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 Editorial

 
Im aktuellen Newsletter gibt es Spannendes zu entdecken:
  • Isolde Schaffter-Wieland beleuchtet aus verschiedenen Blickwinkeln, was eine Mutterschaft für ADHS-betroffene Frauen bedeutet und wie Fachpersonen ihre Klientinnen unterstützen können;
  • Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund gehen in ihrem Artikel „Was wir über Konzentration und Aufmerksamkeit wissen müssen“ der Frage auf den Grund, was sich hinter diesen Fähigkeiten verbirgt, wie diese mit unterschiedlichen Lern- und Leistungsproblemen zusammenhängen, und ob sie sich trainieren lassen;
  • Dr. med. Barbara Doll zeigt anhand eines Fallberichts dreier Geschwister mit ADD auf, inwiefern qEEG bei der Auswahl einer adäquaten Stimulanzienbehandlung helfen kann;
  • Aktuelle Veranstaltungshinweise hat Felicitas Furrer Iseli für Sie zusammengestellt.
Herzliche Grüsse,
Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund
 

  ADHS und Mutterschaft: Achterbahn der Gefühle

  Isolde Schaffter-Wieland

 
Über die ADHS wurde in den letzten Jahrzehnten sehr viel geforscht, vorwiegend hinsichtlich des Kindes- und Jugendalters. Da die Diagnose­stel­lung für Erwachsene noch verhältnismässig jung ist, erstaunt es nicht, dass über die Auswirkungen während der Schwangerschaft und Stillzeit fast keine Erkenntnisse vorliegen. Vor allem, was die Medikation der betroffenen Frauen als werdende oder stillende Mütter anbetrifft. Dies war der Grund, dass ich mich als ADHS-Coach mit dieser Thematik intensiver auseinandersetzte.
 
In der Frühphase der Schwangerschaft wird von einer Stimulanzien-Einnahme abge­raten. Doch wie steht’s danach und während der Stillzeit? Auch dann gilt in Fachkrei­sen offiziell ein klares Nein.
Der deutsche ADHS-Spezialist und Mediziner Martin Winkler schreibt: „Sorgfältigere Untersuchungen zur Auswirkung einer Methylphenidat-Therapie bei Schwangeren sind selten. In einer Studie von insgesamt 3082 Müttern wurden insgesamt 11 Frauen identifiziert, die Methylphenidat eingenommen hatten. Bei keinem ihrer Kinder wurden Auffälligkeiten berichtet. In einer weiteren Studiengruppe wurde bei einem von 13 Kindern ein Herzfehler gefunden (wobei nicht klar ist, ob ein Zusam­men­hang mit der Medikamenteneinnahme besteht).
Ein erhebliches Risiko stellt jedoch der Missbrauch von Stimulanzien (z.B. intrave­nöse Gabe von Methylphenidat) dar. Hier sind Missbildungen bekannt. Auch bei der Gabe von Amphetaminen in missbräuchlichen Dosierungen ist mit einem Risiko für das Ungeborene zu rechnen.“ (Quelle: web4health.de)
 
Da ADHS-betroffene Frauen im Vergleich häufiger ungeplant schwanger werden (Pille vergessen, ungeschützter Sexualkontakt), kommt es zwangsläufig vor, dass zum Zeitpunkt der noch nicht festgestellten Schwangerschaft Stimulanzien oder Antidepressiva eingenommen werden. Das Absetzen der Medikation kann für einzelne Frauen zur Herausforderung werden, vor allem, wenn sie aufgrund von Komorbiditäten mit weiteren Psychopharmaka behandelt werden. In diesem Falle ist gemäss Dr. Dominique Eich (PUK Zürich) eine achtsame und individuelle Beratung der betroffenen Schwangeren zwingend notwendig.
Das Forschungsinstitut der Berliner Charité untersucht gezielt die Auswirkungen von Medikamenten auf Schwangere und Stillende – und ist mit einem online-Service auch für Hebammen zugänglich (www.embryotox.de). Nachfolgende Informationen sind dieser Homepage entnommen:
 
Planung einer Therapie oder Planung einer Schwangerschaft unter Therapie: Eine Neueinstellung bzw. eine Therapiefortsetzung in der Schwangerschaft sollte streng und kritisch überprüft werden.
Konsequenzen nach Anwendung in der Schwangerschaft: Bei Exposition im 1. Trimenon sollte eine sonographische Feindiagnostik zur Bestätigung einer unauffälli­gen fetalen Entwicklung angeboten werden. Sorgfältige Schwangerschaftsüber­wachung und engmaschige psychiatrische Kontakte, um rechtzeitig Krisen bei der Mutter und Entwicklungskomplikationen beim Fötus (Frühgeburtsbestrebungen, Wachstumsretardierung) begegnen zu können. In den Tagen nach der Geburt sollte auf Anpassungsstörungen beim Kind geachtet werden.
 
Wie steht es mit dem Stillen? Müssen Mütter darauf verzichten, wenn sie für die Alltagsbewältigung auf die Unterstützung durch ein Medikament angewiesen sind?
 
Embryotox.de macht folgende Angaben bezüglich Muttermilch und Methylphenidat:
Pharmakokinetik: HWZ: 2-4 h, Metabolite: 7 h; Proteinbindung: 15%; molare Masse: 269; relative Dosis (Anteil an der gewichtsbezogenen Tagesdosis der Mutter, den ein vollgestillter Säugling pro Kg seines Körpergewichts in 24 Stunden mit der Milch erhält): 0,2-0,9%; M/P-Quotient (Konzentration des Medikaments in der Milch geteilt durch die Konzentration des Medikaments im mütterlichen Plasma): 2,8; orale Bioverfügbarkeit: 95%. Kein Nachweis von Methylphenidat im Serum eines gestillten Kindes! Es liegen keine Hinweise auf klinische Auffälligkeiten bei den gestillten Kindern vor, allerdings ist die Datenlage unzureichend. Empfehlung: Unter Vorbehalt und bei Monotherapie ist Stillen bei guter Beobachtung des Kindes akzeptabel.
Mutter werden: wunderschön – Mutter sein: erschöpfend
Doris Ryffel-Rawak, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, hat in ihrem Buch „ADHS bei Frauen – den Gefühlen ausgeliefert“ die Schicksale von 16 Frauen erzählt und kommentiert. Darin hält sie fest, dass die Schwangerschaft für ADHS-betroffene Frauen oft die beste Zeit ihres Lebens sei. „Wenn es möglich wäre, möchte ich immer schwanger sein. Dann bin ich ausgeglichen, kann mich organisieren, ich packe alles an, nichts bleibt liegen und ich fühle mich rundherum wohl“, schildert eine Patientin. Gleichzeitig beschreibt die Autorin eine andere Frau, die Zwillinge zur Welt brachte. Sie stillte diese während eines halben Jahres und es schien, als hätten sich die ADHS-Symptome verflüchtigt. Zwei Monate nach dem Abstillen kehrten jedoch Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen sowie ihre mangelhafte Organisationsfähigkeit zurück.
Diese Aussagen decken sich mit den Erfahrungen meiner Klientinnen und untermauern auch den Einfluss der Hormone.
 
Einblick ins Gefühlserleben von ADHS-betroffenen Personen
Erzählen von einer ADHS betroffene Personen von emotionalen Überreaktionen oder unerklärlichen Stimmungsschwankungen, so betrifft dies häufig beide Geschlechter. Auch was impulsive Gefühlsausbrüche oder die Schwierigkeit anbetrifft, bei Frust oder Wut die Kontrolle zu bewahren. Die mangelhafte Affektkontrolle ist jedoch nicht das einzige Symptom, das in Partnerschaften oft zum Bruch führt. Auch die enorme Herausforderung, die Gefühlsbalance zwischen Hoch und Tief zu finden, wirkt sich auf die Betroffenen aus. Ihr emotionales Innenleben ist komplex und ihre Gefühlswelt geprägt von ihrer Reizoffenheit - sie empfangen Sinneseindrücke wie etwa Bilder, Klänge, Düfte viel stärker als andere. Sie haben oft eine hohe Sensibili­tät für Stimmungen und Schwingungen anderer Personen, aber es fällt ihnen zuwei­len schwer, diese einzuordnen oder zu deuten. Was einerseits nach einer Gabe klingt, ist andererseits auch eine Belastung. Besonders dann, wenn zu viele Reize den Betroffenen überfluten. Freude oder Leid werden intensiv erlebt. Mit der Geburt eines Kindes und seiner Pflege gerät die Mutter also förmlich in eine Achterbahn der Gefühle.
 
Mit welchen Problemen können Fachpersonen konfrontiert werden?
Eine von ADHS betroffene Mutter ist mit ihren Alltags-Aufgaben rasch überfordert. Sie versucht, gegenüber ihrem Kind alle Pflichten perfekt zu erfüllen, gerät ständig in Zeitnot, stellt ihre eige­nen Bedürfnisse hinten an, ist verunsichert, zweifelt an ihren Fähigkeiten oder leidet unter einem starken Baby Blues. Falls noch andere Kinder da sind, kann sich aus der ständi­­gen Überforderung eine Erschöpfungsdepression entwickeln. Insbesondere „Schreikinder“ bringen diese Mütter an ihre Grenzen.
Die Beziehung zum Kindsvater leidet unter der Belastung. In der Regel hat wohl jede Mutter ihre Alltagsschwierigkeiten, aber nicht in einem Ausmass, wie dies bei ADHS-betroffenen Frauen der Fall sein kann.
 
Forscher aus den USA haben das Erziehungsverhalten von Müttern mit ADHS untersucht und festgestellt, dass sie bezüglich Organisation, Planung, Aufmerksam­keit, Absprachen, Gefühls- und Impulskontrolle für ihre ebenfalls betroffenen Kinder unter Umständen keine Vorbildwirkung haben können und der Nachwuchs weniger gut lernt, sich selbst zu steuern. Aufgrund dieser Erkenntnisse wurde den Müttern ein spezielles Training angeboten, das sich in seiner Wirkung als aussichtsreich erwies. Dies wiederum weist auf die Bedeutung von Psychoedukation oder Coaching hin.
 
So können begleitende Fachpersonen Mütter unterstützen
  • Primär gilt es, Druck abzubauen und Verständnis für die Situation zu entwickeln und zu zeigen.
  • Gemeinsame Gespräche einbauen, in denen die Mutter ihre Bedürfnisse und Befürchtungen kommunizieren darf.
  • Einen Wochenplan aufstellen und gut sichtbar aufhängen (z.B. Magnettafel), damit die Mutter zwischen der „Fremdbestimmung“ durch den Säugling auch feste Tagesstrukturen hat.
  • Einen Terminkalender führen, damit wichtige Termine nicht vergessen gehen.
  • Wenn Sie Überforderung wahrnehmen, ist der Aufbau eines entlasten­den Netzes sinnvoll. Abklären, ob dies innerhalb der Familie möglich ist. Ansonsten aufsuchende Sozial- oder Familienbegleitung organisie­ren.
 
