Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung = ADHS
 
Seit über 30 Jahren wird in den USA unter dem Begriff der Attention Deficit (Hyperactivity) Disorder (abgekürzt ADHD oder ADD), die obligat im Kindesalter beginnende häufige Ver­haltens- und Lernstörung verstanden, die der Frankfurter Psychiater Heinrich Hoffmann bereits im 19. Jahrhundert im berühmten «Struwwelpeter» in all seinen typischen Er­schei­nungs­­formen beschrieben hat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat der englische Kinderarzt Still das Störungsbild erstmals für Mediziner im «Lancet» ausführlich erläutert und betont, dass ursächlich eine angeborene Konstitution und nicht etwa eine schlechte Erzie­hung oder ungünstige Umweltbedingungen im Vordergrund stehe.
Lange wurde die ADHS als eine auf das Kindesalter beschränkte Entwicklungsstörung be­trach­tet. Heute ist wissenschaftlich belegt, dass auch Erwachsene weiter unter dieser Störung leiden können. Die hyperkinetische Symptomatik verschwindet zwar häufig, die Aufmerksam­keits­probleme halten aber an oder werden erst jetzt belastend, die Komorbidität mit anderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angst- und Sucht- Erkrankungen ist hoch und das Auftreten von Dissozialität und Kriminalität nicht selten. Andererseits sind viele ADHS-Betroffene häufig auch sehr kreative, spontane und originelle Persönlichkeiten.
Als Ursache für die ADHS wird heute eine vorwiegend genetisch bedingte, neurobiologisch erklärbare, andere Funktion im Bereich derjenigen Hirnabschnitte angenommen, die überge­ordnete Steuerungs- und Koordinationsaufgaben in der zerebralen Informationsverar­beitung übernehmen. Neuere funktionelle Untersuchungen mit «Brain-Imaging»- Methoden zeigen eine Hypoaktivität und Dysregulation in gewissen Bereichen der Neurotransmittersysteme von Dopamin, Noradrenalin und z. T. auch Serotonin. Dadurch wird die schon lange bekann­te positive Wirkung der Medikation mit Stimulanzien verständlich. Neue MRI – Untersuchun­gen zeigen überdies bei Erwachsenen diskrete Struktur- und Grössenunterschiede in Ab­schnit­ten des Frontalhirnes und der Stammganglien.
Die Diagnosestellung erfolgt in verschiedenen Schritten. Zentral ist die vollständige psychiatrische Anamnese und Untersuchung der betroffenen Person, mit dem Erfassen der ADHS-spezifischen diagnostischen Kriterien (nach DSM-5), sowie der retrospektiven Erfassung spezifischer Symptome im Kindesalter, wenn möglich mit Fremdauskünften. Dabei wird nach entwicklungs-, schulpsychologischen und neuromotorischen Unter­suchungen  gefragt, damit häufig begleitende Teilleistungsstörungen wie Legasthenie und Dyskalkulie sowie mögliche motorische Koordinationsstörungen erkannt werden. Der Begriff „infantiles POS“ wurde früher dafür verwendet. Der Ausschluss organischer psychischer Störungen, die internistische und neurologische Untersuchung, die Prüfung von Differenzialdiagnosen und komorbiden Störungen gehören zwingend zur Diagnostik.  Standardisierte Unter­suchungs­instrumente wie Ratingskalen zum Selberausfüllen und Interviews sind hilfreich.
Bei Erwachsenen ist die primäre ADHS nicht selten durch sekundäre psychische Erkrankun­gen überlagert. Leider gibt es immer noch zu wenige Erwachsenenpsychiaterinnen und -psychiater, die mit diesem Krank­heits­bild vertraut sind.
In vielen Fällen ist die Medikation mit Stimulanzien verbunden mit Beratung («Coaching») und/oder eine Verhaltenstherapie als Behandlung der Wahl anzusehen (multimodaler An­satz). Die sehr individuell zu dosierende Stimulanzien-Therapie kann sowohl im Kindes- als auch im Erwachsenenalter eingesetzt werden, ist in 80  - 90 % erfolgreich und verbessert im Sinne einer «chemischen Brille» die fokussierte Aufmerksamkeit und Selbst­steuerung. Das Ziel der Therapie besteht vor allem darin, das Selbstwertgefühl der Betrof­fenen zu verbes­sern, das vorhandene individuelle Potenzial auszuschöpfen und die oft feh­lende Beziehungs­fähigkeit aufzubauen. Die Behandlung und Betreuung ist über Jahre durch­zuführen. Die häufig postulierte Suchtgefahr der Stimulanzien-Therapie kann in der Fachliteratur für ADHS-Be­troffene nicht bestätigt werden. Neben dem bei uns seit über 60 Jahren (!) bekannten Rita­lin werden weitere Präparate mit dem gleichen Wirkstoff (Methylphenidat) mit zum Teil deut­lich länge­rer Wirkung (Concerta®, Medikinet MR®, Ritalin LA® und Equasym XL®) eingesetzt. Eine weitere Entwicklung ist das Dexmethylphenidat (Focalin XR®).
Die vor allem in den USA zu­sätzlich verwendeten Amphetaminpräparate sind in der Schweiz nur über eine internatio­nale Apotheke erhältlich.
Mit  Atomoxetin (Strattera®) und Lisdexamfetamin (Elvanse®) sind in der Schweiz neuerdings (2015) weitere Substanzen erhältlich.
 
