ADHS Aktuell
Editorial
Im ersten Newsletter 2022 wirft Isolde Schaffter-Wieland einen Blick zurück auf die Online-Mitgliedertagung vom 10. März 2022 mit Referaten zum Thema «Aktuelle ADHS Forschungen» und Fachaustauschgruppen zum Thema «Behandlung von ADHS».
Welche Auswirkungen Covid-19 auf die Lese- und Rechtschreibkompetenz – die bei einer ADHS häufig beeinträchtigt ist – und die allgemeine Entwicklung von Kindern in verschiedenen europäischen Ländern hatte, wurde in verschiedenen Forschungsarbeiten untersucht. Die Ergebnisse stellt Dr. phil. Monika Brunsting in ihrem Bericht über das Herbstseminar der European Dyslexia Association (EDA) vor.
Unser Vorstandsmitglied Dr. med. Eveline Breidenstein widmet sich in ihrem Beitrag dem Thema ADHS bei Frauen und den noch wenig empirisch erforschten spezifischen Auswirkungen von Hormonen und Menstruationszyklus. (Hinweis: Der Beitrag wurde für das Journal für Gynäkologische Endokrinologie/Schweiz verfasst und zur dortigen Publikation angenommen: https://springermedizin.ch/zeitschriften/journal-fur-gynakologische-endokrinologie-2/ Mit freundlicher Genehmigung des Verlags darf er hier abgedruckt werden).
Dass es Möglichkeiten gibt, das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen mit ADHS zu steigern und ihre Persönlichkeit zu stärken, zeigen Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund in ihrem Beitrag «Drei Glücksgewohnheiten, die man mit ADHS-betroffenen Kindern trainieren kann». Dabei verweisen sie auch auf ihr kürzlich erschienenes Buch «Jaron auf den Spuren des Glücks», das Dr. phil Monika Brunsting im letzten Newsletter besprochen hat.
Zum Schluss stellt Isolde Schaffter-Wieland das neue Buch «EINE KINDHEIT MIT ADHS – Leben mit dem Aufmerksamkeitssyndrom» von Daniela Chirici, einer engagierten Mutter eines Sohnes mit ADHS, vor.
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre und grüssen Sie herzlich.
SFG ADHS, Felicitas Furrer, Geschäftsleiterin
ONLINE-MITGLIEDERTAGUNG SFG ADHS VOM 10.03.2022
Isolde Schaffter-Wieland, ehemaliges Vorstandsmitglied SFG ADHS
Nach dem grossen Erfolg der letzten virtuellen Tagung verfolgten auch diesmal rund 70 Teilnehmende die spannenden Referate und den Fachaustausch, obwohl draussen die Frühlingssonne lockte…
Als Dr. med. Sarah Schiebler, Oberärztin/Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie nach der Begrüssung durch den SFG ADHS Co-Präsidenten Prof. Dr. med. Thomas Müller mit ihrem Referat über die Auswertung von MRI-Daten zu adultem ADHS mit Schlafstörungen startete, waren bestimmt alle hellwach. Die Somnologist-Expertin in Sleep Medicine (ESRS) präsentierte eine bisher unveröffentlichte Studie des USZ, an der 99 Personen teilnahmen (Durchschnittsalter 25 Jahre). Die meisten ADHS-Patienten litten auch an Schlafstörungen und bei über 75% der Kinder und erwachsenen ADHS-Betroffenen war eine Schlafphasenverschiebung erkennbar.
Fazit der Referentin: Bei ADHS-Patienten sollte unbedingt eine vorhandene Schlafstörung behandelt werden. Bei Schlafstörungen hilft Atomoxetin eher als Methylphenidat. In der anschliessenden Fragerunde interessierten sich Teilnehmende für Therapien mit Licht oder Melatonin sowie die Wirksamkeit einer Maske (CPAP-Therapie Continuous Positive Airway Pressure) bei ADHS-Patienten mit Schlafapnoe – ob ADHS-Symptome damit ebenfalls gelindert werden können, wurde bisher nicht untersucht.
Die Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. med. Edna Grünblatt, Leiterin Forschungsbereich Translationale Molekularpsychiatrie an der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der PUK Zürich, nahm anschliessend in ihrem komplexen Vortrag Wachsen ADHS-Neuronen anders? Eine Untersuchung mit pluripotenten Stammzellen mit auf eine interessante und anspruchsvolle Reise in die Welt der Genetik und Neuronen. Dabei fokussierte sie sich auf folgende Fragestellungen:
- Wachsen ADHS-Neuronal-Zellen mit unterschiedlichen Wachstumsraten?
- Beeinflusst Methylphenidat die Wachstumsrate und wie?
ADHS ist gemäss den Forschungen stark beeinflusst von genetischen Faktoren, aber auch von Umwelteinflüssen wie prä- und postnataler Stress (= starke Prägung). In einer Meta-Analyse wurde bei Kindern/Jugendlichen mit einer ADHS eine Hirnreifeverzögerung bis zu 4 Jahren sichtbar. Ebenfalls erkannt wurde in diesem Zusammenhang, dass Methylphenidat einen positiven Einfluss auf die Hirnreifung hat (RCT-Studie mit Kindern während 16 Wochen). Ein Test an Mäusen/Ratten ergab zudem, dass die MPH-Behandlung die Stammzellen beeinflusst und die Proliferation (Wachstum und Vermehrung von Zellen) verringert sowie die neuronale Differenzierung (Reifung) verbessert.
ADHS und den pathologischen Medienkonsum thematisierte Dr. med. Anna Werling, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Oberärztin im Ambulatorium Uster. Forschungsschwerpunkte: Untersuchung genetischer Ursachen bei ASS und ADHS sowie klinische Erhebung und Untersuchung des problematischen Medienverhaltens. In diesem Kontext stand die top aktuelle und faszinierende Lockdown-Studie 1.0 der PUK Zürich, die die Spezialistin ausführlich vorstellte.
