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Zentrum von Entwicklungen und Forschungsbemühungen. Bei diesen genannten Störungsbildern gibt es relevante Zusammenspiele und auch Überlappungen, die mit den Neuformulierungen in den Diagnosesystemen ICD-11 und DSM-5 noch an Bedeutung gewinnen werden. In diesem Beitrag sollen Zusammenhänge aufgezeigt und konkrete Empfehlungen für Diagnostik und Therapie abgeleitet werden.

Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

Die ADHS ist durch die Trias Hyperaktivität, Impulsivität und Aufmerksamkeitsstörung gekennzeichnet. Aktuelle Übersichtsarbeiten betonen, dass die Ätiologie heterogen und bislang noch nicht vollständig geklärt ist. Eine besondere Rolle werden der genetischen Prädisposition und prä-, peri- und frühen postnatalen Umwelteinflüssen eingeräumt. Inzwischen gilt es als gesichert, dass eine ADHS nicht mit dem 18. Geburtstag verschwindet, sondern trotz einem möglichen Wandel in der Symptomatik als ein lebenslanger Zustand angesehen wird.  

Traumafolgestörungen

Die Besonderheit von Traumafolgestörungen, im Gegensatz zu anderen psychischen Störungen ist, dass es einen klar definierten und auch zwingend nötigen Auslöser gibt, nämlich das traumatische Ereignis. In den aktuellen Diagnosemanualen ICD-11 und DSM-5 gibt es eine Reihe von Untergruppen, die von der akuten Belastungsstörung bis zur komplexen posttraumatischen Belastungsstörung reichen. Die Prävalenz von potenziell traumatischen Ereignissen ist hoch. In einer repräsentativen Studie von 2013 (Landolt et al. 2013) wurde für Jugendliche der neunten Klassenstufe in der Schweiz eine Lebenszeitprävalenz für potentiell traumatisierenden Ereignissen von 56 % gefunden.

Zusammenhänge

Es ergibt sich also das Bild, dass eine ADHS eine in der Regel angeborene Störung mit nicht vollständig geklärter Genese ist, wohingegen Traumafolgestörungen zwingend einen lebensgeschichtlichen Auslöser, nämlich das traumatische Ereignis bedürfen.

Der Zusammenhang ist komplex, so untersuchte eine Studie von Schilpzand et al (2018) das Vorkommen von Traumatisierungen von Kindern mit und ohne ADHS. In dieser methodisch gut angelegten Studie wurden an die 400 Kinder exploriert. Bei Kindern, bei denen eine ADHS diagnostiziert wurde, war die Wahrscheinlichkeit, dass sie ein traumatisches Ereignis erlebt haben, um den Faktor 1.76 erhöht.

Andererseits kann ein vorbestehendes ADHS bei der Ausprägung einer Traumafolgestörung ein wichtiger Faktor sein. Im transaktionalen Traumabewältigungsmodell (Landolt, 2003) spielen Merkmale des Individuums eine wichtige Rolle. So können prätraumatische psychische Auffälligkeiten wie z.B. das Bestehen einer ADHS die Resilienz mindern und so zu einer Ausprägung einer Traumafolgestörung beitragen. Es zeigte sich in der Studie von Schilpzand et al. (2018), dass Kinder mit einer ADHS-Diagnose und gleichzeitiger Traumexposition eine deutlich stärkere Ausprägung der externalisierenden Störung hatten. Bei dieser Risikoerhöhung könnte auch das risikosuchende Verhalten ("sensation seeking") vieler Patientinnen und Patienten mit ADHS eine Rolle spielen.

Insgesamt ergibt sich ein Zusammenhang indem einerseits eine vorbestehende ADHS ein Risikofaktor für häufigere Traumatisierung ist und andererseits in der Traumabewältigung ein ADHS ein Risikofaktor für die Entwicklung einer Traumafolgestörung sein kann.

Symptome

Obwohl also die Ursachen für die Störungen sehr unterschiedlich sind, kann es interessanterweise auf Symptomebene eine deutliche Überschneidung der ADHS-Symptomatik mit den Symptomen einer Traumafolgestörung geben. Gemeinsame Symptome können dabei folgende sein:

  • Konzentrationsprobleme
  • Erhöhte Ablenkbarkeit 
  • Schwierigkeiten zuzuhören
  • Unordentlichkeit
  • Hyperaktivität
  • Innere Unruhe
  • Schlafstörungen

Auch wenn diese Symptome typisch für ein ADHS sein können, können sie auch zentrale Symptome einer Traumafolgestörung sein. Im DSM-5, werden diese unter Punkt E zusammengefasst. Dort ist die Veränderung des Erregungsniveaus und Reizbarkeit, riskante Verhaltensweisen, übermässige Wachsamkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und Schlafstörungen benannt. Zentrale Punkte überdecken sich also (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Überlappung der Symptomatik von Traumafolgestörungen und ADHS (in Anlehnung an Siegfried et al., 2016)

Diagnostik

Aus den beschriebenen Zusammenhängen ergeben sich auch handlungsleitende Empfehlungen für die Diagnostik und Therapie. So sollte bei einer Untersuchung immer ein breites Bild der Psychopathologie und möglichen, auch konkurrierende, Ätiologien in Betracht gezogen werden. Gerade die ADHS, als auch Traumadiagnosen haben einen grossen Erklärungswert, es sollte jedoch auch eine alternative Erklärung in Betracht gezogen werden. Eine strukturierte diagnostische Abklärung mit ausführlicher Anamnese, inkl. Entwicklungspsychopathologie, ist dabei unentbehrlich.

So sollte bei jedem Patienten mit einer Traumafolgestörung auf ein möglicherweise zugrundeliegendes ADHS geachtet werden, und auch umgekehrt bei Kindern mit einer diagnostizierten ADHS Symptome einer Traumafolgestörung nicht übersehen werden.

Therapie

Bei Kindern und Jugendlichen sind bei Traumatisierungen vor allem Verfahren der Exposition wie KIDNET oder kognitive Verhaltenstherapie evidenzbasiert, auch für die EMDR gibt es Hinweise auf die Wirksamkeit. Beim ADHS steht die Psychopharmakotherapie neben der Psychotherapie. Aktuelle Handlungsempfehlungen sind in der S3-Leitlinie (DGKJP, 2017) zusammengefasst.

Traumapädagogik im teilstationären und stationären Kontext

Systemtherapeutische Verfahren sind in der Traumatherapie im Kindes- und Jugendalter unabdingbar, um eine gute Passung zwischen dem traumatisierten Kind, seiner Familie und seinem sozialen Umfeld zu erreichen. Die Integration von traumasensiblen und traumapädagogischen Konzepten in der Behandlung von traumatisierten Kindern und Jugendlichen stellen eine zielführende Ergänzung in der pädagogischen Unterstützung dar. Eine traumasensible Haltung ermöglicht es den Fachkräften, die Wirklichkeiten der traumatisierten Kinder und Jugendlichen gut genug zu verstehen, die Hintergründe problematischer Verhaltensweisen besser einzuordnen und im pädagogischen Alltag auf die spezifischen Bedürfnisse der traumatisierten Kinder und Jugendliche eingehen zu können.

Ausblick

In den neueren Diagnosesystemen gibt es sowohl bei der ADHS, mit dem Verständnis als Spektrumsstörung, als auch bei den Traumafolgestörungen eher eine "Verbreiterung der Diagnosen". Es werden zusätzliche Kategorien geschaffen und durch die dimensionale Betrachtungsweise werden auch leichtere Formen diagnostizierbar. Dies wird in Zukunft dazu führen, dass der Überlappungsbereich zwischen diesen Störungen potenziell grösser wird. Deshalb ist eine differenzierte Betrachtungsweise dieser beiden Themengebieten notwendig, um den Patienten/Innen die adäquate therapeutische Unterstützung bieten zu können.

Wenn ein Mensch unter ADHS oder unter einer Traumafolgestörung leidet oder unter beidem gleichzeitig, gibt es wirksame und evidenzbasierte Behandlungsmöglichkeiten. Alle Menschen haben darüber hinaus Stärken, die ihnen helfen, sich anzupassen und Fortschritte bei der Genesung zu machen.

Auch Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit einem komplizierten und sich überschneidenden Symptomprofil können mit angemessener Unterstützung durch Familie, Freunde, Schule, Gemeinschaft und therapeutischer Hilfe resilient sein und über eine hohe Lebensqualität verfügen.