Isolde Schaffter-Wieland (1955), verheiratet und Mutter von zwei Kindern, ADHS- und Beziehungs-Coaching, Sozialbegleitungen, ILP-Paartherapeutin, Medienverantwortliche elpos Schweiz, Mitglied sfg adhs
 

  Was wir über Konzentration und Aufmerksamkeit wissen müssen

  Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund

 
Aufmerksamkeit – was ist das eigentlich?
Aufmerksamkeit ist eine Fähigkeit. Wie gut sich diese Fähigkeit entwickelt, hängt einerseits von bestimmten Genen ab, aber auch  von Erfahrungen und der Lerngeschichte des Menschen. Wenn diese Fähigkeit gut ausgebildet ist, gelingt es uns besser:
  • einzelne Reize aus der Umwelt zu filtern
  • uns bestimmten Dingen oder Inhalten zuzuwenden
  • Ablenkungen auszublenden.
 
Aufmerksamkeit und Konzentration: ein und dasselbe?
Konzentration ist nur ein Teilbereich von Aufmerksamkeit. Konzentriert ist, wer sich über einen längeren Zeitraum auf eine begrenzte Aufgabe oder einen Gegenstand fokussieren kann. Im Großraumbüro konzentrieren wir uns so gut wie möglich auf den Projektantrag, den wir prüfen möchten, und versuchen dabei, uns nicht von den Gesprächen, klingelnden Telefonen und vorbeilaufenden Arbeitskollegen ablenken zu lassen. Ein Grundschulkind am Schreibtisch vertieft sich ganz in das Rechenblatt und widersteht dabei dem Wunsch, mit den Spielsachen zu spielen, die überall in seinem Zimmer verteilt sind und ihm ins Auge stechen. Diese Form der Aufmerksamkeit hat in den letzten Jahren massiv an Bedeutung gewonnen. Ablenkungen lauern überall. Die Fähigkeit, den eigenen Fokus bewusst zu steuern, nicht ständig zwischen Tätigkeiten hin- und her zu hüpfen und sich nicht dauernd unterbrechen zu lassen, ist in unserer hektischen, modernen Welt unerlässlich geworden.
 
Gleichzeitig ist ein anderer Bereich von Aufmerksamkeit in den Hintergrund gerückt: die Vigilanz, auch allgemeine Wachsamkeit genannt. Gemeint ist die Bereitschaft, genau wahrzunehmen und prompt zu reagieren. Diese Form der Aufmerksamkeit war in früheren Zeiten überlebenswichtig: als Jäger und Sammler galt es, stets auf der Hut zu sein – Vorteile hatte, wem jedes Rascheln im Gebüsch, jede Bewegung im Augenwinkel, jede verwischte Fährte im Wald auffiel. Mithilfe der Vigilanz gelang es unseren Vorfahren, Beutetiere aufzuspüren und nahenden Feinden rechtzeitig die Stirn zu bieten.
 
Kinder mit klassischen Aufmerksamkeitsproblemen sind oftmals besonders vigilant: sie sind sehr reizoffen – egal ob Bilder, Geräusche oder Gerüche; alle Eindrücke werden aufgesaugt wie ein trockener Schwamm. Gleichzeitig haben sie oftmals Mühe mit der Konzentration: ihr Fokus lässt sich vom Geschehen treiben und verlagert sich dorthin, „wo etwas los ist“. Aufgaben können kaum zu Ende gebracht werden, weil mit allen Ablenkungen mitgeschwungen wird.
 
Welche Faktoren beeinflussen die Aufmerksamkeitsleistung?
Viele Forscher/innen gehen der Frage nach, welche Bedingungen die Aufmerksamkeit beeinflussen. Typischerweise zollen wir Menschen großen, farbigen Reizen, die sich bewegen mehr Beachtung. Dies erklärt auch, warum bereits Babys wie hypnotisiert an einem laufenden Fernseher kleben. Auch Dingen, die neu für uns sind, uns persönlich betreffen oder emotional anrühren, wenden wir uns eher zu. Vielleicht verfolgen auch Sie manchmal gebannt die rührseligen Bilder, Werbevideos und Geschichten, die auf Facebook & Co. kursieren. Zuletzt orientieren wir uns an unseren Mitmenschen: So fokussieren wir eher auf Geschehnisse, Bilder oder Inhalte, die von anderen mit Neugier aufgenommen werden. Man denke hierbei an die kilometerlangen „Gaffer-Schlangen“ nach Unfällen auf der Autobahn.
 
Auf der anderen Seite fällt es uns schwerer, uns zu fokussieren, wenn das Material nicht interessant ist oder zu viele Reize auf einmal auf uns einströmen. Nachteilig wirken sich auch emotionale Ablenkungen aus, beispielsweise ein laufender TV oder eine Radiosendung, Textnachrichten, Gespräche im Nebenraum oder Gegenstände, die in uns den Wunsch auslösen, zu spielen oder etwas anderes zu tun. Auch Müdigkeit, Hunger oder Übersättigung und körperlichen Bedingungen (hormonelle Schwankungen, Mangelzustände, Verletzungen des Nervensystems) wird ein negativer Effekt zugeschrieben. Zudem konnte die klinische Psychologie nachweisen, dass Einschränkungen in der Aufmerksamkeitsleistung sich auch bei psychischen Beeinträchtigungen erkennen lassen, z.B. bei Dauerstress, ADHS, Depressionen oder Ängsten.
 
Aufmerksamkeit – ein Zusammenspiel mehrerer Gehirnnetzwerke
Das menschliche Gehirn verfügt über drei große Aufmerksamkeitssysteme bzw. –netzwerke, die jeweils für unterschiedliche Aufgaben zuständig sind (z.B. Petersen & Posner, 2012).
Sehen wir uns die drei Aufmerksamkeitsnetzwerke im Detail an:
  • Das „Alerting“-Netzwerk
  • Das Orientierungsnetzwerk
  • Die exekutive Kontrolle
Wie Sie im Laufe dieses Artikels lesen werden, sind Auffälligkeiten in diesen Netzwerken mit spezifischen Aufmerksamkeitsproblemen verbunden.
 
„Ich bin wach und bereit!“ - Das Alerting-Netzwerk
Das sogenannte „Alerting“-Netzwerk hat die Aufgabe, uns Menschen dauerhaft in einem wachen, geistig offenen, konzentrierten Zustand zu halten. Es bereitet den Körper darauf vor, Informationen aufzunehmen und Warnsignale frühzeitig auszumachen. Wir können uns dieses Netzwerk wie einen großen Radarschirm vorstellen, der Eindrücke aus der Umgebung einfängt. Interessanterweise zeigt die Forschung, dass dieser Radarschirm offenbar einem gewissen Arbeitsplan folgt. Denn wie gut dieser funktioniert, hängt auch von der Tageszeit ab. Am frühen Morgen und am späten Abend bzw. in der Nacht kommt es zu verzögerten Reaktionszeiten. In diesen Phasen passieren auch deutlich öfter Verkehrs- oder Arbeitsunfälle – Momente der Unachtsamkeit nehmen zu. Aber nicht nur die Tageszeit, sondern auch Ängste und Stress können dem Alerting-Netzwerk einen Strich durch die Rechnung machen (z.B. Pilar Pacheco-Unguetti et al. 2010), wie das folgende Beispiel zeigt:
 
Sina* kann nicht lernen
Sina wird von ihren Eltern als ein fröhliches, gesprächiges, zugewandtes Kind beschrieben. Seit Beginn des neuen Schuljahres ist das Mädchen jedoch wie ausgewechselt: sorgenvoll beobachten die Eltern, wie sich ihre Tochter mehr und mehr zurückzieht und kaum mehr ein Wort redet. Sina hütet ein Geheimnis: sie wird in der Schule gemobbt. Fast jede ihrer Wortmeldungen quittieren die Mitschüler/innen mit einem fiesen Kommentar oder hämischen Lachen. Auch die Pausen sind zur Tortur geworden - Sina bleibt nichts anderes übrig, als sich auf dem WC zu verstecken. Durch viele Übergriffe gezeichnet achtet Sina mittlerweile penibel darauf, ihren Nachhauseweg so zu organisieren, dass sie ihren Widersachern ja nicht über den Weg läuft. Die Schule ist kein sicherer Ort mehr. Die tägliche Angst vor neuen Übergriffen bestimmt ihren Alltag. Angetrieben von dieser Angst arbeitet ihr innerer Radarschirm unter Hochdruck. Jedes Gemurmel im Klassenzimmer, jede Gesichtsregung eines Mitschülers, jede Bewegung hinter ihrem Rücken wird angstvoll registriert. Das Ziel: nicht eiskalt überrascht zu werden. Sinas Körper befindet sich im Überlebensmodus, ihr „Alerting-Netzwerk“ arbeitet ohne Unterlass. Es sucht die Umwelt permanent nach möglichen Gefahrenquellen ab. In diesem Zustand wird es für Sina unmöglich, die Inhalte des Unterrichts aufzunehmen und sich mit dem Stoff auseinanderzusetzen.
 
Solange die Schule kein sicherer Ort für Sina ist, wird sich ihr Gehirn in andauernder Alarmbereitschaft befinden. In diesem Notfallmodus wird ihr Geist von allem in Beschlag genommen, das prinzipiell auf eine Gefahr hindeuten könnte (jeder Blick, jedes Räuspern, jede Bewegung der Klassenkameraden). Daher bekommt sie kaum mehr etwas vom Unterricht mit, die Noten gehen in den Keller. Aber Sina benötigt keine Nachhilfe, kein Lerncoaching und kein Verhaltenstraining. Sie benötigt eine Schule, die Verantwortung übernimmt, das Mobbing auflöst und die Klasse zu einem Ort zu macht, an dem sich alle Schüler/innen angstfrei bewegen können. Denn nur wenn sich Sina sicher fühlt, kann sie sich wieder auf den Unterricht konzentrieren. Nur dann wird das Gehirn in einen aufnahmebereiten Zustand versetzt. Kurzum: Ihr Radarschirm braucht die Rückversicherung, dass keine Gefahr mehr droht und er sich „guten Gewissens“ wieder inhaltlichen Belangen zuwenden kann.
 
(Hinweis für Fachpersonen: Ein Blick ins Gehirn zeigt, dass das Alerting-Netzwerk vorwiegend durch den Botenstoff Noradrenalin moduliert wird. Involvierte Hirnbereiche sind der Locus Coeruleus, der frontale Cortex, parietale Bereiche, der rechte cerebrale Kortex sowie der Thalamus.)
 