Im Zentrum der Untersuchung stand unter anderem der problematische Internet- oder Mediengebrauch, der pathologische Internetgebrauch, die Medienabhängigkeit, Computerspielsucht, Internetsucht, Mediensucht kurz PUI = Problematic use of the internet. Es ist dies der Überbegriff für dysfunktionale Verhaltensweisen, die im Internet oder mit digitalen Medien ausgeübt werden. Das Verhalten führt zu einer funktionalen Beeinträchtigung im Alltag (Umgang mit Freunden, Familie, Schule, Ausbildung).
Problematische Verhaltensweisen von PUI (Fineberg et al. 2018) sind:
- unkontrolliertes Gaming (online, offline)--
- Suchtartige, exzessive Nutzung von Angeboten (soziale Netzwerke, Videofilme, Clips, Online-Shopping, Cyberpornographie) !
- Risikoreiche Verhaltensweisen: Cybermobbing, Cybergrooming, Sexting
PUI zeigt eine hohe Komorbidität mit anderen psychiatrischen Störungen: ADHS, ASS, Depression, Zwang, Essstörungen, Störung des Sozialverhaltens etc. (Fineberg et al. 2018)
Dabei ist jedoch unklar ob:
PUI psychische Störungen verursacht/verstärkt
oder psychische Störungen PUI verursachen, respektive verstärken.
Prävalenz von PUI (meist Gaming) bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS
- beide treten häufig gemeinsam auf (12.8 %) (Wu et al., 2014)
- Kinder mit ADHS waren 9,3 Mal anfälliger für die Entwicklung einer Internetabhängigkeit als Kinder ohne ADHS (odds ratio – 9.3) (Enagandula et al., 2018).
- ADHS plus Störung des Sozialverhaltens erhöht den Schweregrad von PUI (Gunes et al. 2018).
- ADHS kann als Risikofaktor für die Entwicklung von PUI angesehen werden (Barth and Renner 2015) und als Komorbidität.
An der Lockdown-Studie nahmen 126 Eltern von Kindern/Jugendlichen im Alter zwischen 10 und 18 Jahren teil.
Markante Erkenntnisse:
- Kinder mit ADHS schliefen während des Lockdowns deutlich länger und waren weniger müde.
- Nach dem Lockdown haben sich etwa 20% weniger Patient*innen weniger extrem einsam gefühlt.
- Während des Lockdowns kam es zu einer Zunahme von 46% der Medienzeit, die sich nicht vollständig zurückbildete.
- Gemäss Elternurteil haben sich die ADHS-Symptome während des Lockdowns bei 19% verschlechtert und bei 34% verbessert (aufgrund von weniger Schul-, Leistungs- und Peerdruck während Schulschliessung?), bei 47% sind sie gleichgeblieben
- Signifikant längere Mediendauer in den Patientengruppen war
mit einer Verschlechterung der ADHS-Symptomatik verbunden.
Gesamte Mediendauer
- 9,50 Std. mit Verschlechterung vs. 4,80 Std. mit Verbesserung
Patient*innen, die als moderat bis stark reizbar eingeschätzt wurden, hatten einen erhöhten Medienkonsum.
Patient*innen, die sich wenig konzentrieren konnten, hatten höhere Medienzeiten.
Aber: Patient*innen, die mehr oder weniger unruhig / hyperaktiv waren unterschieden sich nicht bzgl. Medienzeiten.
FAZIT Dr. Anna Werling & Team:
- Wir haben keine allgemeine Zunahme der ADHS-Symptome während des ersten Lockdowns festgestellt (insbesondere der Schlaf hat sich bei einigen Patientengruppen verbessert).
- Kinder und Jugendliche mit ADHS waren/ fühlten sich oft einsam und traurig, zeigten aber keine aggressiveren Verhaltensweisen
- Signifikanter Anstieg der geschätzten Gesamtmedienzeit bei ADHS während Lockdown im Vergleich zu der Zeit vor und nach dem Lockdown. Allerdings kehrt die Medienzeit nach dem Lockdown nicht vollständig zum Ausgangswert zurück.
- Es zeigte sich ein negativer Einfluss der Bildschirm-Mediennutzung auf Aspekte der ADHS-Symptome und des täglichen Lebens (psychische Gesundheit, Familienleben, Aggression)
Im anschliessenden Fachaustausch fanden angeregte Diskussionen statt und Dr. Werling vermittelte den interessierten Fachpersonen anhand eines Fallbeispiels wertvolle Informationen, Empfehlungen und Tipps.
Die Tagung wurde unter der Leitung von unseren Vorstandsmitgliedern mit drei weiteren Austauschgruppen zu verschiedenen Themen bereichert. So vermittelte Dr. med. Markus Müller sein Wissen rund um die Medikamentenbehandlung durch die Grundversorgung. Prof. Dr. med. Thomas Müller stand betreffend Nebenwirkungen von Medikamenten Rede und Antwort und Dr. med. Stephan Kupferschmid, Facharzt Kinder- und Jugendpsychiatrie, Chefarzt Psychiatrie für Jugendliche und junge Erwachsene IPW Winterthur tauschte sich mit Teilnehmenden über die Transition vom Jugendalter ins Erwachsenenalter aus. Es ist eine Tatsache, dass im Alter zwischen 15 und 20 Jahren in der Behandlung der ADHS eine massive Verschlechterung stattfindet und eine sinnvolle Überbrückung dringend notwendig ist.
Thomas Müller verdankte den Einsatz der renommierten Fachpersonen und freute sich, dass an der anschliessenden Mitgliederversammlung über 30 Stimmberechtigte teilnahmen.