 

Trauma als Ursache von AD(H)S

Stress in Jugend und Kindheit ist eine häufige Ursache für spätere psychische Probleme.(1) Beispielsweise verändert frühkindlicher Stress die Expression von Corticoidrezeptoren und damit die Reaktion der HPA-Achse auf akuten und chronischen Stress dauerhaft.(2) Eine grundlegende Darstellung der Auswirkung frühkindlicher Stressbelastung und ihrer epigenetischer Manifestation findet sich bei Eckerle.(3)

Frühkindlicher oder chronischer Stress als AD(H)S-Risiko

Viele Kinder und Erwachsene mit AD(H)S beschreiben sexuellen Missbrauch und/oder Traumatisierungen.(4)

Etliche Untersuchungen bestätigen eine überproportional erhöhte Häufigkeit früher Traumata bei AD(H)S-Betroffenen im Vergleich zu  Nichtbetroffenen.(5)(6)(7)(8)(9)(10)(11)(12) Gleiches gilt für Hirnverletzungstraumata(13) und otorhinologische Traumata.(14) Es wird diskutiert, ob es sich über eine kausale Verursachung handelt oder ob die Symptome von AD(H)S und Traumata überlappen.(15) Andere Quellen beschreiben frühe Traumata allgemeiner als Mitursache psychischer Probleme.(16)(17)

Frühkindlicher Stress (singulärer traumatischer Stress) und chronischer Stress sind an der Entwicklung von AD(H)S beteiligt.(18) Eine schwedische Kohortenstudie fand bei AD(H)S-Betroffenen 1,8 mal so häufig traumatische Lebensereignisse wie bei Nichtbetroffenen.(19)

20 % bis 50 % aller Kinder, die ein frühkindliches Trauma erleben, entwickeln klinische AD(H)S-Symptome.(18)(20)(21)
Misshandlung in der Kindheit korreliert mit einem erhöhten AD(H)S-Risiko bei Erwachsenen.
(22)(23)(24)(25)(26)(27) Kinder mit AD(H)S weisen häufiger Missbrauch auf.(28) Eine Studie fand bei Mädchen mit AD(H)S dreimal so häufig einen Missbrauch wie bei Nichtbetroffenen.(29), eine andere Studie fand bei Kindern mit AD(H)S ebenfalls dreimal so häufig Missbrauch sowie eine verdoppelte Häufigkeit von körperlicher Misshandlung und eine zweieinhalbfache Häufigkeit von emotionaler Misshandlung.(30)
Kindliche Misshandlung, insbesondere emotionale Misshandlung, korreliert zudem mit einer erhöhten emotionalen Dysregulation und Reaktivität.
(22)

Eine Untersuchung fand bei AD(H)S-Betroffenen eine hochsignifikant erhöhte Häufigkeit an traumatischen Erlebnissen.(31) Dabei waren die non-interpersonal-events kaum erhöht, während die interpersonal-events im Vergleich zu Nichtbetroffenen massiv erhöht waren. Mehr hierzu unter  Trauma als Ursache von AD(H)S.

Traumatisierende Erfahrungen sind intensive Stresserfahrungen im weiteren Sinne, z.B.:

  • Häufige Trennung von der Bezugsperson ohne Ersatz
  • Deprivation (emotional arme Beziehung der Eltern zum Kind)
  • feindliches / hilfloses Verhalten der Eltern gegenüber dem Kind
  • langanhaltende Paarkonflikte / Eheproblem der Eltern
  • Verlust der Eltern(32)
  • Kriegserlebnisse
    Bei Kindern im Kindergartenalter von Flüchtlingen aus Kriegsregionen zeigte eine Untersuchung, dass diese “wuseliger” waren, einen enormen Bewegungsdrang hatten und sich schwerer konzentrieren konnten. Gleichzeitig wurden diese als so traumatisiert beschrieben, dass eine Heissklebepistole sie zum Weinen brachte.(33)
  • Schocks (z.B. Lärmschock)

 

AD(H)S-Risiko steigt mit Mass der Stressbelastung

Emotionaler Missbrauch und körperliche Misshandlung erhöhen das Risiko für AD(H)S und die Symptomatik von AD(H)S erheblich, ebenso wie ungünstige Lebensumstände und Schulangst.(38)

Eine Untersuchung an 110 Jungen fand bei AD(H)S-Betroffenen eine hochsignifikant erhöhte Häufigkeit an traumatischen Erlebnissen.(31)

Der Life Incidence of Traumatic Events (LITE-P) Test fragt nach:

  1. Kind erlebte Autounfall
  2. Kind bei anderem Unfall verletzt oder im Krankenhaus
  3. Nahestehende Person verletzt
  4. Familienmitglied im Krankenhaus
  5. Tod eines Familienmitglieds
  6. Freund krank oder starb
  7. Kind erlebte Feuer
  8. Kind erlebte Naturkatastrophe
  9. Gegenseitige Verletzung/Zerstörung von Dingen zwischen Erwachsenen
  10. Trennung / Scheidung Eltern
  11. Misshandlung des Kindes
  12. Kind angebunden / eingesperrt
  13. Missbrauch des Kindes
  14. Kind bedroht
  15. Kind ausgeraubt

 

Die 65 AD(H)S-betroffenen Jungen hatten im Schnitt nahezu jede Art von Trauma häufiger erlebt als die 45 Jungen der Vergleichsgruppe. Dabei waren die interpersonal-events (Traumata im Beziehungskontext) gegenüber Nichtbetroffenen noch erheblich deutlicher erhöht als die non-interpersonal-events. Die Anzahl der beziehungsrelevanten IPE-Traumata korreliert dabei auch mit der Intensität der Hyperaktivität und der Gesamtsymptomatik. Altersbezogen korreliert auch die Unaufmerksamkeitssymptomatik hochsignifikant mit der Anzahl der IPE-Traumata.

Zu vergleichbaren Ergebnissen kommen mehrere weitere Studien.(39)(40)
Traumata durch emotionale Vernachlässigung oder Misshandlung erhöhten die Wahrscheinlichkeit von AD(H)S signifikant.(41)

Eine andere Studie berichtet dagegen, dass viktimisierende Traumata die Wahrscheinlichkeit von ODD erhöhten, nicht aber von AD(H)S.(42)

Unter der Annahme, dass ein Drittel(43) bis die Hälfte aller Kinder und zwei Drittel aller Kinder in psychiatrischen Samples Traumata aufweisen, ist ein häufiges Überlappen von AD(H)S und frühkindlichen Traumata zu erwarten.(44) Dies alleine erklärt jedoch nicht, warum in den Untersuchungen zum Thema Trauma als (Mit-)Ursache von AD(H)S bei den AD(H)S-Betroffenen überwiegend eine höhere Anzahl früher Traumata gefunden wurde als bei Nichtbetroffenen.(45)

Ein Entstehungspfad von AD(H)S wird auf genetische Ursachen in Verbindung mit Umwelterfahrungen zurückgeführt, wobei diese Umwelterfahrungen frühe Traumata sein können.(46)

2. Stress in Kindheit und früher Jugend bewirken persistierendes AD(H)S im Erwachsenenalter

Eine Untersuchung der Stressbelastung von Kindern mit AD(H)S zeigte, dass starke Stressbelastung in der Kindheit und Jugend mit schwerem ADHS-bzw. ADS-Verlauf bis ins Erwachsenenalter einherging, während Kinder mit einer schwachen Stressbelastung in Kindheit und Jugend häufig ein remittierendes AD(H)S zeigten.(50)

3. Traumatische Erlebnisse und Dopamin

Auch wenn es bislang nicht gesichert ist, dass (frühkindliche) Traumata das AD(H)S-Risiko (kausal) durch Veränderungen des dopaminergen Systems erhöhen, gibt es starke Hinweise, dass frühkindliche wie im Jugendalter entstehende Traumata das dopaminerge System des Gehirns dauerhaft verändern.(51)(52)(53)(54) Ein Mediator könnte sein, dass Stress die HPA-Achse verändert, die wiederum einen Einfluss auf die Dopaminsynthese und Dopaminrezeptoren ausübt.(55)

Die wichtigsten dopaminergen Knotenpunkte des Stressnetzwerks im Gehirn sind:

Nagetiere zeigen nach frühem Stress

  • abgeflachte Dopaminstressantwort im mPFC(60)(61)
  • erhöhte tonische Dopaminspiegel in subkortikalen Bereichen(62)
  • erhöhte Noradrenalinausschöttung auf akuten Stress(60)

Frühkindlicher Stress scheint im späteren Leben eine erhöhte Dopaminstressantwort im Striatum zu verursachen. (63)(64)

Beim Menschen wird das dopaminerge System in den meisten Knotenpunkten des Stressnetzwerks primär durch Dopamin-D2- und D3-Rezeptoren gesteuert.(65)(66)(67)

Traumata in der Kindheit korrelierten bei Männern positiv, bei Frauen mit der Verfügbarkeit von D2-Rezeptoren.(68)

Frühkindliche Traumata korrelieren mit verringerten Werten des Dopaminabbauprodukt Homovanillinsäure im Blutplasma(69) und in der Gehirnflüssigkeit(70).
Eine Studie berichtet von einer Koorelation zwischen der räumlichen Ausdehnung der Dopaminaktivität im mPFC während akutem Stresses und der Schwere der Stresserfahrung im frühen oder späteren Kindesalter.
(71) 

Dieser Text ist ein Auszug von der Webseite www.adxs.org von ADxS.org.

ADxS.org ist ein vollständig nichtkommerzielles Projekt und dem Engagement von Ulrich und Kirsten Brennecke (Diplompsychologin und psychologische Psychotherapeutin) zu verdanken. Ihr erklärtes Ziel ist eine fachliche Auseinandersetzung mit ADHS aus wissenschaftlicher Sicht. ADxS.org zielt darauf ab, eine systematische Darstellung der für das Verständnis von ADHS relevanten medizinischen und neurobiologischen Zusammenhänge zu erstellen. Dabei wird stets versucht, neue Forschungsansätze zu integrieren und diese auch wissenschaftlich zu belegen. 

Auf der Internetplattform www.adxs.org ist das neutrale «ADHS-Kompendium» sowohl Ärzten, Wissenschaftlern, Therapeuten als auch Betroffenen und ADHS-interessierten Personen kostenlos zugänglich. Eine 2. gedruckte und aktualisierte Auflage sollte 2022 erscheinen. Die SFG ADHS bedankt sich für die freundliche Genehmigung, Textstellen aus dem Kapitel zu «Trauma als Ursache von ADHS» im aktuellen Newsletter publizieren zu dürfen.

Im Blickpunkt

Report über Diagnose und Behandlung von ADHS in Europa 2020

www.adhdeurope.eu

 

Presseschau und Studien

Sind ADHS und Trauma verbunden?

ADHS ist eine psychische Erkrankung, die typischerweise durch unaufmerksames, hyperaktives oder impulsives Verhalten gekennzeichnet ist. Auf der anderen Seite ist ein Trauma eine mentale, emotionale oder körperliche Reaktion auf ein schockierendes oder belastendes Ereignis oder eine Reihe von belastenden Ereignissen. Beide haben gemeinsame Symptome, wirken sich jedoch bei jedem Menschen anders aus.

View Article: PsychCentral, December 8, 2021

Ernährung verändert die Gehirnaktivität bei Kindern mit ADHS

Kinder, deren ADHS-Symptome nach einer Diät mit wenigen Nahrungsmitteln drastisch reduziert wurden, zeigten eine erhöhte Aktivität in einem bestimmten Teil des Gehirns. Je signifikanter die Verhaltensänderung ist, desto stärker steigt die Aktivität in diesem Teil des Gehirns. Forscher der Wageningen University & Research haben damit zum ersten Mal einen Zusammenhang zwischen einer Abnahme der ADHS-Symptome und einer erhöhten Aktivität im Gehirn nach einer Diät nachgewiesen.

View Article: Today UK News, November 20, 2021

ADHS bis ins junge Erwachsenenalter

Forscher der University of Washington beobachteten während 16 Jahren insgesamt 558 Menschen mit ADHS und fanden heraus, dass etwa 90 % von ihnen bis im Alter von 25 Jahren immer wieder Symptome der Erkrankung aufwiesen. Bei Abschluss der Studie waren nur etwa 9 % der Fälle ständig beschwerdefrei. Dies ist die erste Studie, die das Auftreten von ADHS-Symptomen in den verschiedenen Lebensphasen – von der Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter – untersuchte. Da ADHS-Symptome kommen und gehen können, ist es wichtig, dass Betroffene und ihre Angehörigen erkennen, dass sie während Stresssituationen eventuell mehr Unterstützung benötigen.

View Article: ABC27, December 7, 2021

Erwachsene mit ADHS haben viermal häufiger eine generalisierte Angststörung

Eine neue national repräsentative Studie, die online im Journal of Affective Disorders veröffentlicht wurde, ergab, dass jeder vierte Erwachsene im Alter von 20 bis 39 Jahren mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) eine generalisierte Angststörung (GAD) hatte. Menschen mit ADHS hatten eine viermal höhere Wahrscheinlichkeit, irgendwann in ihrem Leben an GAD zu erkranken, verglichen mit Menschen ohne ADHS.

View Article: Medical Xpress, November 18, 2021

Wird ADHS überdiagnostiziert und überbehandelt?

Eine weit verbreitete Meinung in der Presseberichterstattung über ADHS ist, dass Ärzte die Erkrankung sowohl überdiagnostizieren als auch überbehandeln, insbesondere bei Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten…

View Article: Medical News Today, November 16, 2021

ADHS Analog

In einer regelmässigen Serie schreibt Ursula Ammann, MAS Supervision und Coaching ZHAW und Studienleiterin icp über analoge Methoden, die sich im Therapie- und Coaching-Bereich bewährt haben. Heute zum Thema Entspannungsbild

Menschen mit ADHS neigen nicht selten dazu, emotional von null auf hundert in Erregung zu geraten. Viele Entspannungsverfahren dauern in einem solchen Moment schlicht zu lang oder sind in der Praxis kaum anwendbar. So ist beispielsweise die progressive Muskelrelaxation zwar sehr nützlich, jedoch in der Umsetzung zeitlich aufwändig. Einfacher und schneller anzuwenden, ist das «Entspannungsbild». Gemäss meiner Erfahrung (ich bin nicht auf Hochsensibilität spezialisiert), eignet es sich durchaus auch für Menschen mit dieser Herausforderung. Das «Entspannungsbild» lässt sich zudem hervorragend mit dem «Gedankenstopp» kombinieren.

Vorbereitung:

Ideal ist es, wenn Klienten sich im Vorfeld Gedanken machen, ob es irgendein Bild gibt, dass Sie mit «sicherer Ort» / «Geborgenheit» oder «Wohlfühlen» assoziieren und dies zum nächsten Termin mitnehmen.

Alternativ können A5 grosse Bilder verwendet werden, die von diversen Firmen angeboten werden (siehe Link am Schluss). Selbstverständlich kann man auch eigene Bilder ausdrucken. Dabei ist darauf zu achten, dass sie eine positive Ausstrahlung haben. Dies lässt sich leicht eruieren, indem man die Bilder verschiedenen Menschen zeigt und Post its zur Verfügung stellt, auf denen aufgeschrieben werden soll, was mit dem Bild assoziiert wird, bzw. wie positiv ein Bild auf einer Skala von 1-10 beurteilt wird.

Durchführung:

Mit dem Klienten/der Klientin wird das ausgesuchte Bild in allen Details besprochen, inklusive akustischen, olfaktorischen, sensitiven etc. Aspekten. Je breiter, desto besser. Ziel ist, dass das Bild quasi auf «Knopfdruck» innerlich abgerufen werden kann. Dazu wird es Schritt für Schritt (ähnlich wie bei der Desensibilisierung) aufgebaut oder wie ein Dia vor das innere Auge geschoben.

Wichtig ist es, das Bild mit verschiedenen auslösenden Situationen einzuüben. Diese werden vom therapeutischen Gegenüber nach Absprache möglichst detailgetreu eingebracht. Beim inneren Bildaufbau kann der Klient/die Klientin jeweils ein Handzeichen geben, wenn das Bild fixiert ist.