„Was ist denn hier los?!“- Das Orientierungsnetzwerk
Das Orientierungsnetzwerk organisiert alle Informationen, die über unsere Sinneskanäle auf uns einströmen. Blitzschnell nimmt es eine erste Bewertung vor: „Wo kommt der Reiz her? Handelt es sich um ein Bild, ein Geräusch, eine Körperempfindung, einen Geruch oder Geschmack? Ist diese Information wichtig oder unwichtig? Soll ich mich ihr zuwenden?“ Diese Bewertung läuft unbewusst und innert Sekundenbruchteilen ab. Vielleicht erinnern Sie sich an einen Moment, in dem Sie ein lautes Geräusch hörten und sich beinahe instinktiv umdrehten, um nachzusehen, was los ist. Dies ist eine typische Reaktion, die vom Orientierungsnetzwerk gesteuert wird. Es entscheidet also mitunter darüber, wohin sich unser Aufmerksamkeitsfokus verschiebt.
(Hinweis für Fachpersonen: Das Orientierungsnetzwerk wird hauptsächlich über den Botenstoff Acetylcholin gesteuert. Beteiligt sind cholinerge Systeme, die ihren Ursprung im basalen Vorderhirn haben sowie parietale Bereiche).
 
Sandra* vermasselt die Mathe-Prüfung
Nach einer Lehre und mehreren Berufsjahren als Altenpflegerin konzentrierte sich Sandra vollends auf ihre beiden Kinder. Nun, da ihre Töchter flügge geworden waren, flackerte in ihr der langgehegte Wunsch auf, auf ihre „alten Tage“ (wie sie es selbst nannte) noch zu studieren. Bereits im ersten Studienjahr suchte Sandra aufgrund massiver Prüfungsängste einen Lerncoach auf. Die Statistikprüfungen machten ihr das Leben schwer. Schon Wochen vor den Klausuren fühlte sie sich wie gelähmt. Die Angst kroch ihr in die Glieder, sie kam sich „alt, dumm und überfordert“ vor und an der Prüfung selbst „ging gar nichts mehr“. Unter deutlicher Anspannung erzählte sie, wie ihr Sorgenkarussell kaum jemals still steht: „Was ist, wenn ich durchfalle? Was ist, wenn mir plötzlich nichts mehr einfällt? Bist du eigentlich dumm, wieso kapierst du das denn nicht?! Jetzt konzentriere dich endlich!“
 
Sandra selbst bezeichnete die Angst vor Mathematik als ihren „wohlbekannten Begleiter“. Schon in der Schule war das Rechnen ihr Problem- und Panikfach gewesen. Die leistungsorientierte, strenge Mutter habe oft stundenlang mit ihr gelernt, bei schlechten Noten gab es nicht selten Schimpftiraden und eine Ohrfeige. Noch jetzt, viele Jahre später, zuckt Sandra zusammen, wenn sie diese Erlebnisse schildert.
 
An der Universität setzen sich die Prüfungsschwierigkeiten fort. Das Austeilen der Prüfungsbögen, das Rascheln der Blätter beim Umdrehen, das Knirschen der Kugelschreiber von fleißig schreibenden Kommilitonen erinnern sie an früher, an ihr Versagen, ihre Unzulänglichkeit. Ihr Herz hämmert wie verrückt, die Hände zittern, am ganzen Körper bricht ihr der Schweiß aus. Ihre Gedanken an das Versagen und ihre Körperempfindungen drängen sich derart in den Fokus, dass Sandra kaum mehr zur Prüfung vordringen kann. So mit sich selbst beschäftigt gelingt es ihr schlichtweg nicht mehr, die Aufgabenstellungen in Ruhe zu lesen und einen Lösungsweg abzuleiten. Sandras Alerting- und Orientierungsnetzwerk laufen auf Hochtouren. Sie fühlt sich gestresst und angespannt. Ihr Fokus richtet sich unbewusst und blitzschnell auf ihre Körperempfindungen. Die kreisenden Gedanken, das pochende Herz, die zitternden Hände werden als störend empfunden. Kognitive Kapazität, um eine Rechenaufgabe zu lösen, ist kaum noch vorhanden.
 
Im Lerncoaching geht es auch darum, Sandra aus dem „Notfallmodus“ herauszuführen und sie trotz Angst wieder handlungsfähig zu machen. In einem ersten Schritt setzt sich Sandra mit ihren Ängsten auseinander. Die körperlichen Symptome stehen dabei im Zentrum. Gemeinsam mit dem Lerncoach erarbeitet Sandra, welchen Nutzen Ängste haben und welche körperlichen Reaktionen normal sind. Nach und nach gelingt es Sandra, ihre Körperempfindungen anders einzuordnen und sich davon nicht sofort verrückt machen zu lassen. Während sie früher oftmals dachte „Oh Gott, mein Herz rast wie verrückt. Ich falle gleich um!“, konnte sie sich nun sagen „Ja, du bist nervös, dein Herz klopft auch. Das ist o.k., das gehört dazu.“ Auch die blockierenden Gedanken wie „Was ist, wenn ich es nicht schaffe?!“ werden genauer unter die Lupe genommen. Angeleitet durch den Lerncoach beginnt Sandra, Überzeugungen, die ihre Ängste nähren, zu hinterfragen. Gleichzeitig lernt sie, freundlicher und ermutigender mit sich selbst umzugehen. Mit einer Reihe von Vorstellungsübungen wird schließlich die Bewältigung der Prüfungssituation trainiert. Mit zunehmender Übung merkt Sandra, wie ihre Ängste abnehmen. Es tritt ein Gewöhnungseffekt ein. Im Verlauf des Lerncoachings löst der Gedanke an die Prüfungssituation bereits deutlich weniger Nervosität aus. Sandra kann sich dadurch besser auf das Lernen konzentrieren und ihr Wissen in der Prüfung besser abrufen. Diese Kombination aus Entspannung, Neubewertung und Gewöhnung eignet sich dazu, die Aktivität des Alerting- und Orientierungsnetzwerks zu regulieren. Vereinfacht gesagt wird das Gehirn dabei unterstützt, die unbewusste Frage: „Was ist los?! Ist das gefährlich?!“ seltener zu stellen und wenn eine ruhestiftende Antwort bereit zu haben.
 
„Alles nach Plan!“ - Die Exekutive Kontrolle
Würden wir alle Eindrücke ungefiltert verarbeiten und darauf reagieren, wäre unser Gehirn völlig überlastet. Damit dies nicht geschieht, hat uns die Natur mit einem Netzwerk ausgestattet, das Prioritäten setzt und zwischen verschiedenen Hirnbereichen vermittelt. Das Netzwerk der exekutiven Kontrolle kommt nämlich immer dann zum Zug, wenn ein Reiz die Bewusstseinsschwelle übersteigt. Es hilft uns dabei, Ablenkendes bewusst auszublenden und die Aufmerksamkeit willentlich zu lenken. Dieses Aufmerksamkeitssystem ist zudem für das Kurzzeitgedächtnis, das Schmieden von Plänen, für Aufgabenwechsel und Flexibilität im Denken und Handeln verantwortlich.
 
(Hinweis für Fachpersonen: Die exekutive Kontrolle entwickelt sich stark von der Babyzeit über die Kindheit hinweg. So können Gedanken, Gefühle und das eigene Verhalten immer besser wahrgenommen und gesteuert werden. Kennzeichnend für dieses Netzwerk sind die Botenstoffe Dopamin und Serotonin. Zu den involvierten Hirnarealen gehören der anteriore cinguläre Cortex, der laterale präfrontale Kortex sowie die Basalganglien.)
 
Ramon* ist chaotisch
Ramon besucht die fünfte Klasse. Bereits im Kindergarten war er durch seine verträumte, chaotische Art aufgefallen. Lange Zeit bereitete es ihm große Schwierigkeiten, Handlungsabläufe zu lernen. Während sein jüngerer Bruder sich bereits selbstständig anziehen, waschen, kämmen und die Zähne putzen konnte, brauchte Ramon dafür die ständige Begleitung von Mutter oder Vater. Ließ man ihn damit alleine, saß er überfordert vor dem Berg von Kleidungsstücken oder spielte gedankenverloren mit dem Wasserhahn und der Zahnpastatube. Trotz der konsequenten Haltung der Eltern gleicht das Kinderzimmer innert kürzester Zeit wieder einem Schlachtfeld. Auch die Lehrpersonen melden zurück, dass Ramon Schwierigkeiten mit der Organisation hat. Er vergesse häufig die Hausaufgaben, verliere Schulbücher und Materialien und könne sich nur schwer an Abgabetermine halten. Auch bei relativ einfachen Aufgaben hat er Mühe, Prioritäten zu setzen und zu entscheiden, was er zuerst und was er später erledigen möchte. Oftmals fühlt er sich im Alltag „völlig erschlagen“ und zieht sich in seine Traumwelt zurück.
 
In der vierten Klasse wurde bei Ramon eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung vom unaufmerksamen Typ diagnostiziert. Die Forschung zeigt, dass diese Kinder besonders häufig mit Einschränkungen in der exekutiven Kontrolle zu kämpfen haben. Typischerweise gelingt es ihnen schlechter als Gleichaltrigen:
  • Die Aufmerksamkeit bewusst zu steuern
  • Unwichtiges auszublenden
  • Informationen im Kurzzeitgedächtnis zu behalten
  • Prioritäten zu setzen und Pläne zu schmieden
  • Handlungsabsichten zu formulieren und Zwischenschritte abzuleiten
  • Von einer Aufgabe zur nächsten zu wechseln
  • Sich flexibel auf Planänderungen und Zusatzinformationen einzustellen
 
Die wissenschaftliche Forschung konnte nachweisen, dass Hirnbereiche und Netzwerke, die an der exekutiven Kontrolle beteiligt sind, bei Kindern mit ADHS in ihrer Entwicklung verzögert, weniger aktiv und schlechter durchblutet sind (für einen detaillierten Überblick siehe Rietzler & Grolimund, 2016).
 
Da es Ramon besonders schwer fällt, sich selbst Struktur zu geben, ist er auf ein Umfeld angewiesen, das ihn in diesem Bereich unterstützt. Hilfreich sind Maßnahmen, die die exekutive Kontrolle entlasten und gleichzeitig trainieren. In einem Elternratgeber haben Ramons Eltern unter anderem die folgenden Tipps erhalten:
  • Reduzieren Sie Ablenkungen.
  • Führen Sie Abläufe wie „Schulranzen packen“, „sich selbst anziehen“, „Zimmer aufräumen“ schrittweise ein und nutzen Sie Visualisierungen, z.B. bebilderte Checklisten.
  • Bitten Sie Ihr Kind vor dem Einschlafen, sich wichtige Abläufe bildlich vorzustellen als würde es einen Film ansehen.
  • Weisen Sie Aufgaben ein begrenztes Zeitbudget zu und stellen Sie dieses visuell dar, z.B. mittels Timetimer.
  • Führen Sie einfache Organisationssysteme ein, z.B. verschiedene Rollkisten für Spielsachen und Schulmaterial oder ein Farbsystem für die verschiedenen Schulfächer.
  • Helfen Sie Ihrem Kind, das Arbeitsgedächtnis zu entlasten, indem Aufgaben und Termine aufgeschrieben, abfotografiert bzw. ins Handy einprogrammiert werden.
  • Planen Sie gemeinsam mit Ihrem Kind und zerlegen Sie die Aufgaben in überschaubare Teilschritte.
  • Kündigen Sie Aufgabenwechsel frühzeitig an („Du darfst noch 3 mal rutschen, dann gehen wir nach Hause“).
  • Sorgen Sie für genügend stressfreie Erholungsräume.
 