Der Vorstand bedankt sich herzlich bei allen, die online an der Tagung und an der Mitgliederversammlung teilgenommen haben
European Dyslexia Association (EDA) Herbst-Seminar 16. Oktober 2021
Dr. phil. Monika Brunsting, Fachpsychologin für Psychotherapie FSP, Sonderpädagogin
Dank komfortablem Online-Setting war es einfach, an diesem Seminar teilzunehmen. Forschungsarbeiten über die Auswirkungen von Covid-19 auf die Lese- und Rechtschreibkompetenz und die allgemeine Entwicklung von Kindern in verschiedenen europäischen Ländern bildeten diesmal den Schwerpunkt.
Dyslexie und ADHS sind bekanntlich zwei häufig zusammen auftretende und stark überlappende Schwierigkeiten. Im Folgenden ein paar Blicke zurück auf diese Konferenz.
Lisa B. Thorell, Professorin am Karolinska Institut in Stockholm, präsentierte die erste Keynote unter dem Titel «Experiences of homeschooling during the COVID-19 pandemic for children with special educational needs».
Sie fasste die Untersuchungen in verschiedenen Ländern zu dieser Thematik zusammen (Schweden, Deutschland, Belgien, UK, Niederlande und Spanien). Kinder aus sozio-ökonomisch tiefen Schichten hatten oft Stress mit den Eltern. Nicht selten hatten diese auch miteinander Konflikte und häufig waren auch Alkoholprobleme im Spiel. Die Kinder hatten oft wenig Zugang zum Schulunterricht, weil das technische Equipment in der Familie dafür nicht ausreichend war. Es gab grosse Unterschiede zwischen den Ländern. Manche waren sehr kreativ und hängten z.B. die Aufgaben in Plastiksäckchen vor dem Schulhaus auf. Insgesamt zeigte sich, dass Kinder mit schlechten exekutiven Funktionen, die Eltern haben mit ebenfalls schlechten exekutiven Funktionen, mehr litten unter der Pandemie.
Negative Effekte waren der Stress und eigene Probleme. Positiv war, dass soziale Probleme in der Schule im Lockdown wegfielen (Mobbing etc.), dass es allgemein weniger Streitereien gab und die Kleiderfrage nicht mehr wichtig war. Man hatte mehr Zeit, um Sport zu betreiben oder als Familie etwas zu unternehmen. Die Kinder lernten kochen, der Weg zur Schule fiel weg, was schulwegbedingten Stress minimierte. Die Kinder schliefen mehr. Die schwedische Studie, über die Lisa Thorell ausführlicher berichtete, umfasste 1584 Familien und zeigte, dass 29% der Kinder mit «special educational needs» an Dyslexie oder Dyskalkulie litten und 35% an ADHS. 20% der Eltern fanden Extra-Hilfe nötig für ihr Kind, längst nicht alle bekamen diese. Ein Teil der Eltern hielt Zusatzhilfe nicht für nötig.
Valentina Berlusconi (University of Insubria, Varese, Italy) referierte unter dem Titel: «COVID-19 lockdown and specific learning disabilities: effetcts on school performance and emotion» über schulische Fertigkeiten in Coronazeiten und deren Zusammenhang mit den Ressourcen ihrer Familien: Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen litten deutlich mehr als solche aus sozial starken Familien. Letztere profitierten teilweise sehr vom Homeschooling. Sie konnten auf diese Weise in ihrem eigenen Tempo arbeiten und so grosse Fortschritte machen, was sie sehr motivierte weiterzulernen. Auch für die emotionale Entwicklung waren entsprechende Unterschiede zu beobachten.
Tzipi Horowitz-Kraus et al., Assistenzprofessorin in Israel und in den USA berichtete über ihre Forschungsarbeiten zum Thema: «How much screen-based literacy and reading exposure is beneficial? Neurobiological perspective». Sie untersuchte die Unterschiede zwischen der Präsentation von Geschichten durch die Lehrperson (DRG, Dialogic Reading Group) und durch ein elektronisches Medium (SSL, Screen-based Story Listening). Es zeigt sich bei 4-6-jährigen Kindern ein deutlicher Vorteil für die DRG: der Wortschatz verbesserte sich und im EEG zeigte sich auch eine Verbesserung aufmerksamkeitsrelevanter Netzwerke. Geschichten elektronisch hören ist gut – sie im Unterricht erzählt zu bekommen aber besser.
John Rack, Prof. und Akademischer Beirat der EDA, sprach über «Dyslexia in the pandemic, parent, stakeholders and personal perspectives – Overview pandemic learnings.» Eine besondere Herausforderung durch die Pandemie war, dass Kinder viel lesen, schreiben und verstehen mussten. Viele mussten allein lesen, weil ihre Eltern die Sprache nicht genügend beherrschen, um ihnen helfen zu können. 80% der Eltern merkten in der Coronazeit, wie schlecht ihr Kind in gewissen Bereichen ist. Auch Erwachsene litten teilweise unter der Situation im Homeoffice, v.a. Familien, die in kleinen Wohnungen leben.
Den Abschluss dieser Konferenz machte Nadine Gaab (Professorin an der Harvard University) die berichtete über: «Dyslexia professional perspective on COVID-19: Early Literacy Milestone and Dyslexia Screening: The Role of early Identification and its Implication for Intervention pre- and post-COVID-19». Sie zeigte auf, wie wichtig es ist, Kinder mit Dyslexie früh zu erfassen. 65% der Kinder in der 4. Klasse sind mit Lesen im Rückstand, was seit 25 Jahren so sei. Aufholen sei schwierig und es wäre besser, durch frühe Erfassung einen Rückstand zu verhindern: Der «wait-to-fail-approach» sei keine gute Lösung. Es brauche dafür keine fundierte Dyslexie-Diagnose, sondern ein gutes Screening, das helfe, durch rechtzeitige Förderung die Entwicklung einer Dyslexie zu verhindern.