Abschluss: Erfahrungsgemäss ist es hilfreich, viele Methoden mit einer «Verankerung» zu verknüpfen. Das kann ein kleiner Stein sein, der in der Tasche getragen wird und der als Impulsgeber für den Bildaufbau fungiert. Die erfolgreiche Anwendung der Methode sollte gewürdigt werden und kleinste Teilschritte dazu ebenfalls.

Bezugsquelle Bildmaterial:

https://neuland.ch/catalogsearch/result/?q=Bildkarten

 

Buchbesprechungen

 

Hochbegabung und Hochsensibilität

Herausgeber: Germann-Tillmann, Joder Treier, Vrooem-Marell, mit Beiträgen von weiteren Autor:innen, Illustrationen Nathalie Bromberger

Verlag Schattauer, CHF 39.90

 

 

Nachdem in unserem vielbeachteten, letzten Newsletter das Thema ADHS und Hochsensibilität thematisiert wurde, stellen wir gerne diese Neuerscheinung vor.

Im Vorwort des Sachbuches schreibt Dr. Ulrike Kubetzki von der Universität Kiel unter anderem: «Dieses Buch ist ein wichtiger Beitrag, um die Wissenslücken zum Thema Hochbegabung zu schliessen. Noch immer ranken sich darum viele Mythen, Vorurteile und falsche Vorstellungen, denn viele Menschen verbinden damit in erster Linie die Wunderkinder, Genies und Überflieger wie Einstein oder Mozart. Das sind jedoch selbst in der Gruppe der Hochbegabten die grossen Ausnahmen…

…Durch mangelnde Aufklärung werden Hochbegabte von ihrem sozialen und beruflichen Umfeld, von pädagogischen und therapeutischem Fachpersonen oft falsch eingeschätzt. Das Gegenüber nicht einordnen zu können, kann Irritationen, Missverständnisse und Ablehnung nach sich ziehen. So machen viele Hochbegabte von Kind an die Erfahrungen von Ausgrenzung, Isolation und Einsamkeit, was verständlicherweise einen hohen Leidensdruck erzeugen kann. Im medizinischen und psychiatrischen Bereich sind Betroffene zudem der Gefahr von fatalen Fehldiagnosen ausgesetzt. Auch die Förderung von Hochbegabten ist noch immer keine Selbstverständlichkeit. Die Vorstellung, dass sich dieses Potenzial von ganz allein entfalten und in Leistung verwandeln wird, hält sich hartnäckig, doch das Gegenteil ist der Fall. Ebenso wie eine talentierte Musikerin oder ein vielversprechender Sportler braucht auch ein schlauer Geist die passenden Lehrpersonen, Förderinnen und Förderer, Anleitungen und Lerntechniken, die erheblich von den Methoden für durchschnittlich Begabte abweichen können.»

Aktuell gibt es vor allem Studien und Forschungsergebnisse zu hochbegabten Kindern und Jugendlichen. Über hochbegabte Erwachsene, besonders diejenigen, die ihre Hochbegabung erst spät entdeckt haben, findet man jedoch deutlich weniger Informationen. In diesem fundierten und breitgefächerten Sachbuch wird auch die Hochsensibilität ausführlich thematisiert. Es vertritt erstmalig einen ganzheitlichen und interdisziplinären Ansatz. ADHS-Spezialisten treffen in der Praxis immer wieder die Hochbegabung in Kombination mit an. Claudia Weiss gibt im Kapitel «Schlussgedanken» zu bedenken: Nicht jedes «seltsame» und sprunghafte Verhalten deutet auf die Aufmerksamkeitsstörung ADHS hin – hingegen kann eine unerkannte Hochbegabung mit der Zeit eine Depression auslösen.» Deshalb gilt es, bei einer Abklärung genau hinzuschauen. Die Autor:innen, die teilweise selbst Direktbetroffene sind, vermitteln in ihrem Werk wichtige Grundlagen, spannendes Erfahrungswissen sowie wertvolle Lösungsansätze, um mit der Betroffenheit umzugehen. Die interessanten Fallbeispiele veranschaulichen die Thematik und machen deutlich, wie einzelne Hochbegabte oder Hochsensible aufgrund einer Fehldiagnose nicht selten einen jahrzehntelangen Leidensweg hinter sich haben. Das Buch ist empfehlenswert für Fachpersonen aus dem Gesundheitsbereich, der Pädagogik und dem Sozialwesen sowie für Betroffene und ihr persönliches Umfeld. (isw)

 

Jaron auf den Spuren des Glücks  

Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler, Verlag Hogrefe, 2022, CHF 32.70

 

Rezension von Monika Brunsting, Dr. phil. Fachpsychologin für Psychotherapie FSP Sonderpädagogin und SFG ADHS-Mitglied

Kinder mit Dyslexie, Dyskalkulie, AD(H)S oder anderen Lernschwierigkeiten haben es besonders schwer, ihr Glück zu finden und nicht wieder zu verlieren. Misserfolge, wie sie sie erleben, sind wahre «Glücksfresser». Wer kein Naturtalent ist oder eine grosse Begabung zum Glücklichsein hat, ringt immer wieder darum, einen Zipfel Glück zu erhaschen. Auch die vielen Kinder mit Angststörungen oder Depressionen sowie Mobbing- oder Covid-geplagte Kinder haben Mühe, das Glück zu finden.

Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler haben einmal mehr ein enorm wichtiges Thema bearbeitet, das uns auch in der Arbeit mit legastheniebetroffenen Kindern als Lese- und Arbeitsbuch dienen kann.

Zum Glück hat man nicht nur das Glück, das man in die Wiege gelegt bekommen hat, sondern man kann es auch vermehren, wenn man gut zu ihm schaut. Darum haben die beiden Autoren dieses Buch geschrieben. Sie zeigen mit ihrer packenden Geschichte Wege, auf denen man dem Glück näherkommt. Der Fuchs Jaron ist die Hauptfigur. Er sollte unbedingt Fussballspielen, weil das sein Vater möchte. Aber er hat einfach keine Lust dazu und eine Mutter, die ihm helfen könnte, sich gegenüber seinem Vater zu wehren, hat er auch nicht, weil sie starb, als er noch ein Baby war. Manche der anderen Kinder mögen ihn nicht und von zweien wird er gar so schlimm gemobbt, dass sein einziger Kollege es gar nicht wagt, ihm zu helfen. Jaron ist wirklich in grosser Bedrängnis und man möchte ihm gerne helfen, wenn man nur wüsste wie.

Da kommt die Lehrerin auf die Idee, die Kinder sollten in Vierergruppen eine Projektarbeit machen. Das Thema kann frei gewählt werden. Gruppen bilden sich – übrig bleibt nur Jaron. Frau Luchs, die Lehrerin, teilt ihn der Mädchengruppe zu, in der erst drei Schülerinnen sind. Er findet das schrecklich peinlich, und die Mädchen sind auch nicht alle begeistert davon. Die Gruppe entscheidet sich für das Thema «Glück und wie man dieses finden kann». Sie will zeigen, wie man Glücksmomente suchen und finden kann. Gespannt verfolgen die Lesenden die Ereignisse in Schule, Dorf und Familie und erleben, wie aus guten und schlechten Erlebnissen Wege zum Glück entstehen können. Alles wird gesammelt. Ihr Journal wird Woche für Woche dicker und die Möglichkeiten zahlreicher. Das Journal ist nicht nur im Buch abgedruckt, hübsch und bunt gestaltet: es kann auch ausgedruckt werden. Therapeuten, Sonderpädagogen oder Lehrpersonen können das Material gleich einsetzen und mit ihren Schützlingen Wege zum Glück suchen. Für Lehrpersonen wird auch das Thema Mobbing angesprochen. Es spielt ja in der Geschichte eine wichtige Rolle.

Was ist Glück? Wann ist man glücklich? Was kann man tun, um glücklich zu sein? Das sind die Fragen, auf die die Gruppe Antworten sucht. Die Geschichte geht bald turbulent, bald ruhiger, jedoch stets achtsam über viele Seiten voran und endet zum Glück (!) gut, wie es sich für ein Glücksprojekt gehört. Jaron, der angepasste, schüchterne und zurückhaltende Fuchs, lernt sich zu wehren gegen seinen starken Vater. Er findet Freunde und das Glück, das er so lang vermisste.