Lässt sich Aufmerksamkeit trainieren?
Verschiedene Studien weisen darauf hin, dass sich insbesondere das System der Exekutiven Kontrolle trainieren lässt. So scheinen bestimmte Formen der Meditation die exekutive Aufmerksamkeitsleistung zu verbessern und für eine optimalere Vernetzung der beteiligten Hirnbereiche zu sorgen (Tang et al. 2007, 2009). Offenbar wirken sich auch Übungen für das Arbeitsgedächtnis günstig aus (z.B. Klingberg et al., 2012; Olesen et al., 2004).
 
Im Alltag mit Kindern wird häufig auf Spiele zurückgegriffen, die das Arbeitsgedächtnis fördern sollen. Bei „Memory“ oder „der Plumpssack geht um“ üben Kinder beispielsweise, sich die Lage mehrerer Bildkarten einzuprägen und im richtigen Moment abzurufen. Zum konzentrierten Zuhören und Abspeichern von mündlich vorgegebenen Informationen eignen sich Spiele wie „Ich packe meinen Koffer“ oder „Simon sagt“. Bei Letzterem werden abwechselnd immer längere Aufgaben gestellt, z.B. „Berühre mit den Händen deine Zehen, dann gehe zur Tür und mache sie auf, dann hüpfe dreimal auf der Stelle.“ Diese Aufforderung darf aber nur ausgeführt werden, wenn der Satz mit „Simon sagt:“ begonnen wird. Für jede korrekt ausgeführte Spielfolge erhält der Spieler einen Punkt. Wird das Kommando ausgeführt, obwohl „Simon sagt“ fehlt oder wird es falsch umgesetzt, gibt es einen Minuspunkt. Nach jeder Runde werden die Rollen gewechselt. So gibt immer abwechselnd jemand die Kommandos und der andere / die Gruppe führt diese aus.
 
*Namen und sonstige Personendaten geändert
 
Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund, Psychologen und Autoren, Geschäftsführung der Akademie für Lerncoaching in Zürich
 
 
 

    Ein spezieller Fall: Stimulanzienbehandlung bei drei Geschwistern mit ADD

    Dr. med. Barbara Doll

                                                                                                    
Im Artikel wird der Fall dreier ADD-betroffener Geschwister mit gleichen klinischen Symptomen und unterschiedlichem Ansprechen auf Stimulanzien bei unterschiedlichem qEEG (quantitative Elektroenzephalografie) beschrieben. Das qEEG kann hilfreich sein bei der Wahl des richtigen Medikamentes.
 
Die drei Geschwister A (15-j. Gymnasiast), B (10-j. in 3. Kl.) und C (8-j. 2. Kl.) wurden gleichzeitig wegen Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten in einer kinderpsychiatrischen Praxis angemeldet. Alle drei waren in der Schule langsam und verträumt. Die eingehende kinderpsychiatrische Abklärung ergab bei allen dreien die Diagnose einer Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität (ADD). Das kognitive Potential, getestet mit dem WISC-IV, ergab bei allen einen gut durchschnittlichen Wert mit einem ähnlichen Profil, alle zeigten Schwächen im Arbeitsgedächtnis und in der Verarbeitungsgeschwindigkeit.
 
Wegen des hohen Leidensdrucks und der Schulschwierigkeiten wurde bei allen dreien ein medikamentöser Versuch mit Ritalin gestartet. Das Ansprechen auf dieses Medikament war, trotz ähnlicher klinischer Symptomatik, sehr unterschiedlich:
 
A: Nur leichte Verbesserung durch Ritalin v.a. zu Beginn. Bei 2 x 10mg reagiert er aggressiver, mit 2 x 7,5mg geht es etwas besser. Nach kürzerer Zeit ist aber keine Wirkung mehr spürbar.
 
B: Ritalin und Concerta wurden schlecht vertragen, starke Nebenwirkungen (kein Appetit, schwitzen, bleich) schon bei niedriger Dosierung. Lehrperson konnte im Schulunterricht keine Verbesserung der Konzentration feststellen, im Gegenteil, B wurde im Verhalten schwieriger (dominanter, aggressiver, beachtete keine Regeln mehr etc.). Deshalb Umstellung auf Dexamin 2 x 2,5mg. Unter dieser Behandlung zeigt sich eine deutliche Verbesserung, B. kann sich besser konzentrieren, dadurch besser lernen, er kommt rascher voran und erzielt gute Noten.
 
C: Spricht von Anfang an gut auf Ritalin an. Sowohl zu Hause als auch in der Schule deutlicher Unterschied ob mit oder ohne Medikament. Kann sich besser konzentrieren, sei rascher und mache besser mit.
 
Da bei allen drei Kindern eine Neurofeedbacktherapie geplant war, wurde vorgängig ein qEEG durchgeführt, um gezielter trainieren zu können. Trotz klinisch gleicher Symptomatik, zeigten sich in den Spektraldaten 3 verschiedene ADHD-Subtypen:
 
A zeigte frontale Midline-Theta-Rhythmen. Bei diesen neurobiologischen Konstellationen kann Methylphenidat in sehr geringer Dosierung helfen, meist aber nicht auf Dauer (Müller et al.).
 
 
B zeigte rechtsseitig exzessive Mu-Rhythmen. Müller et al. konnten diesen Subtyp von ADHD bei 16% der Betroffenen feststellen. Zur medikamentösen Behandlung wird Dexamphetamin empfohlen.
 
 
C zeigte eine generelle Unteraktivierung im Präfrontal- und Parietalkortex (Thetasubtyp). Zu diesem Subtyp gehören nach Müller et al. ca. 60% der Betroffenen. Sie sprechen in der Regel gut auf Methylphenidat an.
 
 
 
Fazit:
Das qEEG kann dabei helfen, die verschiedenen neurobiologischen Konstellationen zu unterscheiden. Diese drei Geschwister mit klinisch gleicher Symptomatik und testdiagnostisch ähnlichem Profil haben sehr unterschiedlich auf die medikamentöse Behandlung mit Methylphenidat reagiert. Im qEEG konnte in den Spektraldaten bei jedem Kind ein anderer Subtyp von ADHD festgestellt werden. Die Reaktionen auf die Stimulanzientherapie stimmten in diesem Fall überein mit der Beschreibung der im qEEG gefundenen ADHD-Subtypen und den entsprechenden Empfehlungen.
 
Ausführliche Informationen dazu können im Buch „ADHS Neurodiagnostik in der Praxis“ von Müller, Candrian und Kropotov, Springer Verlag, nachgelesen werden.
 
Dr. med. Barbara Doll,  FMH für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
 
 
 
 
 

    Hinweise auf Veranstaltungen

    Felicitas Furrer Iseli

 
Veranstaltungen SFG
  • Samstag, 16. September 2017, 09.00 – 15.15 Uhr, Campus Sursee, Sursee
5. Nationale ADHS-Tagung für Betroffene und Fachleute BeFa 2017
ADHS → Achtung! DU HAST STÄRKEN!
Organisation: elpos Schweiz und SFG ADHS
Weitere Informationen: www.befa-adhs.ch
 
Veranstaltungen Dritter: (vgl. http://www.sfg-adhs.ch/  Rubrik „Veranstaltungen Dritter“)
  • Samstag, 10. Juni 2017, 09.30 – 13.15 Uhr, Vatter Business Center, Bern
Workshop mit Dipl. Psych., Dipl. Heilpäd. Cordula Neuhaus
Generationenübergreifende therapeutische Begleitung der ADHS-Familie
 
  • Samstag, 17. Juni 2017, 09.15 – 17.15 Uhr,Universität Zürich Irchel
Tagung Verband Dyslexie Schweiz
Dyslexie, Dyskalkulie: Von Nachteilsausgleich bis Förderung
 
  • Ab Samstag, 4. 11. 2017 – 22. September 2018, Coachingzentrum Olten
Zertifikatsausbildung zum ADHS-Coach, Institut für christl. Psychologie, Therapie und Pädagogik icp 
ADHS-Coaching von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen
 
Regionale Angebote: vgl. www.sfg-adhs (Rubrik „Aus den Regionen+)
 
Felicitas Furrer Iseli, Geschäftsleiterin SFG ADHS
 
 
 
   
Schweizerische Fachgesellschaft ADHS        Mühlematt 11 3294 Büren a. A.    www.sfg-adhs.ch
 
 

Editorial

Der aktuelle Newsletter widmet sich den Themen „ADHS und Sucht“ und gibt einen spannenden Einblick in die ergotherapeutische Arbeit mit ADHS-Betroffenen.
 
  • Felicitas Furrer Iseli versorgt uns mit Neuigkeiten aus dem Vorstand
  • Isolde Schaffter-Wieland berichtet von der Herbsttagung der SFG ADHS zum Thema „ADHS und Sucht“ und liefert eine spannende Zusammenfassung der Hauptreferate und Workshops
  • Susanne Kündig, Ergotherapeutin FH, lässt uns an ihren Erfahrungen aus der Ergotherapie mit Kindern und Jugendlichen teilhaben
  • Ruth Joss, Ergotherapeutin HF, zeigt auf, wie erwachsene ADHS-betroffene durch eine handlungsorientierte Ergotherapie Erledigungsblockaden überwinden und ihren Alltag mit neuer Energie selbst in die Hand nehmen können.
  • Zu guter Letzt möchten wir auf den Kongress „ADHS – Im Brennpunkt der Aufmerksamkeit“ hinweisen, der am 24./25. März 2017 in Pfäffikon SZ stattfindet.
Herzliche Grüsse,
Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler

 

News aus dem Vorstand

Felicitas Furrer Iseli, Geschäftsleiterin

Sie erhalten den Newsletter des dritten Quartals 2016 leider mit erheblicher Verzögerung. Der Grund dafür ist technischer Natur. Der Newsletter ist mit unserer Website verbunden. Diese mussten wir jedoch sperren lassen, weil sie von Schadcodes betroffen war. Zurzeit wird mit Hochdruck an der Programmierung einer neuen Website gearbeitet. Im kommenden Jahr wäre zwar ohnehin eine neue Website erforderlich geworden und wurde vom Vorstand auch bereits entsprechend geplant. Wegen des Zwischenfalls mit den Schadcodes musste dieses Vorhaben nun aber sofort umgesetzt werden. Die neue Website sollte in der zweiten Novemberhälfte online geschaltet werden können (http://www.sfg-adhs.ch) und erscheint – wie der News­letter auch - wegen der dringlichen Neuprogrammierung in einem veränderten, einfachen Design.
Wir bedauern allfällige Umtriebe, die Ihnen durch die Sperrung unserer Website entstanden sind.
 