Gerne weisen wir auf den Weiterbildungszyklus Dyslexie und Dyskalkulie hin: flyer_weiterbildungszyklus_dyslexie.pdf (lerntherapie.ch)
ADHS bei Frauen, spezifische Auswirkung von Hormonen und Menstruationszyklus
Dr. med. Eveline Breidenstein, Allgemeine Innere Medizin FMH, Vorstandsmitglied SFG-ADHS
MedVita Praxis GmbH, Ottenbacherstr. 6; 8912 Obfelden, www.medvita-praxis.ch
Hinweis: Der folgende Artikel wurde für das Journal für Gynäkologische Endokrinologie/Schweiz verfasst und zur dortigen Publikation angenommen: https://springermedizin.ch/zeitschriften/journal-fur-gynakologische-endokrinologie-2/ Mit freundlicher Genehmigung des Verlags darf er hier abgedruckt werden.
ADHS im Allgemeinen
ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung) ist eine genetische Disposition, die durch Veränderungen in der Dopamin- und Noradrenalin-Produktion im Gehirn (Frontalhirn & frontostriatale Verbindungen) zu Veränderungen im Bereich der exekutiven Funktionen führt. Dazu gehören die Aufmerksamkeitsleistung, Schwierigkeiten bei der Planung, Strukturierung, Selbstorganisation, sowie dem Zeit- und Finanzmanagement. Hinzu kommen mögliche Veränderungen der motorischen Aktivität, der Impulskontrolle, der Emotionskontrolle. International gibt es zwei Klassifikationssysteme: Entweder spricht man gemäss amerikanischer Klassifikation DSM-5 von ADHD (Attention Deficit Hyperactivity Disorder); dort können problemlos auch ADHS vom rein unaufmerksamen Typ ohne Hyperaktivität diagnostiziert werden, was v.a. für die Diagnostik von Frauen wichtig ist, da Frauen häufig weniger sichtbare Hyperaktivität zeigen. In der internationalen Klassifikation ICD-10 spricht man von ADHS («einfacher Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung»), wobei ein gewisses Mass an Hyperaktivität gefordert wird. Damit werden Personen, insbesondere Frauen, welche keine Zeichen von Hyperaktivität zeigen, weder eine ADHS-Diagnose erhalten noch eine angemessene Behandlung.
Die ADHS-Behandlung erfolgt multimodal, d.h. neben der psychotherapeutischen Unterstützung auch mit Medikamenten. Die Substanz der ersten Wahl ist Methylphenidat, ein Stimulans, (z.B. Ritalin ®). Medikamente der zweiten Wahl sind Dexamphetamin oder Atomoxetin. Weitere Medikamente, wie z.B. Antidepressiva mit noradrenergem Effekt (Bupropion oder Duloxetin), können ebenfalls hilfreich sein.
Neben den von Heinrich Hoffmann beschriebenen “Zappelphilipp” und “Hanns-Guck-in die-Luft" gibt es Betroffene mit milderen Ausprägungen, die dank vermehrtem Kraftaufwand ihre Symptomatik lange Zeit kompensieren können und erst bei anspruchsvollen lebensgeschichtlichen Übergängen (z.B. Pubertät, Menopause, Doppelbelastung von Beruf und Familie) dekompensieren. Diese Patienten präsentieren sich mit Erschöpfungszuständen oder Burnout und nicht mit der zugrunde liegenden klassischen ADHS-Symptomatik.
Deshalb gehört zur sorgfältigen psychiatrischen Abklärung eines scheinbar rein depressiven Zustandsbildes neben dem Ausschluss organischer Ursachen der Erschöpfung (Schilddrüsenhormon- und Cortisol-Disfunktionen, Hyperparathyroidismus, Vitaminmangelzustände) auch ein ADHS-Screening.
Dazu hilft Nicht-Psychiatern der Screening-Test der WHO.
Eisen und Dopamin
Die Dopaminsynthese ist eisenabhängig, da Eisen ein Co-Faktor der Tyrosinhydroxylase ist (Umwandlung von Tyrosin zu L-Dopa, der Vorstufe von Dopamin); die Ferritinspiegel sollten also bei allen ADHS-Betroffenen im oberen Normalbereich liegen (mind. 50ug/l) und nicht dem häufig tieferen Frauen-Wert entsprechen.
Hormone und Dopamin
Oestrogen und Progesteron stehen in Wechselwirkung mit Dopamin und Serotonin: Sie modulieren die Synthese, Ausschüttung, Rezeptorbindung und die Wiederaufnahme von Dopamin und Serotonin. Der ganze Mechanismus ist komplex: Oestrogen wirkt grundsätzlich aktivierend und steigert die kognitive Leistungsfähigkeit.
Fallstudien lassen vermuten, dass sich ADHS-Symptome in der Woche vor der Menstruation (während eines Rückgangs von Östrogen und Progesteron; Quinn, 2005) verschlimmern und während der Schwangerschaft (während eines Anstiegs von Östrogen und Progesteron (Nadeau & Quinn, 2002)) verbessern können, aber es fehlt an empirischen Arbeiten. Einzig in der Studie von Roberts wurden die Effekte der Hormonspiegel auf die ADHS-Symptomatik untersucht[1]--.
[1]-- Reproductive Steroids and ADHD Symptoms Across the Menstrual Cycle; Bethan Roberts, Ph.D., Tory Eisenlohr-Moul, Ph.D., and Michelle M. Martel, Ph.D.†; Psychoneuroendocrinology. 2018 Feb; 88: 105–114.
Perimenopausal müssen bei sinkenden Oestrogenspiegeln allenfalls die Stimulantien angepasst werden. Das Führen eines Tagebuchs unter Berücksichtigung von Wallungen, Schlafstörungen und Aufmerksamkeitsleistungen kann bei der Anpassung der Dosierung helfen.