Man kann die Geschichte lesen, vorlesen, sich vorlesen lassen in der Schule, in der Therapie oder auch zu Hause. Man kann das Lesen trainieren und auch das richtig Schreiben, wenn man will oder man kann sich einfach an der tollen Geschichte freuen.

Wer als Erwachsener mehr wissen will über die Hintergründe dieses Buches, erfährt dies auf mehreren Seiten. Martin Seligman, der weltberühmte Depressionsforscher, erklärte 1998, dass er  wisse, wie Menschen depressiv würden, weil er das jahrzehntelang studiert habe. Jetzt möchte er wissen, wie man nicht depressiv wird.

Insgesamt ist das Buch liebevoll gestaltet (Inhalt, Bilder, Sprache – sogar ein paar Fussnoten gibt es). Der Flattersatz, die grosse Schrift und der Zeilenabstand machen den Text übersichtlich und angenehm zu lesen. Vom Umfang her ist es für viele Kinder nicht allein zu bewältigen (zumindest, wenn sie Legasthenie haben und nicht gerne lesen). Das macht jedoch nichts, denn zum Glück und zum Glücklichsein braucht man ohnehin andere Menschen.

Da würde man sich doch wahrhaftig nur noch etwas wünschen: Ein Hörbuch. Dann könnte man das Lesen noch besser trainieren* oder vor dem Einschlafen noch ein wenig hören.

Ein Glück (!), dass Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler dieses tolle Buch geschrieben haben und Marcus Wilke es so farbig, witzig und fröhlich gestaltet hat.

* Ein Hörbuch hören und laut mitlesen fördert das Lesen auf einfache Weise.

 

Veranstaltungshinweise

  • SFG ADHS

Online-Tagung und Mitgliederversammlung  SFG ADHS am 10. März 2022, ab 14:00 – ca. 17:30 Uhr zum Thema «Aktuelle Forschungsprojekte» mit 3 spannenden Referaten über die Projekte «Funktionales MRI», «ADHS und pathologischer Medienkonsum» und «ADHS und die Wirksamkeit von Medikation» sowie parallel laufenden Foren zu aktuellen Fragestellungen aus der Praxis . Auch Nichtmitglieder sind herzlich willkommen. Weitere Informationen folgen auf der Website der SFG ADHS https://www.sfg-adhs.ch/

  • Dritte

Tagung: Das andere ADHS,  7. Mai 2022, 08.30 bis 17.00 Uhr, Fachhochschule Graubünden, Pulvermühlestrasse 57 in Chur, oder online. Weitere Informationen: https://www.sfg-adhs.ch/ oder https://www.fhgr.ch/event/detail/d1eca2fc-1646-ec11-a2de-005056a78021/

 

 

ADHS Aktuell

Editorial

Der zweite Newsletter 2022 ist dem Thema «Weiterentwicklung der IV» gewidmet, die am 1. Januar 2022 in Kraft trat. Die Gesetzesrevision bringt insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene Verbesserungen im Bereich der beruflichen Integration.

Dr. med. Detlev Blocher und Cornelia Siegel, IV-Stelle Kanton Bern, geben eine Übersicht über die neu eingeführten Massnahmen insbesondere für Menschen vom 13. bis zum 25. Lebensjahr und erwähnen auch weitere Neuerungen in der IV. Der Fokus liegt darauf, was unter ADHS-spezifischen Gesichtsunkten für alle Altersgruppen aus versicherungsmedizinischer Sicht zu beachten ist.

Den verschiedenen neuen Instrumenten, die seit der Gesetzesänderung zur Verfügung stehen und insbesondere eine frühe und individuell abgestimmte Begleitung im Übergang von der obligatorischen Schulzeit in eine Berufsausbildung ermöglichen, widmet sich Andrea Lampart, Berufsberaterin SVA Aargau. Sie berücksichtigt dabei insbesondere die Situation von Menschen mit ADHS und thematisiert die Voraussetzungen für eine Unterstützung durch die IV. Das neue Instrumentarium.

Unser Vorstandsmitglied Cecilia Stengård beschäftigt sich mit dem Therapeutenmanual Interaktives Skillstraining für Jugendliche mit Problemen der Gefühlsregulation und legt anschaulich dar, dass dieses Manualinsbesondere auch für die Therapiearbeit mit Jugendlichen mit ADHS wertvolle Impulse bietet.

Im letzten Newsletter stellte Isolde Schaffter-Wieland das neue Buch «EINE KINDHEIT MIT ADHS – Leben mit dem Aufmerksamkeitssyndrom» von Daniela Chirici, einer engagierten Mutter eines Sohnes mit ADHS, vor. Unser Mitglied Dr. Monika Brunsting hat ebenfalls eine Rezension verfasst, die wir Ihnen nicht vorenthalten wollen.

Zum Schluss finden Sie ein paar Veranstaltungshinweise.

Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre und grüssen Sie herzlich.

SFG ADHS, Felicitas Furrer, Geschäftsleiterin

 

Weiterentwicklung der Invalidenversicherung

Neuerungen für Jugendliche und Erwachsene mit ADHS unter besonderer Berücksichtigung versicherungsmedizinischer Aspekte
 

Dr. med. Detlev Blocher, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Teamleiter RAD, IV-Stelle Kanton Bern

Cornelia Siegel, Teamleiterin und stv. Bereichsleiterin Eingliederungsmanagement, IV-Stelle Kanton Bern

Am 01. Januar 2022 erfolgte eine erneute Revision im Bereich der Invalidenversicherung, die als Weiterentwicklung IV (WEIV) das Ziel verfolgt, Jugendliche und junge Erwachsene als auch Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen in der beruflichen Eingliederung noch besser zu unterstützten.

Gerade für junge Menschen in der Altersgruppe vom 13. bis zum 25. Lebensjahr wurden neue Massnahmen geschaffen, die eine erfolgreiche Ausbildung und den Einstieg ins Berufsleben unterstützen sollen.

Folgende Massnahmen stehen dabei im Vordergrund:

  • Ausweitung der Frühinterventionsmassnahmen
  • Integrationsmassnahmen auch für Jugendliche
  • Kostenbeteiligung der IV an kantonalen Brückenangeboten
  • Ausbau von Beratung und Begleitung

Frühinterventionsmassnahmen während der Abklärung des Leistungsanspruchs ermöglichen ein schnelles Unterstützen bei Einschränkung der Ausbildungsfähigkeit bzw. der Leistungsfähigkeit, auch wenn noch nicht geklärt ist, ob ein IV-relevanter Gesundheitsschaden vorliegt. Bislang waren Frühinterventionsmassnahmen für Jugendliche nicht möglich.

Integrationsmassnahmen sind neu auch für invalide oder von Invalidität bedrohte Jugendliche möglich. Diese niederschwellige Massnahme dient dem Training zum Aufbau und zur Stabilisierung der Präsenz und Leistungsfähigkeit in einem ausbildungsnahen Setting. Bei Jugendlichen muss dafür keine Arbeitsunfähigkeit ausgewiesen sein, es reicht die Vermutung einer drohenden Invalidität.

Damit die Berufswahl fundiert getroffen werden kann, wurde der Massnahmenkatalog ausgebaut, um besonders auch Jugendliche, die mehr Zeit für die Berufswahl brauchen, in diesem Prozess adäquat unterstützen zu können.

Zudem kann sich die IV nun mit 1/3 an den Kosten der kantonalen Brückenangebote beteiligen. Diese Kostenbeteiligung ermöglicht es den Anbietern, die verschiedenen Angebote auch für Jugendliche mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen zugänglich zu machen. Diese können so z.B. durch zusätzliches Coaching, Nachhilfe, heilpädagogische Begleitung etc. gezielter unterstützt werden.

Wurde die Berufswahl getroffen, ist aber ein Einstieg in die Ausbildung noch nicht möglich, kann die Leistungs- und Ausbildungsfähigkeit mit einer gezielten Vorbereitung bis zum Ausbildungsbeginn auftrainiert werden.