Fachtagung SFG ADHS „ADHS und Sucht“

Isolde Schaffter-Wieland, Vorstandmitglied

 
Hinauf in die Jurahöhen ging’s am 3.9.2016 zur Fachtagung der SFG ADHS zum Thema „ADHS und Sucht“. Knapp 60 Personen trafen sich an diesem Bilderbuchtag in der Klinik Barmelweid bei Aarau und setzten sich mit der Bedeutung, dem Zusam­men­­spiel und den Behandlungsmöglichen einer ADHS mit Substanzstörung aus­einander.
 
Die leitende Ärztin der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, Prof. Dr. med. Dominique Eich, kam nach eigenen Wor­ten über den Drogenbereich zum Thema ADHS, wo sie zwischen 1996 und 2007 sehr viele Erfahrungen mit 16- bis 20-Jährigen sammelte. Als Beispiel einer „ADHS-Karriere“ beschrieb sie die Biografie des Spitzensportlers Michael Phelps, der schwimmend alles unter Kontrolle hatte, aber sich auf dem Trockenen immer wieder verlor: Alkohol, Cannabis, zu schnell am Steuer, Suizid­gedanken und Gamesucht. Trotz seinem legendären Erfolg hatte er keine Selbst­­achtung.
 
Zahlen und Fakten
Gemäss Global Drug Survey 2016 ist generell ein steigender Substanzkonsum zu verzeich­nen. In der Schweiz gesamthaft rund 8,5 %. Deutlich gestiegen ist das THC (63,14%), das hinter dem Alkohol (92,69%) noch vor dem Tabakkonsum (59,79%) liegt. Eine zunehmende Tendenz ist auch bei den Energydrinks zu verfolgen. Prof. Eich visualisierte das Thema weiter mit Studien und Zahlen, wie jene der 5656 untersuchten Rekruten, wovon 4% eine ADHS haben. Bei allen Studienteilnehmern mit ADHS war eine Abhängigkeit von Nikotin, Cannabis und Alkohol ersichtlich, wie auch die Tendenz zu einer antisozialen Persönlich­keits­­störung. In Fachkreisen ist längst klar: Eine ADHS bleibt selten allein. So leiden Betrof­fene unter anderem an Depressionen (39,7), Substanzabhängigkeiten (34 %) oder Persönlichkeits­störungen (51,8%).
 
Genau hinschauen und zuhören
Dr. med. Thilo Beck ist Chefarzt Psychiatrie der Arud Zentren für Suchtmedizin, Zürich und als langjähriger Leiter europaweit im Drogenbereich involviert. Das erste Zentrum wurde kurz vor der Platzspitz-Schliessung (1992) und einer jahrelang offe­nen Drogenszene gegründet. Der Spezialist führte sein Referat ein mit den Sätzen: „Die Arbeit mit Suchtpatienten ist span­nend. Mit ADHS als Komorbidität noch spannender und kreativer.“ Von der Haltung her sei man überzeugt, dass die Arbeit primär intrin­sisch gesteuert werden müsse. Mit Druck oder „Erziehungsversuchen“, gehe gar nichts. Deshalb basiert die Zusammenarbeit auf Augen­höhe und Ziele werden ge­mein­sam entwickelt. Ein sinnvolles Instrument ist das Motivations-Interview. In einer von Neugier und Respekt geprägten Begegnung werden Fragen gestellt wie: Was stört dich, was willst du ändern, was sind deine Ansätze, wie gehst du mit der Si­tua­­tion um?
 
Laut Dr. Beck beeinflusst die Substanzstörung (SUD) die ADHS und umgekehrt. Es entsteht demzufolge eine Verflechtung. Arud arbeitet deshalb an beiden Themen und so wird stets ermittelt, wie es in der Familie aussieht mit einer ADHS- und/oder SUD-Thematik. Bei einer ADHS besteht eine Chance von 52%, dass eine SUD entwickelt wird. Bei SUD und ADHS wird die Persistenz im Erwachsenenalter mit 79% angege­ben. Je früher der Konsum von Substanzen beginnt, desto mehr wächst die Tendenz zu einer chronifizierten, schweren Ausprägung. Als wichtigster Prädikator einer wei­te­­ren SUD-Störung gilt der Tabakkonsum. „Menschen mit SUD müssen unbe­dingt auf ADHS abgeklärt werden“, betont Dr. Beck zum Abschluss seiner Ausfüh­run­gen.
 
Zwei Erklärungsmodelle für ADHS und Sucht
Von der nachfolgenden Referentin PD Dr. med. Monika Ridinger wird demnächst ein Buch mit dem Ttitel „ADHS und Sucht im Erwachsenenalter“ (Verlag Kohlhammer) erscheinen. Sie leitet als Chefärztin das Zentrum für Suchtpsychiatrie und -therapie der PDAG (Psychiat­rische Dienste Aargau). Ende der 90er Jahre begann sie sich damit auseinanderzusetzen, wie es um die Persistenz der ADHS im Erwachsenen­alter steht. Repräsentative Erhebungen in der Bevölkerung (Kessler et als, 2006) zeigen, dass eine Substanzabhängigkeit ohne ADHS bei 5,6 % festgestellt wird, bei Vorhandensein einer ADHS jedoch bei 15,2%. Das Risiko einer Alkoholabhängigkeit ist bei einer ADHS 3-fach, einer Drogenabhängigkeit 8-fach und einer Tabakab­hängig­keit ca. 9-fach erhöht. 
 
Dr. Ridinger stellte zwei Erklärungsmodelle für die Komorbidität von ADHS und Sucht vor. Einerseits die Hypothese I: „Gemeinsame“ Ätiologie bzw. Symptome. Die Genetik sei für die Praxis sehr wichtig. OPRM 1 = Opioid rezeptor (Mu) 1 gilt als Risikogen, weil es ADHS und Abhängigkeit begünstigt. Davon gibt es zwei Varianten: Statt der Base Adenin tragen manche Menschen Guanin (G-Variante). Auf der Symptom­ebene reagieren diese empfind­licher auf soziale Ausgrenzung. Die Hypo­these II ist das Modell der „fehlgeleiteten Selbst­medikation“ mit der Feststellung: ADHS tritt primär auf, die Sucht entwickelt sich sekundär.  Das heisst, der Konsum lindert gewisse Symptome der ADHS und erleichtert auf der sozia­len/um­feldbeding­ten Ebene die Anpassungsleistungen. In Bezug auf die Therapie sind Medikamente nicht immer die erste Wahl der multimodalen Behandlung, sondern Psycho­edukation, Training der Impulsinhibition und Spannungsregulation mittels Skills und Acht­sam­keit, Training der Neuroplastizität, z.B. mit Neurofeedback.
 
Einen tiefgründigen Einblick in die Arbeit der Fachperson mit einer Klientin gab der nachfol­gende Workshop. Eine junge Frau konfrontierte die TeilnehmerInnen mit schonungsloser Offenheit und eindrücklicher Selbstreflektion, wie sie als (unwissen­de) ADHS-Betroffene in die Alkoholabhängigkeit glitt. Erst mit 33 Jahren erfuhr sie nach einem Entzug in der Klinik, dass sie eine ADHS hat. Seit über einem Jahr ist sie abstinent. „Es ist schön zu sehen, dass man etwas erreichen kann. Und ich bin stolz darauf – jeden Tag aufs Neue.“ Auf diesem herausfordernden Weg wurde sie von Dr. Ridinger begleitet, die die Ausführungen der Klien­tin hin und wieder mit wichtigen Informationen ergänzte. Geschafft hat es die Betroffene dank einer sorgfältig aufge­bauten Medikation und den richtigen Skills. Ihr Fazit: „Ich will die ADHS nicht ver­stecken und verstecke mich auch nicht dahinter.“ Gleichzeitig weist sie auf das Positive der Reizoffenheit hin: „Alles sehen und spüren hat auch Vorteile im Leben.“
 
Parallel zu diesem Workshop vertiefte Dr. Thilo Beck vor einem interessierten Publi­kum die Thematik „ADHS und Drogen“. Anhand von mehreren Fallbeispielen zeigte er die therapeu­tische Herangehensweise und Begleitung der Patientinnen und Patienten.
 
Anschliessend gab es für die Tagungsbesucher eine kulinarische Verwöhnpause mit erhol­sa­mem Weitblick ins Tal und genügend Zeit, um miteinander ins Gespräch zu kommen oder Kontakte zu knüpfen. 
 
Internet als Plattform für Süchte
Dem Thema Game-Sucht widmete sich lic. phil. Renanto Poespodihardjo, leitender Psycho­loge der Ambulanz für Verhaltenssüchte UPK Basel. Der Referent schilderte die Kauf-, Glücksspiel-, Game-, Online- und Internetsucht als die am besten be­handel­­ba­ren. Es ist eine Tatsache: Das Internet weckt gezielt Begehrlichkeiten, die bei ADHS-betroffenen Menschen mit starkem „Belohnungs-Defizit-Syndrom“ schnell einmal zur Sucht führen können. Pornoseiten z.B. sind heute Alltagsware und ein Er­satz für die (erschwerte) Kommunikation zwischen Mann und Frau.
 
Die repräsentative Pinta-Studie (2011) zur Prävalenz der Internetabhängigkeit kam aufgrund einer Stichprobe aus 15’024 Personen im Alter zwischen 14 – 64 zu folgende Ergebnissen:
Geschätzte Prävalenz: 1,5% (Frauen 1,3% und Männer 1,7%)
14 bis 16-jährige Prävalenz : 6,3% (Frauen 8,6% und Männer 4,1%)
14 bis 24-jährige Prävalenz: 3,8% (Frauen 4,5% und Männer 3%)
Es ist ersichtlich, dass Frauen sich mehr im Internet aufhalten – eine Kaufsucht kann hier diskret gestillt werden. Zunehmend würden sich auch Männer als Schnäppchen­jäger in der digitalen Welt betätigen. Sehr anschaulich wurde den Anwesenden vor Augen geführt, wie schwierig es gerade für ADHS-betroffene Jugendliche ist, den Ver­lockungen der virtuellen Welt zu widerstehen. Im realen Leben erleben sich diese Jugendlichen als „Versager“, in der virtuellen Welt dagegen können sie sich als heldenhafter Avatar gewissermassen neu erfinden.
Wie werden diese Menschen ihre Abhängigkeit „los“? Gemäss Renanto Poespodihardjo ge­staltet sich die Therapie aus einer Mischung von Trauerarbeit und Entzug. Besonders wichtig sei, dass sich der Therapeut in der Sprache der jugendli­chen Gamer und in der „Kultur“ der digitalen psycho-sexuellen Entwicklung (IMVU-Love) bestens auskennt. Nur so kann er sich auf Augenhöhe mit dem Klienten be­wegen. Sein Fazit: „Wir leben in einer designten Welt.“  Das spannende und auch humorvolle Referat wurde ebenfalls in einem eindrücklichen Work­shop vertieft, bei dem ein Mann offen über seine Internetsucht und seinen beschwerlichen Weg aus dieser Abhängigkeit sprach.
 