Um postmenopausal weniger Schwankungen der Leistungsfähigkeit zu provozieren, sollte der Hormonersatz eher kontinuierlich als zyklisch erfolgen (orientierend an den postmenopausalen Symptomen). Die Richtlinien der gängigen Hormonersatztherapie (altersgemässer Einsatz im „window of opportunity“; kombinierte Oestrogen-Gestagentherapie bei erhaltenem Uterus; nach Möglichkeit transdermal statt oral usw.) gelten auch für ADHS-Frauen.
Allenfalls braucht es zusätzlich zur Hormonersatztherapie neu auch Stimulantien bzw. eine Anpassung der Stimulantiendosierung zum Ausgleich der kognitiven Einbussen durch den Wegfall der Geschlechtshormone.
Spezielle Lebensphasen bei Frauen mit ADHS
ADHS-Frauen sind meist grundsätzlich empfindlicher auf jegliche Einflüsse von aussen wie auch des Körperinnern; die Kombination von Schwankungen der Geschlechtshormone bei ihrem ADHS-bedingt tiefen Dopamin-Grundhaushalt macht sie zusätzlich vulnerabel in bestimmten lebensgeschichtlichen Phasen (s. Übersicht)
| Direkte Auswirkung bei Frauen mit ADHS | Weitere Auswirkungen |
Menarche | Starkes / verlängertes prämenstruelles Syndrom |
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| Starke Stimmungsschwankungen |
|
Adoleszenz | Wenig vorausschauend Höherer Kick suchend / Gefahr wird in Kauf genommen | Frühe sexuelle Aktivität, frühe Schwangerschaften, STD (sexually transmitted disease) |
| Schlechtere Einschätzung der Gefühle anderer | Kurze Beziehungen, häufiger sexueller Gewalt ausgesetzt |
Schwangerschaft | Weniger ADHS-Symptome Weniger Schwankungen | (viele Schwangerschaften, da angenehmer Zustand) |
Kinderphase | Postpartale Hormonschwankungen stärker Wegen Kindern stark gefordert (Schlafmangel, Doppelbelastung), Überforderung körperlich | Gefahr der postpartalen Depression oder des Burnouts bei Müttern von Kleinkindern |
Menopause | Mehr ADHS-Symptome | Schlechte kognitive Funktion |
Zusammenfassung
Wichtig sind Kenntnisse der Zusammenhänge zwischen Geschlechtshormonveränderungen und kognitiver Leistungsfähigkeit. Damit kann die ärztliche Fachperson bei ADHS-Betroffenen dank aktivem Erfragen der verschiedensten Symptome (z.B. von prämenstrueller Dysphorie, Wallungen, Schlafstörungen bis zu Ablenkbarkeit oder Merkfähigkeitsstörung) zusammen mit der betroffenen Frau die jeweils optimale Unterstützung finden. Diese ist von Frau zu Frau unterschiedlich, psychotherapeutisch-unterstützend und/oder medikamentös mit Stimulantien, Antidepressiva und / oder Hormonbehandlung.
Drei Glücksgewohnheiten, die man mit ADHS betroffenen Kindern trainieren kann
Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund sind Psychologen, Autoren („Erfolgreich lernen mit ADHS“, „Lotte, träumst du schon wieder?“) und leiten gemeinsam die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Mehr zu ihrer Arbeit erfahren Sie unter: www.mit-kindern-lernen.ch
Für Kinder und Jugendliche, die von ADHS betroffen sind, hält der Alltag viele Frustmomente bereit. Ihre Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität machen ihnen schulisch und sozial das Leben schwer und gehen mit einer verminderten Lebenszufriedenheit einher (Ogg et al., 2014). Auch ihr Selbstwertgefühl leidet und viele von ihnen neigen zu depressiven Verstimmungen. Ein Blick in die Glücksforschung und die Positive Psychologie eröffnet verschiedene Wege, um ihr Wohlbefinden zu steigern und ihre Persönlichkeit zu stärken. In diesem Artikel stellen wir drei „Glücksgewohnheiten“ vor, welche man mit ADHS-betroffenen Kindern trainieren kann.
Eine Glücksgewohnheit gegen das Schwarzmalen
Viele Eltern berichten nicht nur vom übersteigerten Gerechtigkeitssinn ihrer von ADHS betroffenen Kinder, sondern machen sich auch Sorgen darüber, dass ihr Nachwuchs eine solch pessimistische Weltsicht hat: „Meine Tochter jammert ständig und findet alles ungerecht!“ oder „Unser Sohn ist so ein Schwarzmaler und sieht immer nur das Negative, obwohl doch auch vieles gut läuft“, sind Aussagen, die in diesem Zusammenhang immer wieder fallen.
Zum Teil ist diese negative Grundhaltung eine Folge realer Erfahrungen. So werden ADHS-Betroffene häufiger kritisiert, erzielen schlechtere Noten als Gleichaltrige, haben größere Schwierigkeiten, enge Freunde zu finden, erfahren häufiger Zurückweisungen durch Peers und werden öfter gehänselt (Psychogiou et al. 2007, Beaten et al. 2020; Loe & Feldman, 2007; Bagwell, 2001; Unnever & Cornell, 2003).
Gleichzeitig deuten wissenschaftliche Forschungsergebnisse darauf hin, dass derlei Pessimismus wiederum eine Reihe von negativen Konsequenzen nach sich zieht. So werden Menschen mit einer pessimistischen Grundhaltung häufiger krank, sterben früher, sind unglücklicher in ihren Beziehungen, kommen schlechter mit Enttäuschungen zurecht und ergeben sich Problemen eher, anstatt sie aktiv zu lösen (z.B. Carver & Scheier, 2014; Prati & Pietrantoni, 2009; Rasmussen et al., 2009).
Doch wie lässt sich dieses Muster zugunsten einer optimistischeren Grundhaltung durchbrechen? Wie können Kinder und Jugendliche dazu angeregt werden, das Schöne und Gute im Leben vermehrt wahrzunehmen und zu genießen? Wie lässt sich die Überzeugung stärken, dass sie und die Welt sich positiv entwickeln können?