Konform dem Motto unseres Direktors "Wir sind eine Eingliederungsversicherung!" wird bei den Massnahmen zur erstmaligen beruflichen Ausbildung die frühere Linie fortgesetzt, dass die Ausbildungen klar auf den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet sein sollen. Dies kann nur gelingen, wenn sich dafür Arbeitgeber finden. Der Mehraufwand, der sich bei Jugendlichen mit IV-relevantem Gesundheitsschaden durch die intensivere Betreuung ergibt, kann nun besser abgegolten werden. Alle Jugendlichen mit einem Ausbildungsvertrag erhalten ein Taggeld in Höhe des im Ausbildungsvertrag vereinbarten Lehrlingslohnes. Dieses wird (inklusive der Sozialversicherungsbeiträge) an den Arbeitgeber ausbezahlt, so dass diesem keine Lohnkosten entstehen. Zusätzlich sind weitere Unterstützungsmassnahmen wie z.B. Coaching, Nachhilfe, Lerntherapie möglich.

Am Massnahmenkatalog für Erwachsene mit psychischen Beeinträchtigungen ändert sich grundsätzlich nichts. Die Ausrichtung auf den ersten Arbeitsmarkt bleibt auch hier zentral. Neu ist der Anspruch auf Beratung und Begleitung bis drei Jahre nach Abschluss von Eingliederungsmassnahmen. Dieser soll sicherstellen, dass die versicherte Person und deren Arbeitgeber bei auftretenden Problemen schnell unbürokratisch Unterstützung bekommen.

Verdeutlicht werden können die oben beschriebenen Massnahmen für junge Erwachsene durch die nachfolgend aufgeführte Grafik.

 

 

Unter ADHS-spezifischen Gesichtspunkten ergeben sich für alle Altersgruppen aus versicherungsmedizinischer Sicht die nachfolgenden Anmerkungen.

Relevant ist neben der Darlegung der diagnostischen Einschätzung eines ADHS auch die Beschäftigung mit allfälligen komorbiden psychischen Problembereichen. Zwar haben über 40% der Patientinnen und Patienten mit einem ADHS keine komorbide Störung, dennoch sind es gerade diese komorbiden Auffälligkeiten, die im Eingliederungsprozess für Probleme sorgen. Hier empfiehlt es sich, eventuelle bzw. oft gut mit dem ADHS in Verbindung zu bringende Auffälligkeiten wie eine Affektlabilität, eine Beeinträchtigung der Affektkontrolle oder auch die bekannten Persönlichkeits- und Verhaltensauffälligkeiten klar zu beschreiben und nicht unbedingt eigenständig diagnostisch zu fassen. Gerade bei der Darlegung der ADHS-bedingten Persönlichkeitsfehlentwicklung ist eine umfangreiche Dokumentation und Beschreibung für den Eingliederungsverlauf sehr hilfreich. Dies deshalb, da es zu beurteilen gilt, ob man es mit einem reinen Leistungsversagen aufgrund der Core-Symptomatik zu tun hat oder ob dieses Leistungsversagen mit Charakterproblemen assoziiert ist. Denn mehr als die Hälfte aller psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeiten werden durch Arbeitsplatzkonflikte ausgelöst. Dies fordert auf, frühzeitig den Kontakt mit der IV aufzunehmen. Aber auch der Eingliederungserfolg wird weniger durch die primären Auswirkungen der psychischen Störung bestimmt, sondern vielmehr durch spezifische Persönlichkeits- und Verhaltensauffälligkeiten. Daher sollte also auf typische Problemkonstellationen in der bisherigen Schul-, Ausbildungs- und / oder Arbeitsbiographie fokussiert werden. Dabei spielen neben den vorrangig als schwierig bewerteten Eigenschaften einer ängstlich-vermeidenden und selbstunsicheren Wesensart vor allem emotional instabile und impulsive Muster eine Rolle. Hier kann klar vermutet werden, dass dies zu einem Grossteil Ausdruck einer ADHS-Problematik ist. Mit diesen Angaben kann dann besser beurteilt werden, ob die Auswirkungen allfälliger komorbider Probleme den versicherten Personen sonst vorhandene Ressourcen rauben. Sodann kann dargelegt werden, in welcher Form diese Persönlichkeitsproblematik in den bisherigen und zukünftigen therapeutischen Prozess integriert war bzw. ist. Unabhängig davon können Eingliederungsmassnahmen bei Personen mit einem ADHS nur dann erfolgreich umgesetzt werden, wenn eine kontinuierliche psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung incl. einer Psychopharmakotherapie, sofern angezeigt und umsetzbar, gewährleistet wird.

Empfehlenswert ist, bei den Anträgen an die IV in Bezug auf die berufliche Eingliederung keine spezifischen Massnahmen darzulegen, z. B. in Form einer Umschulung oder einer klaren Festlegung auf eine berufliche Schiene. Dies führt meist zur Ausbildung einer Anspruchshaltung, die sich dann bei einer näheren Abklärung des Falls eventuell auch aus rechtlichen Gründen nicht umsetzen lässt. Sinnvoller ist es, genau darzulegen, wo bei der versicherten Person die Stärken und Schwächen in Bezug auf die Störung, also hier das AHDS, zu verorten sind. Meist geht es beim Thema ADHS nicht um eine vollständige Aufhebung der Leistungsparameter, sondern um eine bedeutsame Einschränkung auf der qualitativen Ebene. So kann dargelegt werden, unter welchen Bedingungen die bereits etablierten Bewältigungsmechanismen noch funktionieren und wann die versicherte Person Mühe bekundete, mit den beruflichen als auch den privaten Anforderungen zurecht zu kommen. Wichtig ist auch zu beschreiben, was der versicherten Person zugemutet werden kann, z. B. in Bezug auf Arbeitszeiten, Intensität von Sozialkontakten, Komplexität der Arbeit etc.

Dies führt zuletzt zur Empfehlung, bei einer erst im Erwachsenenalter nach langjähriger weitgehend regelhafter Erwerbsbiographie diagnostizierten ADHS-Problematik diese besonders umfangreich und klar darzulegen.

Letztlich traten mit der aktuellen Weiterentwicklung auch in anderen Bereichen Veränderungen ein. So wurden im Zusammenhang mit den medizinischen Begutachtungen Massnahmen zur Qualitätssicherung und Transparenz getroffen. Erreicht werden soll dies dadurch, dass bei Begutachtungen eine Tonbandaufnahme mitläuft und zu den Akten genommen wird. Ausserdem müssen von Seiten der IV-Stellen umfangreichere Angaben zu den mit den Begutachtungen betrauten Gutachtern publiziert werden.

Ferner kam es zur Einführung eines sogenannten stufenlosen Rentensystems. Wurden früher die Rente in Abhängigkeit des IV-Grades einer von vier möglichen Rentenstufen zugeordnet, so erfolgt dies jetzt weitgehend kongruent mit dem ermittelten IV-Grad. Aufgrund der notwendigen Übergangsbestimmungen werden beide Systeme noch eine Weile nebeneinander zur Anwendung kommen.

Zu einer Veränderung kam es auch bei der Verordnung über Geburtsgebrechen. Die bei ADHS vorrangig verwendete Ziffer 404 "Angeborene Störungen des Verhaltens bei Kindern ohne Intelligenzminderung mit kumulativem Nachweis von Störungen des Verhaltens, des Antriebs, des Erfassens, der Konzentrations- und/oder der Merkfähigkeit" erfuhr eine gewisse Präzisierung, wobei jedoch keine inhaltliche Änderung stattfand. Weiterhin relevant ist die Diagnosestellung vor Vollendung des 9. Lebensjahrs.

Weiterhin werden bei anerkannten Geburtsgebrechen die Kosten für die Arzneimittel durch die IV übernommen. Mit der neu geschaffenen Geburtsgebrechen-Spezialitätenliste (GG-SL) ändert sich jedoch nichts in Bezug auf die Behandlung bei Personen mit ADHS.

Weiterführende Literatur:

Baer, N., Frick, U., Fasel, T. (2009). Dossieranalyse der Invalidisierungen aus psychischen Gründen. Typologie der Personen, ihrer Erkrankungen, Belastungen und Berentungsverläufe. Bundesamt für Sozialversicherungen, Bern.

Weiterentwicklung der IV – Erweitertes Instrumentarium für Jugendliche und junge Erwachsene im Rahmen der Berufsbildung unter besonderer Berücksichtigung von ADHS

Andrea Lampart, Berufsberaterin, SVA Aargau, Invalidenversicherung

Die Weiterentwicklung des IV-Gesetzes, welche am 01.01.2022 in Kraft trat, hat unter anderem zum Ziel, junge Menschen mit speziellen Bedürfnissen noch adäquater zu unterstützen und eine möglichst nachhaltige berufliche Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt zu erreichen.