Jugendliche nicht aus den Augen verlieren
Prof. Dr. Dr. dipl. Psych. Christina Stadler widmete sich dem Thema „Nikotin-, Cannabis­­konsum und ADHS“. Dabei verdeutlichte sie, dass nur ein Drittel der ADHS-betroffenen Kinder und Jugendlichen keine weitere Störung haben.
 
Das Jugendalter ist eine entwicklungspsychologisch kritische Phase:
Grundlegende Veränderung im Selbstwert, in der Entwicklung der eigenen Identität sowie dem elterlichen Einfluss.
Grenzen testen, Opposition „normal“,
Risikoverhalten (auch Substanzkonsum).
Hormonelle Veränderung und Veränderung neuronaler Strukturen im Gehirn.
Gehirn besonders vulnerabel für Noxen.
 
Warum sind Jugendliche besonders anfällig für Nikotin- und/oder Cannabiskonsum?
Spezifische Persönlichkeitsfaktoren: z. B. erhöhte Tendenz zur Stimulationssuche
Spezifische Risiko-Allele, die für die Ausbildung von ADHS diskutiert werden, auch für die Entwicklung der Suchtproblematik entscheidend (pleiotrope Effekte)
Neurobiologische Mechanismen: Nikotin moduliert die dopaminerge Aktivität
 
Während Nikotin die Konzentration und Gedächtnisleistung kurzfristig steigert, wirkt Canna­bis entspannend.
 
Laut Gateway Hypothese (Biederman et al., 2012) besteht bei frühem Nikotinkonsum von ADHS-Patienten:
Ein 5-fach höheres Risiko für spätere Alkoholabhängigkeit
Ein 9-fach höheres Risiko für spätere Drogenabhängigkeit
 
Für die Fachleute stellt sich immer wieder die Frage, wie sie die Jugendlichen in der Thera­pie behalten können, sie nicht aus den Augen verlieren. Die Referentin machte deutlich, dass bei einer „Null Bock-Stimmung“ die motivierende Gesprächsführung der Schlüssel zur Veränderung ist. Statt „Resistance talk“ kommt der „Change talk“ zur Anwendung. Denn: Menschen mit einer Abhängigkeit sind nicht unbelehrbar oder unmotiviert – sie sind ambi­valent!
 
In Workshop von Prof. Dr. Christina Stalder und Dr. phil. Noortje Vriends erhielten die Teil­nehmerInnen die Möglichkeit, Methodik und Wirksamkeit der motivierenden Gesprächs­führung kennen- und üben zu lernen.
Hier die Schlüsselfragen, am Beispiel eines cannabisabhängigen Jugendlichen:
Was weisst du bereits über die Folgen vom Kiffen?
Welche Vorteile hätte es, wenn du aufhören würdest?
Was macht dir Angst, aufzuhören, etwas zu verändern?
Was glaubst du, was du jetzt am besten tun kannst?
Was ist der nächste Schritt?
Wie hast du das damals geschafft?
Du glaubst, wenn du Job und Familie hast, dass es einfacher wird, etwas zu verändern, die Entzugssymptome weniger schlimm sind?
Also habe ich es richtig verstanden, dass du aufhören möchtest?
 
Rückblickend ist festzuhalten, dass die Herbsttagung in Bezug auf die hochkarätigen Refe­rate und Workshops ein wertvoller und professionell organisierter Anlass war. Schade, dass nicht mehr SFG-Mitglieder davon profitierten. Denn ADHS und Sucht ist ein häufiges und aktuelles Thema in unserem Praxisalltag, dem deshalb volle Aufmerksamkeit gebührt.
 

Ergotherapie bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS

Ein Therapieporträt mit einem Fallbeispiel aus der Praxis.

Susanne Kündig, Ergotherapeutin FH

 
Den Eltern, dem Umfeld und später den Lehrpersonen fallen die ADHS typischen Symptome der Kinder oft schon früh auf. Ein erhöhter Leidensdruck beim Kind und seiner Familie führt schliesslich zur Abklärung. Wird eine ADHS diagnostiziert und leidet das Kind an Wahrnehmungsstörungen (visuell, auditiv, taktil-kinästhetisch) an Selbstorganisationsproblemen, an Problemen in der Handlungsplanung, an Störungen der Fein- oder Grobmotorik, Dyspraxie oder an Störungen der Augen-Hand-Koordination, verordnen Kinderärztinnen und Kinderärzte in der Regel eine pädiatrische Ergotherapie. Schätzungsweise sind über 60% der Kinder und Jugendlichen in den Ergotherapie-Praxen von einer ADHS betroffen. 
 
Merkmale der pädiatrischen Ergotherapie
‚ergein’ stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet: arbeiten, beschäftigen, handeln, tun.
In der Ergotherapie werden Kinder gezielt unterstützt, damit sie das machen können, was sie machen müssen – z. B. in der Schule aufpassen, sich am Unterricht beteiligen, Hausaufgaben erledigen –, oder das tun können, was sie tun möchten, wie zum Beispiel einer Freizeitbeschäftigung nachgehen, ein Instrument spielen, mit Freunden spielen oder Sport ausüben. Es geht im Wesentlichen darum, die Handlungskompetenz und Selbstorganisation der Kinder und Jugendlichen zu verbessern.
 
Die Übungssituationen werden jeweils individuell so gestaltet, dass Kinder und Jugendliche mit ADHS die wichtigen Entwicklungsschritte erreichen können. Dazu werden verschiedene Spielgeräte, Gesellschaftsspiele, Werkmaterialien, Schulmaterialien und Werkzeuge eingesetzt, die Kinder auch in ihrem Alltag vorfinden.
 
Ein besonderes Augenmerk wird auf Wahrnehmungsstörungen gelegt; denn eine verminderte Wahrnehmung schränkt den Handlungsspielraum eines Kindes erheblich ein. Die Wahrnehmungsstörungen werden mit verschiedenen Tests näher untersucht. Dazu gehören die klinischen Beobachtungen der sensorischen Integration oder Untersuchungen, welche z.B. die visuelle Wahrnehmung, also die visuomotorische Integration und die motorik-reduzierte Wahrnehmung, betreffen (FEW-2). Mittels der (BOT-2) Testbatterie wird der Befund zum motorischen Entwicklungsstand des Kindes erstellt. Dies sind zum Teil standardisierte Tests, welche auch dazu dienen, die Fortschritte des Kindes zu belegen.
 
In der Ergotherapie haben Bewegungsspiele eine zentrale Bedeutung. Damit können gleichzeitig der übermässige Bewegungsdrang abgebaut und die Wahrnehmung sowie Motorik der betroffenen Kinder gezielt verbessert werden. Das Kind muss z.B. in Bauchlage aus einer Hängematte ein Puzzle zusammensetzen oder die im Therapieraum deponierte Lösung einer Aufgabe mit einem Rollbrett holen gehen. So werden nicht nur die Haltung und die Koordination trainiert. Die Kinder lernen auch ihren Körper sowie ihre Grenzen in einem geschützten Rahmen besser kennen; Damit gelingt es ihnen nach und nach besser, bestimmte Aufgaben während eines Bewegungsablaufs zu schaffen. So wird die Konzentration auf eine Sache geübt. Um die Aufmerksamkeit, die Wahrnehmung und das Aushalten von Frustrationen zu verbessern, kommen verschiedene Spiele, auch am Computer, zum Einsatz. Grafomotorische Fähigkeiten wie leserlich zu schreiben und die Linien zu beachten werden trainiert. Dies geschieht, um nur einige Beispiele zu nennen, dadurch, dass das Kind mit grossen Pinseln und Rasierschaum auf ein Blatt Papier oder mit Kreiden an einer Wandtafel Buchstaben oder Formen malt, oder, wenn die Rumpfstabilität schlecht ist, im Vierfüsslerstand spielerisch in Form einer Autorally Figuren auf Papier zeichnet. Mit den Spielen und Geräten werden die Verarbeitung von Sinnesreizen, die Kommunikationsfähigkeit und soziale Fähigkeiten verbessert sowie strukturiertes Arbeiten und Organisieren geübt. Das Kind lernt dabei auch, angemessen mit seinen Gefühlen umzugehen. Die Ergotherapeutin achtet darauf, dass das Selbstbewusstsein des Kindes durch Erfolge gestärkt wird.
 
Um das Kind bestmöglich zu unterstützen, wird in der Ergotherapie vernetzt gearbeitet. Bei Besuchen in der Schule und zu Hause erlebt die Ergotherapeutin das Kind in seinen Systemen und wählt ihre Interventionen entsprechend den daraus gewonnen Erkenntnissen. Wichtig sind dabei die Kontakte mit den Eltern und Lehrpersonen. Je nach Bedarf werden mit ihnen auch Verhaltenspläne und Bonussysteme für das Kind entwickelt. Kommen wegen Teilleistungsstörungen (z. B. Dyslexie, Dyskalkulie oder Legasthenie) weitere Therapieformen zum Einsatz, tauscht sich die Ergotherapeutin mit den anderen Therapeutinnen und Therapeuten aus und stimmt ihre Interventionen mit ihnen ab.   
 
Kinder mit ADHS oder einem Verdacht auf ADHS werden oftmals schon im Kindergartenalter zur Ergotherapie angemeldet. Viele Betroffene werden über einen längeren Zeitraum ergotherapeutisch begleitet, manchmal mit Unterbrüchen und bei Bedarf sogar bis ins Erwachsenenalter. Häufig sind Übergänge wie der Schuleintritt oder der Übertritt in die Sekundarschule grosse Herausforderungen. In diesen Situationen kann die Unterstützung der Kinder durch die Ergotherapeutin besonders wertvoll sein, ebenso später bei der Lehrstellensuche, beim Eintritt in das Berufsleben und bei Lehrabschlussprüfungen.
 
Die Therapie bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen unterscheidet sich von der Kindertherapie durch die Art der therapeutischen Interventionen. Die Wahrnehmung und Motorik rückt in diesem Alter meistens etwas in den Hintergrund. Immer wichtiger werden die Handlungskompetenzen und die Selbstorganisation. Die Jugendlichen lernen z. B., wie sie Ordnung und Übersicht mit ihrem Schulmaterial behalten können. Zusammen mit der Ergotherapeutin werden Ordner oder Mappen angelegt, Struktur geschaffen mit Beschriftungen und Farben. Sehr häufig werden auch Handlungsstrategien gemeinsam erarbeitet. Ziel ist es, dass der Jugendliche Strukturierungen und Strategien immer mehr übernehmen und selbständig anwenden kann. (vgl. auch den nachfolgenden Artikel zum Thema «Handlungsorientierte Ergotherapie bei Erwachsenen»).
 