Eine Möglichkeit bietet die „Was ist gut gelaufen“-Übung aus der Positiven Psychologie. Diese hebt bei regelmäßiger Anwendung nicht nur das Wohlbefinden, sondern kann sogar Menschen mit depressiver Symptomatik signifikante Linderung verschaffen (vgl. Seligman, 2012).
Dabei erzählen sich Elternteil und Kind, beispielsweise am Abend im Bett, jeweils von drei schönen Momenten des Tages. Man kann sich dazu fragen: „Was ist heute gut gelaufen?“ Oder auch: „Über welche Kleinigkeit, die ich gesehen, gehört, geschmeckt, gerochen, gefühlt oder erlebt habe, habe ich mich heute gefreut?“
Werden Kinder dazu angeregt, sich positive Ereignisse bewusst zu machen und davon zu erzählen:
- können sie die damit verbundenen angenehme Gefühle noch einmal wiederbeleben.
- schärft dies ihren Blick für all die kleinen gelungenen Momente im Alltag, die ansonsten übersehen würden.
- sorgt man dafür, dass ihnen diese Ereignisse besser in Erinnerung bleiben.
- stärkt dies langfristig die Überzeugung, dass auch ihnen viel Positives widerfährt.
Eltern können die „Was ist gut gelaufen- Übung“ vertiefen, indem sie interessiert zuhören und nachfragen: „Warum ist das wohl so gut gelaufen?“ oder „Was könntest du tun, damit das noch öfter passiert?“ Dadurch wird den Kindern bewusst, was sie aktiv zu den gelungenen Momenten beitragen und wie sie diese im Alltag mehren können.
Viele Familien berichten zudem, dass der Nachwuchs im Anschluss an diese Gespräche am Abend leichter in den Schlaf findet und sich die Beziehung zueinander vertieft.
Ältere Jugendliche und Erwachsene können ihre drei schönen Momente auch für sich in einem kleinen Notizbuch festhalten. Wichtig dabei ist, dass die „Was ist gut gelaufen-Übung“ nicht tagtäglich durchgeführt wird, bis sie zu einer lästigen Pflicht verkommt, sonst verliert sie ihren Nutzen. Wirkungsvoller ist es, sie an ein bis drei Tagen pro Woche ganz bewusst umzusetzen (vgl. Lyubomirsky, 2014).
Eine kostenlose Vorlage für die „Was-ist-gut-gelaufen-Übung“ findet sich unter folgendem Link zum Download: https://www.mit-kindern-lernen.ch/lernen-kinder/jarons-gluecksjournal/392-glueck-ist-wenn-man-den-blick-auf-das-schoene-und-gute-lenkt-und-sich-daran-erfreut
Eine Glücksgewohnheit gegen den Eindruck, klein und schwach zu sein
Vor einigen Jahren begleitete ich, Stefanie Rietzler, eine jugendliche Klientin mit ADHS zu einem Gespräch am runden Tisch. Sie erschien mit ihren Eltern, dazu gesellten sich die Lehrkraft, die Schulleiterin, die Heilpädagogin und der Psychotherapeut des Mädchens. Zu Beginn blickte der Vater in die Runde und murmelte in Richtung seiner Tochter: «Siehst du, so schlimm ist es mit dir, dass all diese Leute jetzt hier sein müssen.»
Auch ohne solche Aussagen erleben sich viele ADHS-Betroffene allzu häufig in die Rolle eines „Hilfsbedürftigen“ gedrängt: im Alltag erleben sie an vielen Stellen, dass sie nicht das leisten können, was von Gleichaltrigen erwartet wird. Sie benötigen noch lange Unterstützung bei der Morgenroutine oder den Hausaufgaben, während das jüngere Geschwister dies mühelos absolviert; Sie brauchen in der Schule vielleicht immer wieder Sondererklärungen der heilpädagogischen Kraft, weil sie den Faden verloren haben; Und sie werden nicht selten von einer Therapie in die nächste geschickt, um ihre Konzentration, Emotionsregulation oder ihre sozialen Kompetenzen zu verbessern.
Die Erfahrung, ständig auf andere angewiesen zu sein, kann ihnen den Eindruck vermitteln, schwach und defizitär zu sein – und damit ihr Selbstwertgefühl untergraben. Umso wichtiger ist es, dass ADHS-betroffene Kinder und Jugendliche sich nicht immer in der Rolle des Hilfeempfängers wiederfinden, sondern immer wieder auf der Seite des Gebenden stehen können, bei der sie anderen Hilfe anbieten und sich mit ihren Stärken einbringen können.
Wenn wir Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit bieten, sich für andere einzusetzen und einen Beitrag für die Gemeinschaft oder eine gute Sache zu leisten, profitieren sie in vielerlei Hinsicht: mehrere Studien zeigen, dass Menschen, die sich auf diese Weise engagieren, in der Folge mehr Selbstvertrauen, ein gesünderes Selbstwertgefühl und eine höhere Lebenszufriedenheit entwickeln und ihr Leben als sinnvoller empfinden. Jugendliche, die sich regelmäßig für eine gute Sache einsetzen, laufen zudem weniger Gefahr, Alkohol oder Zigaretten zu konsumieren oder kriminell zu werden. Zudem reifen ihre Sozialkompetenzen und sie dürfen sich über bessere Schulleistungen freuen (z.B. Harlow & Cantor, 1996; Jenkinson, 2013; Johnson et al., 1998; Latham, 2003; Moorfoot et al., 2015; Uggen & Janikula, 1999; Van Willigen, 2000; Wilson, 2000; Zaff et al., 2003).