Daher wurden verschiedene neue Instrumente geschaffen, die eine frühe und sehr auf die individuelle Situation einer jungen Person abgestimmte Begleitung im Übergang von der obligatorischen Schulzeit in eine Berufsausbildung erlauben.

Meldung und Frühinterventionsmassnahmen

Neu können bereits Jugendliche ab 13 Jahren mit individuellen Leistungen von der IV unterstützt werden. Ihre Eltern, Lehrpersonen oder Ausbildungsverantwortlichen werden als wichtige Schlüsselpersonen eng in die Planung von Begleitmassnahmen einbezogen und beraten.

Frühzeitiges Handeln kann oftmals verhindern, dass sich eine belastende Situation verschlimmert, und sich weitere negative Auswirkungen auf die Gesundheit zeigen.

Ist man als Eltern unsicher, ob eine IV-Anmeldung zielführend und gerechtfertigt ist, kann eine sogenannte «Meldung» gemacht werden. Diese ist im Vergleich zur Anmeldung niederschwelliger und entspricht rechtlich nicht einem offiziellen Gesuch um Unterstützung. Die IV klärt nach dem Eingang einer Meldung in einem telefonischen oder persönlichen Gespräch, ob eine IV-Anmeldung zu empfehlen ist oder ob eine andere Anlaufstelle in der aktuellen Situation besser Hand bieten kann.

Sobald eine IV-Anmeldung eingereicht worden ist, können zeitnah, noch vor der offiziellen Anspruchsprüfung, erste Unterstützungsleistungen – sogenannte Frühinterventionsmassnahmen – finanziert werden, sofern solche unmittelbar notwendig sind. Während der obligatorischen Schulzeit kann das ein Coaching zur Lehrstellensuche oder eine spezialisierte Berufsberatung sein, nach dem Abschluss der obligatorischen Schulzeit sind auch weitere Angebote wie z. B. ein Aufbautraining oder ein Kurs möglich.

Vorbereitungsmassnahmen

Bisher waren öfters Ausbildungsabbrüche zu beobachten, weil keine genügend umfassenden Vorbereitungsmassnahmen zur Verfügung standen und Personen mit ADHS zu jung eine berufliche Ausbildung beginnen mussten. Die Berufswahl kam zu früh – Kompetenzen, welche in einem «Erwachsenen»-Umfeld gefordert sind, konnten noch nicht eingeübt werden. Viele Personen mit einem ausgeprägten ADHS sind mit 15 oder 16 Jahren noch nicht in der Lage, eine berufliche Ausbildung erfolgsversprechend in Angriff zu nehmen. Das Ergebnis: Unzufriedenheit, wenig Motivation für die Ausbildung, viele Überforderungs- und Konfliktsituationen, und schliesslich nicht selten ein Ausbildungsabbruch.

Dank neu geschaffenen Unterstützungsmöglichkeiten kann die IV Jugendliche und junge Erwachsene, die länger Zeit benötigen, um sich in einem Arbeits- oder Ausbildungsumfeld zurecht zu finden, mit passenden Programmen oder im Rahmen von Praktika begleiten. Der Fokus liegt dabei, wenn immer möglich, auf dem ersten Arbeitsmarkt, so dass ein frühzeitiger Kontakt mit den realen Arbeitsbedingungen stattfindet.

Aufbautraining. Fällt es jungen Menschen aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen schwer, ein übliches Tagespensum zu bewältigen, kann die IV bis zu einem Jahr mit einem Aufbau- und Arbeitstraining unterstützen. Dabei steht der Aufbau der Präsenz- und Leistungsfähigkeit im Zentrum. Dazu gehört ein schrittweiser Aufbau des Pensums, aber auch die Förderung von Selbst-, Methoden- und Sozialkompetenzen wie etwa Selbständigkeit, Zuverlässigkeit, Kritikfähigkeit, Selbstorganisation und Teamfähigkeit.

Vorbereitungsmassnahmen in der Berufsberatung. Benötigt eine junge gesundheitlich eingeschränkte Person eine längere und gut strukturierte Explorationsphase in Bezug auf die Berufswahl, bestehen speziell geschaffene Programme, in welchen der Berufsberatungsprozess, Schnuppereinsätze, kleine Praktika sowie Strukturierungshilfen (z. B. via regelmässige Coachings) eingebettet sind. Diese Phase kann bis zu einem Jahr unterstützt werden. Damit erhalten junge Menschen die Möglichkeit, ihrem Tempo entsprechend und mit der individuell notwendigen Unterstützung eine solide und gut abgestützte Berufswahl zu treffen.  Ausbildungserfolg kann so zwar nicht garantiert, die Erfolgswahrscheinlichkeit aber doch erheblich verbessert werden.

Gezielte Vorbereitung vor einer Ausbildung. Ist die Berufswahl getroffen, die oder der angehende Lernende aber behinderungsbedingt noch nicht direkt bereit, eine Ausbildung zu beginnen, können mit Hilfe einer gezielten Vorbereitung die Voraussetzungen für einen gelungenen Ausbildungseinstieg geschaffen werden. Eine solche Vorbereitungszeit findet in der Regel als begleitetes Praktikum im gewählten Berufsfeld, oftmals sogar im zukünftigen Lehrbetrieb statt. Je nach Bedarf können auch schulische Elemente (z. B. Repetition relevanter Schulfächer) Teil dieser Massnahme sein.

Mit diesen Angeboten ist ein schrittweises Herantasten an eine erstmalige berufliche Ausbildung und das Lernen von wichtigen Kompetenzen möglich. Welche Massnahme in der konkreten Situation geeignet ist und welche Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssen entscheidet die zuständige Eingliederungsfachperson aufgrund von Erfahrungswerten sowie Informationen der betroffenen Person und ihrem Umfeld (Eltern, Therapeuten, Lehrer etc.). Bei jedem Störungsbild sind spezifische Punkte zu beachten.

Beispiele von wichtigen Erkenntnissen aus der Eingliederungsarbeit:

  • Bei Personen mit ADHS hängt der Ausbildungserfolg überproportional stark von Beziehungen im Arbeits- und Schulumfeld ab: Verstehe ich mich gut mit meiner Chefin, meinem Lehrer, meinem Coach etc.?
  • Die Einbindung in eine regelmässige psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung bei einer Fachperson mit guten ADHS-Kenntnissen verbessert die Erfolgsaussichten. Schwierige Situationen können rascher und mit weniger Aufwand bewältigt werden.
  • Bestehen bei einer Person mit ADHS spezielle Interessen («Hyperfokus»), ist zu prüfen, ob sich diese in eine realistisch umsetzbare Ausbildung einbetten lassen – damit kann das Potenzial der betreffenden Person eher ausgeschöpft werden und die Motivation bleibt länger hoch. Jedoch ist nicht jedes Spezialinteresse in einer Ausbildung zu finden!
  • Häufige Stolpersteine in der Ausbildung: Drogenkonsum als Selbstmedikation (insbesondere Cannabis), ein mit der Ausbildung nicht kompatibler Schlaf-Wach-Rhythmus, grosse Schwierigkeiten in der Selbstorganisation (Planung der Hausaufgaben, Strukturierung der praktischen Arbeiten, Koordination von Terminen, häufiges Zuspätkommen).

Voraussetzungen für IV-Unterstützung

Doch welche Voraussetzungen muss eine Person mitbringen, um von der IV in einem umfassenderen Mass unterstützt zu werden?

  • Es liegt eine fachärztlich gestellte Diagnose in Form eines Arztberichts vor, die relevante Auswirkungen auf die Berufswahl oder die Ausbildung hat, und
  • Die betroffene Person ist bereit, aktiv mit den Eingliederungsfachpersonen der IV und den Ausbildungsverantwortlichen zusammen zu arbeiten, und sich auf verschiedene Erfahrungen einzulassen. Die IV kann junge Menschen nicht unterstützen, wenn keinerlei Motivation für eine Mitarbeit vorhanden ist.

 

Bei Fragen können sich Betroffene oder Personen ihres Umfeldes an die IV-Stelle des Wohnkantons wenden.