Die Verwendung der amerikanischen Kriterien (DSM) für ADHS hat sich für Kinder, Jugendliche und Erwachsene als sinnvoll und praktisch erwiesen. Zudem sind die WHO-Kriterien (ICD-10) seit 1992 nicht verändert worden und für das Erwachsenenalter nicht angepasst.
 
Deshalb orientieren wir uns an den amerikanischen DSM-Kriterien für ADHD bzw. ADHS. Die American Psychiatric Association hat ihr Diagnosesystem, das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, im Mai 2013 letztmals revidiert (DSM-5). Die diagnostischen Kriterien wurden überarbeitet und sind neu nicht nur auf Kinder und Jugendliche, sondern auch auf Adoles­zen­te ab 17 Jahren und auf Erwachsene zugeschnitten.  
 
 
Diagnostische Kriterien nach DSM-
1)   Kriterien der Unaufmerksamkeit
2)    Kriterien der Hyperaktivität und Impulsivität
 
◦     Kann seine Aufmerksamkeit häufig nicht auf Details richten oder macht Flüchtig­keitsfehler bei Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen Aktivitäten.
◦    Hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die
     Aufmerk­samkeit bei Aufgaben oder Akti­vi­täten aufrecht zu erhalten.
◦    Scheint oft nicht zuzuhören, wenn andere sie/ihn ansprechen.
◦    Führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig durch und kann Schular­­beiten, andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeits­­platz nicht zu Ende bringen.
◦    Hat oft Schwierigkeiten Aufgaben und Akti­vitäten zu organisieren.
◦    Vermeidet häufig oder hat eine Ab­neigung gegen Aufgaben, die eine länger andauernde, geistige Anstren­­gung er­fordern (z.B. Hausaufgaben).
◦    Verliert oft Gegenstände, die sie/er für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt (z.B.  
     Spielzeug, Aufgabenheft, Schlüssel).
◦    Ist durch äussere Reize leicht ablenkbar.
◦    Ist oft vergesslich bei Alltagstätig­keiten.
◦     Zappelt häufig mit Händen oder Füssen oder rutscht auf dem Stuhl herum.
◦    Steht oft auf in der Klasse oder in anderen Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird.
◦    Läuft umher oder klettert exzessiv in
     Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen kann dies auf ein subjektives Unruhe­gefühl beschränkt bleiben).
◦    Hat oft Schwierigkeiten, ruhig zu sprechen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu be­schäftigen.
◦    Ist häufig «auf Achse» oder handelt, als wäre er/sie «getrieben».
◦    Redet oftmals übermässig viel.
◦     Platzt häufig mit den Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist.
◦    Kann nur schwer warten, bis sie/er an der Reihe ist.
◦    Unterbricht und stört häufig (platzt z. B. in Gespräche und Spiele anderer hinein).
 
 
 
Voraussetzungen für die ADHS-Diagnose:
Während mindestens 6 Monaten müssen bei Kindern bis 16 Jahre mindestens 6 Sympto­me der Unaufmerksamkeit oder der Hyperaktivität/Impulsivität und bei Erwachsenen ab 17 Jahren mindestens je 5 Symptome auftreten.
Die Symptomatik muss vor dem 12. Lebensjahr aufgetreten sein.
Die Symptome führen zu Behinderungen in mindestens zwei Lebensbereichen (z.B.       Schule / Arbeit und Freizeit). Stärkere Gewichtung des ausserfamiliären Bereichs.
Die Symptome lassen sich nicht besser erklären durch eine andere psychische Störung.
Eine Diagnose ist neu auch möglich, wenn zugleich eine Autismus-Spektrum-Störung vorliegt.
Erscheinungsbilder der ADHS:
Je nach Vorhandensein der unten beschriebenen Symptome werden folgende Erscheinungsbilder unterschieden:
◦           Vorwiegend unaufmerksames Erscheinungsbild («Hans-Guck-in-die-Luft»)
◦           Vorwiegend hyperaktives-impulsives Erscheinungsbild («Zappelphilipp»)
◦           Kombiniertes Erscheinungsbild (= Vollbild der ADHS)
 
Abschliessend muss darauf hingewiesen werden, dass ADHS eine „lifelong condition“ (R. Barkley) ist, welche ein Leben in vieler Hinsicht prägen kann. Eine rechtzeitige Abklärung und eine klare Diagnose können unter Umständen dem Leben von Betroffenen eine ganz andere Wendung ermöglichen. Nicht jeder oder jede ADHS-Betroffene braucht medikamentöse Unterstützung. Hier soll man sich am jeweiligen Leidensdruck orientieren. Wie überall in der Medizin gilt auch bei ADHS: Zuerst Anamnese und Abklärung, dann Diagnose und erst dann eine indizierte, massgeschneiderte Therapie.
 
© SFG ADHS, August 2016


Hier können Sie ein ADHS Merkblatt zum obigen Text, welcher im August 2016 erstellt wurde, im PDF-Format herunterladen.

 

pdf Merkblatt zu ADHS (169 KB)