Welche Anliegen sind Ihrem Kind, Ihrem Klienten, Ihrer Klientin besonders wichtig? Sind es die Natur, Tiere oder Kinder in Not? Und wie könnte sie oder er in diesem Bereich einen Beitrag leisten? Vielleicht möchte das Kind eine Patenschaft für ein jüngeres übernehmen, am Wochenende die Hunde des örtlichen Tierheims ausführen, für die gebrechliche Nachbarin einmal wöchentlich die Einkäufe erledigen oder im Altersheim vorlesen? Vielleicht will es eine Unterrichtsstunde zu seinem Spezialthema vorbereiten, eine Tombola oder einen Sponsorenlauf veranstalten, um Geld für Kinder in Not zu sammeln, regelmäßig im Wald Müll sammeln oder Insektenhotels für Bienen bauen?
Eltern sind regelmäßig erstaunt, wie sehr ihre ADHS-betroffenen Kinder aufblühen, wieviel Feuereifer, Organisationstalent und Geschick sie plötzlich aufbringen, wenn sie sich für ihre Mitmenschen oder die Natur einsetzen dürfen.
Kostenloses Arbeitsmaterial zu dieser Glücksgewohnheit finden Sie hier: https://www.mit-kindern-lernen.ch/lernen-kinder/jarons-gluecksjournal/398-glueck-ist-wenn-man-fuer-andere-da-ist-und-ihnen-hilft
Eine Glücksgewohnheit gegen den Fokus auf die Schwächen
Wenn Schüler/innen viele ungenügende Noten schreiben, vielleicht zusätzlich zur ADHS noch eine Lese-Rechtschreibstörung oder Dyskalkulie aufweisen, dann dringen ihre Schwächen zunehmend in den Familienalltag ein und nehmen immer mehr Raum ein: Der Vater übt mit der Tochter Diktate, die auch nach dem fünften Durchgang mit Fehlern übersät sind. Die Mutter brütet mit der Tochter am Wochenende über all den Aufgaben des Wochenplans, die das Mädchen unter der Woche nicht geschafft hat – beide verzweifeln, weil sich die Arbeit über Stunden hinzieht und vom Gelernten kaum etwas hängenbleibt.
Bald kommt die Angst ins Spiel. Die Eltern machen sich Sorgen, dass die Mitschüler/innen am eigenen Kind vorbeiziehen, dass es den Anschluss verliert. Die Anstrengungen werden nochmals ausgeweitet, der Druck auf Eltern und Kind steigt. Erste Hobbys werden gestrichen, um mehr Zeit für das Lernen aufwenden zu können.
Nun beginnen sich die Kinder mehr und mehr zu verschließen. Sie bekommen einen Kloß im Hals, wenn sie die Aufgaben nur schon sehen. Erste Tränen kullern. Die Eltern trösten, werden aber auch immer häufiger wütend, wenn das Kind nicht kooperiert. Es tauchen Zweifel an der Motivation des Kindes auf: Wenn es doch nur wollen würde, dann wäre alles einfacher.
Mit der Zeit macht sich die Hilflosigkeit breit. Das Kind fühlt sich dumm, die Eltern sind ratlos: „Was sollen wir denn noch machen? Wir haben doch schon alles versucht!“
Für manche Kinder wird das Leben in dieser Phase fast unerträglich. Sie werden in der Schule und zu Hause permanent mit ihren Schwächen konfrontiert. Es wird nicht nur zusätzlich geübt – die Probleme des Kindes bestimmen auch immer mehr die Gespräche in der Familie. Das Kind erlebt dies als permanente Abbuchungen von seinem „Selbstwert-Konto“.
Mit jeder schlechten Note, mit jeder Aufgabe, an der man scheitert und die den anderen leicht zu fallen scheint, mit jedem:
„Jetzt pass doch auf.“
„Das haben wir doch geübt!“
„Wieso hast du das jetzt wieder falsch geschrieben?“
„Warum will das nicht in deinen Kopf?“
verliert das Kind etwas mehr von seinem Selbstvertrauen, seinem Selbstwertgefühl und seiner Lebensfreude.
Manche Kinder wirken durch diese Erfahrungen mit der Zeit so desinteressiert, unmotiviert, müde und freudlos, dass die Eltern das Gefühl haben: Mein Kind hat kaum Stärken und Interessen. Wenn wir in dieser Situation nachfragen, was das Kind besonders gut kann, kommen oft Aussagen wie: „Na gut, Sport – aber damit kann man auch kein Geld verdienen.“ oder „Sie malt sehr gerne – aber wenn sie sich in der Schule nicht mehr Mühe gibt, kann sie später doch sowieso nicht machen, was sie will.“
Das Problem ist: Wird jedoch nur auf die Schwächen fokussiert, wissen Kinder später auf die Frage, was sie gut können, was sie auszeichnet und was ihnen Freude bereitet keine Antwort. Es wäre jedoch gerade für Kinder, die schulisch schwach sind, besonders wichtig, dass sie auf diese Frage konkrete, klare Antworten haben. Schließlich werden sie ihren späteren Beruf nicht auf geschwächten Defiziten, sondern ihren Talenten und Begabungen aufbauen.
In einer kleinen, aber spannenden Untersuchung von Prof. Krapf teilten Lehramtstudierende der Universität Zürich schulisch schwache Kinder in zwei Gruppen ein. Die eine Gruppe erhielt Nachhilfeunterricht für ihre Problemfächer, die andere wurde in den Bereichen gefördert, in denen sie eine Stärke hatten.
Das spannende Resultat: Die Förderung in den starken Bereichen wirkte sich auf die Leistungen in den Problemfächern aus. Diese Gruppe zeigte am Ende in den Problemfächern sogar bessere Leistungen als die Gruppe, die Nachhilfe für ihre Problemfächer erhielt.