Buchbesprechung

Interaktives Skillstraining für Jugendliche mit Problemen der Gefühlsregulation (DBT-A): Das Therapeutenmanual

Anne Kristin von Auer, Martin Bohus, Schattauer 2017

  

Cecilia Stengard, dipl. psych, Fachpsychologin für Psychotherapie, Vorstandsmitglied der SFG ADHS

Trend: Transdiagnostische Forschungs- und Behandlungsmethoden

Zunehmend wird über transdiagnostische Forschungs- und Behandlungsmethoden diskutiert vgl. z.B. https://www.nimh.nih.gov/research/research-funded-by-nimh/rdoc/about-rdoc

Hier geht der Fokus weg von festgelegten Behandlungsmethoden für einzelne Störungsbilder hin zu Ansätzen die störungsübergreifend eingesetzt werden können. Das Therapiemanual unten ist zwar ursprünglich für Borderline Patienten*Patientinnen entwickelt worden. Im Kern geht es aber um Emotionsregulation und könnte auch in anderen Zusammenhängen, wie z.B. bei ADHS, eingesetzt werden.

Starke Gefühlsschwankungen, (emotionelle) Impulsivität und hohe emotionale Anspannung bis zu Gefühlsausbrüchen sind bekanntlich für viele Betroffene mit ADHS im Alltag eine grosse Herausforderung. Daher ist die Emotionsregulation in der psychotherapeutischen Behandlung sowohl bei Kindern und Jugendlichen als auch Erwachsenen mit ADHS oft ein wichtiger Bestandteil.

Besprechung Manual:

Das Manual basiert auf erprobten Methoden der dialektisch Behavioralen Therapie für Erwachsene (DBT-A) basierend auf der Arbeit von Marsha M. Linehan.

Sprache und Layout der Arbeits- und Übungsblätter sind an Jugendliche angepasst.

Das Manual ist in verschiedene Module eingeteilt:

  • Achtsamkeit
  • Stresstoleranz
  • Umgang mit Gefühlen (Emotionsregulation)
  • zwischenmenschliche Skills
  • Selbstwert
  • den Mittelweg finden
  • Umgang mit Rauschmitteln

Alles Themen, die sicherlich auch bei ADHS immer wieder wichtig sein könnten. Manche Interventionen könnten auch bei anderen Patientengruppen verwendet werden. So könnte beispielsweise die sehr verständliche Beschreibung von verschiedenen Emotionen im Kapitel «Umgang mit Gefühlen» bei manchen Patienten*Patientinnen mit ASS zum Einsatz kommen.

Jedes Modul wird mit einem Theorieteil eingeleitet. Dann folgen die Informations- und Übungsblätter für die Jugendlichen. Diese kann man mit einem Keycode im Internet freischalten und ausdrucken. Auch die Jugendlichen können Online-Zugang zu diesem und weiterem Informationsmaterial zum Selbststudium erhalten. Die Benennung der einzelnen Dateien ist etwas unübersichtlich, so lohnt es sich die Listen mit Dateinamen auszudrucken, um die einzelnen Blätter einfacher zu finden.

In Familien mit ADHS Betroffenen sind häufig die Kommunikationsmuster sehr emotional und impulsiv beladen. Das neu konzipierte Kapitel «den Mittelweg finden» kann daher hilfreich sein. In diesem Teil des Manuals werden die Eltern intensiver miteinbezogen. Das Ziel ist die gegenseitige Akzeptanz zu stärken. Es sollen Kompetenzen zur Selbststeuerung vermittelt werden. Die Familienmitglieder werden Wege, wie Veränderung schaffen, gezeigt und Informationen zu Verstärkerprinzipen vermittelt.

Wichtig für viele ADHS Betroffene ist sicherlich das ebenfalls neu konzipierte Kapitel über «Umgang mit Rauschmitteln». Eingangs wird eruiert, ob überhaupt ein schädlicher Konsum resp. eine Abhängigkeit besteht. Im Modul zum Rauschmittel wird die Metapher «Surfing» verwendet. Die Jugendlichen werden angeleitet sich ein stabiles Surfbrett (Skills) zu gestalten, welches sie über die Craving-Wellen trägt. Sie lernen Warnzeichen zu erkennen. «Die drei Köpfe» der Sucht werden vorgestellt, schliesslich wird die Rückfallprophylaxe eingeführt.

Zusammengefasst ist das Manual eine Schatztruhe mit vielen durchdachten und zudem erprobten Interventionen, die störungsübergreifend auch bei Jugendlichen mit ADHS oder anderen Patientengruppen mit Schwierigkeiten bei der Emotionsregulation zum Einsatz kommen können. Didaktisch ist es den Autoren*Autorinnen gelungen auch für Therapeuten*Therapeutinnen mit weniger Erfahrung gute theoretische Hintergründe, aber auch konkrete Hinweise, worauf bei der Umsetzung zu achten ist, zu vermitteln.

 

EINE KINDHEIT MIT ADHS – Leben mit dem Aufmerksamkeitssyndrom

Daniela Chirici, hogrefe, Fr. 28.90

 

In Ergänzung zur Buchbesprechung von Isolde Schaffter-Wieland, die im letzten Newsletter abgedruckt war, folgt die Rezension für den Verlag von:

Dr. phil. Monika Brunsting, Fachpsychologin für Psychotherapie, Sonderpädagogin

Während 10 Jahren beschrieb Daniela Chirici das Leben mit ihrem Sohn Killian sehr eindrücklich in der «elpost» (Zeitschrift der Elternvereinigung für Kinder mit POS). Wir erfahren, welches Killians Sorgen und Nöte, die seiner Familie und auch die seiner Schulen waren. Es ist eine berührende Lektüre, bei der man mehr erfahren kann als bei der Lektüre vieler theoretischer Bücher.

Killians Psychotherapeut Roland Abegglen und Verena Leu, die frühere Redakteurin der «elpost», geben in ihrem Geleitwort und in ihrem eigenen Kapitel wichtige fachliche Informationen weiter. «Psychotherapie kann keine Wunder bewirken, aber sie ist oft in der Lage, wichtige Impulse zu liefern, um Menschen dabei zu unterstützen, resilienter zu werden. ….auch Killian hat schrittweise gelernt, seine Emotionen zu bändigen und sein impulsives Sozialverhalten besser zu bremsen», meint Killians Psychotherapeut (S. 78), der auch gleich die angewandte Therapiemethode (kognitive Verhaltenstherapie) sehr anschaulich beschreibt.

Wer noch nicht viel weiss über ADHS, weiss nach der Lektüre nicht nur mehr, sondern kann auch emotional verstehen, wie es sich anfühlt auf diesem Weg als betroffener oder als begleitender Mensch unterwegs zu sein. Wer schon viel weiss, wird beeindruckt sein durch die Lebendigkeit und die Emotionalität, die sich hinter dem Wissen verbirgt. Wer noch nicht viel weiss, wird mehr wissen und besser verstehen.

Gerne empfehle ich Eltern und Fachpersonen das schlanke Büchlein mit den vielen berührenden Texten und den Fotos aus dem Familienalbum. Wer immer mit betroffenen Kindern lebt oder arbeitet, kann damit den Alltag besser verstehen und meistern.

 

Veranstaltungshinweise

  • Veranstaltung der SFG ADHS
    Voranzeige: 9. März 2023, 14.00 - ca. 16.30 Uhr, Tagung mit anschliessender Mitgliederversammlung in Bern zum Thema «Transition» (Übergang vom Jugendlichen- ins Erwachsenenalter). Die SFG ADHS freut sich, dass sie für diesen Anlass zwei ausgewiesene Experten gewinnen konnte, den international bekannten Prof. Dr. Swaranpreet Singh, Universität Warwick, UK, sowie Dr. med. Stephan Kupferschmid, Chefarzt Adoleszentenpsychiatrie, Integrierte Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland.

    Auch Nichtmitglieder sind herzlich willkommen.
    Weitere Informationen werden Sie zu gegebener Zeit auf unserer Website www.sfg-adhs.ch finden.
  • Veranstaltungen Dritter
    • Berner Arbeitsgruppe ADHS, 10. November 2022, 16:00 - 17:30 Uhr, Bern
      ADHS und mediale Süchte
    • AG ADHS, 23. - 26. März 2023, Hamburg, Internationaler Fachkongress ADHS – weiblich

Weitere Informationen zu den Veranstaltungen finden Sie auf der Website der SFG ADHS www.sfg-adhs.ch