Finanzierung der Ergotherapie
Die Ergotherapie wird in der Regel ärztlich verordnet. Sofern die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Geburtsgebrechen GG 404 durch die Invalidenversicherung (IV) erfüllt sind, erteilt die IV eine befristete Kostengutsprache für die nötige Behandlung wie z. B. die Ergotherapie. Ansonsten werden die Behandlungskosten von den Krankenkassen in der Grundversicherung übernommen.
 
Fallbeispiel aus der Praxis
Der 9-jährige Lionel besucht die dritte Klasse. Vor einem halben Jahr erhielt er – nach fundierten Abklärungen – die Diagnose ADHS. Für die Eltern war dies eine grosse Erleichterung, da sie endlich eine Erklärung für die Schwierigkeiten mit ihrem Sohn hatten. Lionel fiel in der Schule zunehmend durch sein unorganisiertes und unstrukturiertes Arbeitsverhalten auf. Oft vergass er seine Hausaufgaben. Sein Lehrer beklagte sich bei den Eltern insbesondere über sein unleserliches Schriftbild und sein hyperaktives Verhalten, mit welchem er die ganze Klasse störte. Vor allem seine ersten schlechten Noten alarmierten die Eltern.
 
Die Eltern entscheiden sich für eine medikamentöse Therapie und ein paar Wochen später kommt Lionel durch eine ärztliche Verordnung in die Ergotherapie-Praxis – mit folgender Indikation: grosse Hyperaktivität und Probleme bei der Verrichtung von Aktivitäten im Alltag. Zu Hause beobachtet die Mutter, dass Lionel sein Zimmer nicht alleine aufräumen kann. Die Spielsachen liegen jeden Abend verstreut im ganzen Zimmer herum. Am schlimmsten empfindet die Mutter den täglichen Kampf bei den Hausaufgaben. Oft hat sie deswegen mit ihrem Sohn grossen Streit. Zudem leidet Lionel an Wahrnehmungsstörungen. Im Erstgespräch mache ich mir ein möglichst präzises Bild von den Schwierigkeiten und versuche den Leidensdruck zu erfassen und zu benennen, aber auch Erwartungen zu klären. Die Resultate von psychologischen Abklärungen und die Erläuterungen des verordnenden Arztes spielen bei der Erfassung eine zentrale Rolle und werden mit einbezogen.
 
Die Resultate der ergotherapeutischen Abklärungen ergeben: Lionel hat grosse Schwierigkeiten in der propriozeptiven Wahrnehmung. Auch beim Spielen in der Hängematte spürt er sich zu wenig. Sein Spiel ist, wenn er frei spielen darf, wild und laut. Es fällt ihm schwer, zeitliche Grenzen einzuhalten oder zu akzeptieren.
 
Gemeinsam zu mehr Handlungsfähigkeit
Lionel ist mit seinen Herausforderungen im Alltag ein typisches Kind mit ADHS. Um ihm eine bestmögliche Partizipation und Selbstständigkeit zu ermöglichen, ist es essenziell, dass Familie und Schule in die Therapie miteinbezogen werden. Ich achte darauf, dass Lionel seine Ziele mitbestimmen kann, nur so lässt sich seine Motivation für den Therapieprozess aufrecht erhalten. Die Ziele werden zudem visualisiert. Lionel übt am liebsten auf der Plattformschaukel. Die Aufgabe besteht darin, mit kleinen Sandsäcken Kegel zu treffen. Dabei schult er Fertigkeiten wie Gleichgewicht, Koordination, Konzentration und Kraftdosierung. Die Verbesserung der Motorik, der Wahrnehmung, der Konzentration, der Selbstorganisation und Strategien zur Erledigung der Hausaufgaben sind weitere Therapieschwerpunkte bei Lionel.
 
In der Schule
Bereits am Anfang der Therapie habe ich Lionel in der Schule besucht. Es ist wichtig, dass der Lehrer bei Lionel keinen Druck mehr ausübt, schön und verbunden zu schreiben. Der Schreibprozess sollte in den ersten Schuljahren nicht negativ besetzt werden. In einer ersten Phase darf Lionel nun so schreiben, wie er es kann. Der Lehrer anerkennt Lionels Bereitschaft, sich anzustrengen, und nicht das Resultat. Gleichzeitig arbeiten wir in der Therapie an eben diesem Ziel. Durch die Fokussierung der Wahrnehmung auf die Hände soll Lionel diese spüren und so den Stift besser halten können. Dies wird geübt mit Arbeiten wie Teig kneten, mit Prickelspielen, mit kinetischem Sand oder mit anderen Tätigkeiten.
Lionel darf, um seinem Bewegungsdrang zu entsprechen, zwischendurch kleine Aufträge seines Lehrers erledigen, wie Arbeitsblätter verteilen oder die Tafel putzen. Diese kleine Änderung entschärft die unruhigen Situationen im Klassenverband erheblich und Lionel fühlt sich jetzt auch besser in der Klasse integriert.
 
Zu Hause
Ein Besuch bei Lionel zuhause zeigt, dass er in seinem Zimmer sehr viele Spielsachen hat, aber fast keinen Stauraum, um diese aufzuräumen. Es liegen auch noch viele Spielsachen aus seiner Vorschulzeit ungenutzt herum. Gemeinsam mit der Mutter sortieren wir das Material aus und schaffen so viel mehr Übersicht und ein Umfeld in welchem Lionel wieder spielen und lernen kann. Lionel beschriftet die neuen Kisten im Regal und weiss nun genau, wo er seine Spielsachen am Abend wegräumen kann. Damit dies auch gelingt, haben wir eine Art Gutscheinsystem, z. B. für ein Gesellschaftsspiel am Abend mit dem Vater, als positiven Verstärker eingeführt.
 
Durch die regelmässige Ergotherapie konnten wir bereits nach einigen Wochen erste Fortschritte erkennen. Lionel ist motorisch ruhiger geworden. Sein Spiel auf der Schaukel ist jetzt viel zielgerichteter und strukturierter. Beim Schreibvorgang hält er den Stift nicht mehr so verkrampft. Dies ist auch dem Lehrer in der Schule aufgefallen.
 
Nach ca. fünf Monaten konnte in der Schule und in der Familie eine Entspannung festgestellt werden. Lionels Selbstwertgefühl hat sich verbessert und er kann nun länger aufpassen, hat ein schöneres Schriftbild und vergisst die Hausaufgaben weniger.
 
Susanne Kündig, Ergotherapeutin FH, Praxisleiterin Ergotherapie-Praxis, Zollikofen, www.ergozollikofen, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
 
 

Handlungsorientierte Ergotherapie bei Erwachsenen mit ADHS

Ruth Joss, Ergotherapeutin HF

 
Das Hauptziel der Ergotherapie ist die Verbesserung von Handlungsfähigkeit, Selbst­stän­digkeit und Alltagsbewältigung (ergein = tätig sein). Im Arbeitsge­biet ADHS bei Erwachsenen baut sie auf Wissen aus Neuropsychologie, Neu­ro­lo­gie, Psy­chi­at­­rie, Psy­cho­logie, Kog­ni­ti­ver Verhaltenstherapie und achtsam­keits­ba­sier­ten Methoden auf. Die Be­hand­lung ist in­di­viduell auf die An­­for­de­run­gen des All­­tags der Patientinnen und Patienten ausgerichtet. Ihr An­satz ist res­­sour­cen­orien­tiert und konkret: Die Alltagstätigkeiten, die Schwie­­­rig­kei­ten bereiten, sind auch The­ra­pieinhalt und Übungs­feld. Sie findet in Pra­xen statt oder zu­hau­­se, wenn die Pro­ble­me dort anstehen. Dies ist ein gros­ser Vorteil unseres Berufs. Er­go­­­therapie ist Hil­fe zur Selbst­hil­fe. Therapiefrequenz und -dauer sind sehr unter­schied­lich, von zwei­mal pro Wo­­che bis spo­radisch nach Bedarf, von wenigen Wo­chen bis zu mehreren Jah­ren. 
 
Ergotherapie kommt in denjenigen Lebensbereichen zum Zug, in de­nen ein ADHS ne­ga­ti­ve Konsequenzen bewirkt: Administration, Lernen, Arbeit, Woh­nen, Fi­nan­zen oder auch Ge­­­sund­­­heit, Emotionen und Beziehungen. Sie trägt dazu bei, dass Menschen mit ADHS ihre Fä­­hig­­kei­ten und Stärken weiterentwickeln und einsetzen können. Da es wichtig ist, ADHS-bedingte Miss­erfolgsbiografien zu vermeiden, ist der hier beschriebene handlungsorientierte Therapieansatz auch bei Jugendlichen ab ca. 14 Jahren und bei jungen Erwachsenen, die unter Erledigungsblockade leiden, sehr sinnvoll. (Zur Pädiatrischen Ergotherapie vgl. Artikel zum Thema «Ergotherapie bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS».)
 
Handlungsorientierte Ergotherapie bei ADHS im Jugend- und Erwachsenenalter
Verordnet wird sie bei Problemen der exekutiven Funktionen und der Alltags­be­wäl­tigung:
Desorganisation in beruflichen oder privaten Bereichen
Erledigungsblockaden / Prokrastination, Schwierigkeiten bei der Prüfungsvorbereitung und längerfristigen Projektplanung
unrealistisches Zeitgefühl
Vergesslichkeit, Verzettelung, Ablenkbarkeit
schlechtes Arbeitsgedächtnis, Selbstwirksamkeits- und Selbstwertgefühl
Hilflosigkeit, Entscheidungsschwäche, Impulsivität
Überforderung im Umgang mit Emotionen, Selbstregulation, Impulskontrolle
Kompensations- oder Suchtverhalten u.a.m.
 
Erledigungsblockaden / Desorganisationsprobleme
Wir definieren Erle­di­gungs­blo­cka­den als: Nicht können was man kann. Alle können Briefe öffnen, ab­­wa­schen, einzahlen, Com­­­puter oder das Telefon bedienen – doch wer unter Blockaden leidet, kann es trotz­dem nicht. Zu einem Schwerpunkt unseres Angebots wurde die Therapie der bei ADHS häufigen Er­le­di­gungs­­blo­c­kaden, da diese oftmals negative Konsequenzen psychischer, somatischer, so­zi­a­ler, fi­nan­­­zieller, beruflicher und juristischer Art nach sich ziehen.
 