Die Untersuchung ist methodisch zu schwach, um die Ergebnisse zu verallgemeinern. Aber sie spiegelt eine Erfahrung wider, die wir in der Praxis auch machen konnten: Wird einem Kind ein geliebtes Hobby gestrichen, um mehr Zeit für die Schule und das Üben zu gewinnen, verlieren die Kinder jegliche Motivation. Gleichzeitig führen Erfolgserlebnisse und die Erfahrung, etwas zu können, zu mehr Energie, mehr Selbstvertrauen und der Überzeugung, auch mit Schwierigkeiten umgehen zu können.
Deshalb gilt: Schaffen wir Raum und Zeit für die Interessen und Stärken der Kinder – egal ob uns Erwachsenen diese „sinnvoll“ oder „wichtig“ scheinen!
Manchmal sind wir Erwachsenen derart versteift auf Stärken, die in der Schule im Vordergrund stehen wie die sprachliche oder logisch-mathematische Kompetenz, dass wir andere Talente, die im späteren Berufsleben wichtig sind, übersehen. So haben viele ADHS-Betroffene eine Menge Kreativität, Verkaufstalent, Entwicklergeist, verfügen über eine ausgeprägte soziale Ader oder sind künstlerisch enorm begabt. Es ist wertvoll, wenn diese Fähigkeiten auch als Stärken gesehen und zurückgemeldet werden.
Zu guter Letzt können Eltern den Blick für das, was ihr Kinder positiv auszeichnet, weiten. Dazu füllen sie über zwei Wochen hinweg jeweils abends ein „Stärkentagebuch“ aus, in dem sie festhalten, was ihnen heute an ihrem Kind angenehm aufgefallen oder sie überrascht hat.
Buchtipp: Jaron auf den Spuren des Glücks
Überall im Alltag versteckt sich das Glück. In dieser abenteuerlichen Geschichte machen sich Kinder ab 8 Jahren gemeinsam mit dem jungen Fuchs Jaron und seinen Freunden auf Spurensuche und entdecken einzelne „Glückslektionen“. Im Anhang des Buches findet sich ein Glücksjournal mit vielen Mitmachseiten und Impulsfragen, die zum Diskutieren über das Glücklichsein und Glücklichwerden in Familie, Schule und Therapie einladen.
„Eine Geschichte über die kleinen und großen Fragen des Lebens, über den Mut, zu sich selbst zu stehen und die verwandelnde Kraft der Freundschaft.“
Dabei gibt es ein Wiedersehen mit den beliebten Figuren aus dem Bestseller „Lotte, träumst du schon wieder?“, in dem verträumte Kinder und ihre Eltern im Rahmen einer spannenden Geschichte wissenschaftlich überprüfte Methoden kennenlernen, um sich besser zu konzentrieren.
Buchbesprechung
EINE KINDHEIT MIT ADHS – Leben mit dem Aufmerksamkeitssyndrom
Daniela Chirici, hogrefe, Fr. 28.90
Isolde Schaffter-Wieland, ehemaliges Vorstandsmitglied SFG ADHS
Die Autorin ist eine von vielen engagierten Müttern mit einem ADHS-betroffenen Kind. Sie schildert in dieser Publikation ihre unermüdlichen Bemühungen um die Integration von Kilian in der Schule und Gesellschaft.
Authentisch widerspiegelt sie den Leidensdruck ihres Sohnes und der Familie, aber auch die vielen glücklichen Momente im Zusammenleben. Ebenso würdigt sie in den biografischen Aufzeichnungen die Fortschritte, die Kilian durch die aussergewöhnlich intensive und jahrelange Unterstützung durch den Zuger Kinder- und Jugendpsychologen Roland Abegglen (Paar- und Verhaltenstherapeut SGVT) machte. Für die ADHS-Organisation elpos schrieb Daniela Chirici während 10 Jahren eine Kolumne. Nun hat sie diese Texte in einer Publikation zusammengefasst und mit Informationen zu wirksamen Massnahmen ergänzt. Das Geleitwort stammt aus der Feder der ehemaligen elpost-Redaktorin Verena Schenk-Leu, die 2011 Daniela Chirici aufgrund des SRF-DOK-Films «Hyperaktive Kinder, Modeerscheinung oder Warnsignal?» kontaktierte. Das spürbare Leiden des Buben hatte die ADHS-erfahrene Journalistin sehr berührt. «Aus dem Entschluss, in einer Rubrik über Kilians Leben und das seiner Familie zu berichten, ergab sich eine langjährige und bereichernde Zusammenarbeit…». Roland Abegglen verfasste ein Fazit seiner über zehn Jahre dauernden Begleitung und schreibt darin: «Psychotherapie kann keine Wunder bewirken, aber sie ist oft in der Lage, wichtige Impulse zu liefern, um Menschen dabei zu unterstützen, resilienter zu werden, d.h., eigene Denk- und Verhaltensweisen und Entwicklungsschritte zu modulieren und funktionaler zu gestalten und sich damit insgesamt robuster zu fühlen und sich so über ein gesteigertes physisches und psychisches Wohlbefinden zu freuen.» Kilian lernte mit seinem Verhaltenstherapeuten schrittweise, seine Emotionen zu bändigen und sein impulsives Sozialverhalten besser zu bremsen…». Gemäss Abegglen soll diese wahre Geschichte aufzeigen, wie trotz vieler Hürden und Widrigkeiten erfolgreich mit ADHS umgegangen werden kann und dass auch Kinder und Jugendliche trotz und mit ADHS eine produktive Entwicklung und glückliche Lebensperspektive haben können. Daniela Chirici arbeitet heute als ADHS-Coach, Erziehungsberaterin und Schulassistentin. Zurzeit absolviert sie eine Ausbildung als Entwicklungs- und Lerntherapeutin. Mit ihrem Buch will sie anderen Familien Mut, Hoffnung und Zuversicht geben und bestätigen, dass es immer eine Lösung gibt. Denn für sie ist klar: Dranbleiben lohnt sich!