 
Wer blockiert ist, fühlt sich gelähmt, erstarrt, unsicher, verwirrt, eingeengt, in Stress, Angst oder Panik, kann nicht mehr denken, empfindet Fluchtreflexe usw.
(Abb. RJ)
 
 
 
Handlungsorientierte Therapie
In der Therapie lernen die Patientinnen und Patienten, Blo­cka­den zu überwinden und ihre Vor­s­ätze umzusetzen. Sie erfahren, dass Blockaden aus Gefühlen bestehen und kein ob­­jek­tives Hindernis sind, sondern sich verändern und auflösen, wenn man sie be­wusst wahr­­nimmt, statt sich in kompensatorische Hand­lun­gen zu flüchten. Sie lernen, die emo­­tio­nalen und ve­ge­­­tati­ven Reaktionen im Körper auszuhalten, und so deren Intensität und Wir­­kung zu ve­r­m­in­dern. Damit gelingt es ihnen zunehmend, sich auch zu un­in­te­ressanten oder un­ge­lieb­ten Tä­tig­keiten zu über­win­den. Sie lernen zunehmend, Vorsätze zu definieren und an der Tä­tigkeit zu bleiben, bis diese umge­setzt ist. Un­sere Definition von Erfolg: die eigenen Vor­­­­­sätze um­set­­zen. Be­reits in der ersten Therapiesitzung werden Dinge ange­gan­gen, die be­­lasten, weil sie un­er­le­digt sind: Übersicht schaffen, zu Erledigendes auflisten, priorisieren, Rechnungen be­zah­len, Informatio­nen an­for­dern, Dankes­kar­­ten schrei­­ben, ein Formular einreichen, eine Antwort mitteilen, eine Arbeit abliefern, die Steu­er­er­klä­rung ausfüllen, Unter­la­gen so ord­nen, dass sie leicht aufgefunden werden…
 
Beispiel aus der Praxis: die erste Therapiesitzung mit Patrick M.
Um rasch einen Überblick über das Notwendige zu erhalten, wird zuerst der Lei­dens­druck in den verschiedenen Bereichen erfasst:
 
 
Ausschnitt aus unserem Fragebogen, www.dieergopraxis.ch/ Publikationen
 
 
 
 
Wo sich die stärkste Belastung oder die objektiv grösste Dringlichkeit (Woh­nungs- oder Job­verlust, Abstellen des Telefons usw.) zeigt, setzen wir zuerst an, damit gleich der Vorteil des Handelns erfahren werden kann. Bei Patrick M. war das eine Übung zur Ver­min­de­rung der ge­danklichen Überaktivität (Lei­densdruck 9/10), die er auch zuhause anwenden sollte. An­schlies­­­­send tätigte er einen lan­­ge auf­ge­schobenen Anruf. Die im Gespräch erfassten, an­ste­hen­­den Erledi­gun­gen schrie­ben wir auf verschiedenfarbige Post-it-Zettel, welche er nach Priorität in ein Vorsatzbüchlein ein­­kleb­te. Von diesen de­fi­nier­te er eine Tätigkeit, die er bis zum nächsten Mal sicher an­pa­cken würde. Seinen Wunsch, die Din­ge zu erledigen wan­del­ten wir in einen Vor­satz um (Entschluss, Kraft), schätzten die dafür notwendige Zeit ein, und er be­stimmte den Zeitpunkt dafür. Dann stellte er sich unter Anleitung das Ge­fühl vor, das nach der Erle­di­gung ein­treten würde („ich habe es geschafft!“) und fühlte es schon im Vor­aus. Dieses Gefühl gab ihm für die Er­le­di­gung eine leise Vorfreude, mehr Schwung und Zu­ver­sicht. Er sollte es abrufen, wenn Durch­hal­te­ver­mö­gen nötig wurde. Zum Schluss ver­ab­re­deten wir Art und Zeitpunkt von Rück­mel­dun­gen oder Rück­fra­gen. Durch das ge­mein­sa­me „Anpacken“ erfuhr Patrick eine Selbst­wirk­sam­keit, die er lange nicht mehr empfunden hatte.
 
Vielfältiges Lernen „nebenher“
Wenn nötig werden die Erledigungen gemeinsamen angegangen. Hauptsache, sie werden ge­schafft, Hauptsache, der zusätzlich blockierende Berg des Unerledigten nimmt ab. Wäh­rend des Anpackens ist auf hin­derliche Verhaltens- und Denkmus­ter, Fallstricke, Kompen­sa­tions- und Fluchttendenzen zu achten, diese werden angesprochen und Techniken und Lösun­gen zu ihrer Überwindung gesucht.
 
Die Patientinnen und Patienten ler­nen:
sich selbst, Emotionen und Verhalten besser kennenzulernen und zu modulieren
Konzentrations-, Organisations- und Selbst­struk­turie­rungs­fä­hig­kei­ten zu verbessern
bewusste Aufmerksamkeitssteuerung, Fokusausrichtung auf Erwünschtes
mit übermässigen oder hinderlichen Gedanken, Un­ru­he und Spannungen umzugehen
Ressourcen wie Wissen, Stär­ken, Kraft und Zeit zu nutzen
belastenden Pflichten und Aufgaben „ins Auge zu blicken“, die vegetativen und emo­tio­na­len Reaktionen auszuhalten und blockieren­de Gefühle zu über­win­den
Mittel und Werkzeuge anzuwenden: Hängeregisterkasten, Vor­­satz­büch­lein, Post-it-Tafeln und -Büchlein, Mindmaps, Zeit­strahl­gra­fik, Timetimer (Zeit­gut­haben-Uhr), Apps, elek­tro­ni­sche Agenda, Memofunktionen, Übungen für Zuhause, Computerprogramme usw.
 
Die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Ausbildung sowie mit Arbeitslosen
Trotz der Schwierigkeiten und Misserfolge vieler Menschen mit ADHS besteht meist ein gu­tes Poten­zial für Erfolg. Viele leiden daran zu wissen, dass sie zu viel mehr fä­hig wä­ren als ihnen bis­her gelang. Viele leiden an den zahlreichen Aufforderungen, „sich mehr zu bemü­hen“, „moti­vierter zu sein“, „sich zusammenzunehmen“ – Ratschlägen, die richtig er­schei­nen, aber so we­nig hilfreich sind. In der Therapie von Jugendlichen und jungen Erwach­senen betonen wir, dass wir nicht der verlängerte Arm von Lehrpersonen oder besorgten Eltern sind, sondern thera­peu­tische Coaches. In dieser Rol­le begleiten wir die Schritte, zu denen sich die Jugendlichen selbst entscheiden. Mit dem Ar­gu­ment „auch Federer hat einen Coach – und ohne hätte er seine Erfolge nicht geschafft“ können sie die Begleitung meist auch bei Schul- und Er­zie­hungs­mü­digkeit annehmen. Ziele sind hier meist erfolgreiche Ab­schlüsse und Be­rufs­tä­tig­keit, weil sie Möglich­kei­ten und Freiheiten bieten. Wir begleiten Jugendliche und junge Erwachsene mit ADHS ab ca. 14 Jahren durch Schu­len, Aus- und Wei­ter­bil­dungen sowie bei der Stellensuche. Intensiv ist die Unter­stüt­zung meist bei dro­hen­der Entgleisung, vor Prü­fun­gen und Abgabeterminen. Zwischen den Sit­­zun­gen pflegen wir Kon­takt per Mail, SMS oder Te­lefon, damit Zwischenziele erreicht und Blo­cka­­den rasch an­ge­gan­gen werden. Ne­ben o.g. ar­bei­ten wir auch an der Ver­bes­se­rung des Rhy­th­mus‘ von Akti­vi­tät / Erholung und Tag / Nacht, von Ernährung und Schlaf­kul­tur sowie des Um­gangs mit elektro­ni­schen Medien und dem Sog von Internet und Social Media.
 
Die handlungsorientierte Therapie erweist sich bei ADHS als sehr wirksam. Sie kann viel zu einem er­folg­reicheren, selbstbestimmteren Leben nach den eige­nen Neigungen und Fähig­kei­ten bei­tragen. Die meisten Patientinnen und Pa­tien­ten lernen dabei ihren Alltag viel bes­ser zu bewältigen, ih­ren Ver­pflich­tungen nach­­zu­kom­men und Ausbildungen zu schaf­fen. Einzig wenn sie „abtauchen“ und auf An­ru­fe oder Mails nicht reagieren, kön­nen wir sie nicht unterstützen.
 
Verordnung und Finanzierung
Überwiesen werden die Patientinnen und Patienten von ADHS-Spezialisten oder Hausärztin­nen, angemeldet von Psychologinnen, Sozialarbeitern oder Lehrpersonen. Ergo­therapie wird bei ADHS grundsätzlich über die KK-Grund­versicherung vergütet, auf ärztliche Verordnung mit Diagnose, z.B. ADHS, Er­le­di­gungs­­­blockade, Konzentrations-, Merkfähigkeits-, Hand­lungs­­­fähigkeits-, Selbst­struk­tu­rie­rungs­­­­probleme, Desorganisationsproblematik, depressive Epi­soden, Stress­synd­rom, Angst­stö­rung.
 
Zusammenarbeit mit anderen Berufen
Ergotherapie findet ausschliesslich oder ergänzend zu einer anderen Therapie statt. Zu­sam­menarbeit besteht mit den be­han­delnden Psy­chi­atern, Therapeutinnen oder Coaches. Die Über­schnei­­dun­gen der Berufsfelder (v.a. mit  Verhaltenstherapie und ADHS-Coaches) füh­ren dank gu­ter Zusammenarbeit weder zu Doppelspurigkeiten noch zu sonstigen Problemen.
 
Ergotherapie suchen
Die nächstgelegene Praxis findet sich über die Homepage unseres Berufsverbands www.er­go­­therapie.ch: „Ergo­therapeutin suchen“, Fachgebiet Domizilbehandlung, Angebot Neu­ro­lo­gie oder Psy­chi­at­rie (bei Kindern: Pädiatrie). Er­fahrung mit ADHS / Erledigungs­blo­ckaden ist keine Voraussetzung. Obwohl die handlungsorientierte Therapie noch recht unbekannt ist, ist sie vom Ansatz her klassische Ergotherapie.
 
Ruth Joss, Ergotherapeutin HF, Leiterin Ergopraxis beim Bahnhof GmbH, Bern, www.dieergopraxis.ch
 
 

Kongress „ADHS – im Brennpunkt der Aufmerksamkeit

Angela Nacke und Dr. Oliver Bilke-Hentsch

 
Gerne weisen wir Sie auf den Kongress zum Thema «ADHS – Im Brennpunkt der Aufmerksamkeit» vom 24./25. März 2017 im Hotel Seedamm Plaza, Pfäffi­kon SZ, hin. Während zwei Tagen stellen Praktiker, Forschende und Lehrende spannende Inhalte zum Umgang mit ADHS bei Kindern und Jugendlichen vor. Nähere Angaben dazu finden Sie unter dem folgenden Link: http://www.pluspunkt-zentrum.ch/kurse?c=181.