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ADHS Aktuell

 
Editorial
 
Im aktuellen Newsletter dreht sich alles um ADHS im Zusammenhang mit der Invalidenversicherung.
Dr. med. Detlev Blocher berichtet über versicherungsmedizinische Aspekte hinsichtlich der Begutachtung bei ADHS.
Eveline Chironi, Psychologin und Teamleiterin Berufsberatung bei der Invalidenversicherung Aargau informiert über den Beitrag der Invalidenversicherung zur Unterstützung von Jugendlichen mit ADHS/ADS in der beruflichen Erstausbildung.
Zudem werden die Forschungsergebnisse zum Thema «ADHS in der Berufsausbildung – Sag ich’s oder verschweige ich’s?» der Berufs-, Studien- und Laufbahnberaterin Bernadette Casasola vorgestellt.
ADHS-Coach Ursula Ammann beschreibt eine weitere Therapie- und Coachingmethode: die Arbeit mit dem IST-SOLL-Tier.
Isolde Schaffter-Wieland, Vorstandsmitglied SFG ADHS gibt eine kurze Zusammenfassung der beiden Referate der SFG-Mitgliederversammlung vom 22. März 2018 zum Thema «ADHS und Versicherungsmedizin».
Herzliche Grüsse,
Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund
 
 

Begutachtung bei ADHS: versicherungsmedizinische Aspekte

Dr. med. Detlev Blocher
Stv. Teamleiter im Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) der IV-Stelle des Kantons Bern
 
Diagnostik
 
Dreh- und Angelpunkt bei der Anmeldung von Erwachsenen mit einer ADHS ist der Nachweis der ADHS-Symptomatik im Kindes- und Jugendalter. Dies geschieht mittels retrospektiver Erfassung mit testpsychologischen Instrumenten, fremdanamnestischer Angaben oder indirekt über Befunde be­züg­lich früherer Anmeldungen bei der IV als Geburtsgebrechen. Auch Zeugnisse für die relevanten Lebensabschnitte sind hier dienlich. Liegt ein entsprechender Nachweis über die ADHS-Diagnose im Kindes- und Jugendalter nicht vor, so minimiert dies die Chancen auf eine rasche und zielführende Bearbeitung des Falles deutlich bzw. erfordert eine sehr ausführliche und überzeugende Argumenta­tion, dass dennoch von einer adulten ADHS auszugehen ist. Insgesamt ist auf eine stringente Erfas­sung der klinischen Symptomatik seit der Jugend über das frühe Erwachsenenalter hin zur aktuellen Situation zu achten. Ferner empfiehlt sich eine Festlegung auf einen Subtypus der Störung und es muss dargelegt werden, dass keine andere Störung die Symptomatik besser erklären kann. Grosse Probleme scheint es häufig mit der korrekten Erfassung komorbider psychischer Störungen zu geben. Gelingt dies für die Diagnose eines Missbrauchs bzw. einer Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen, die man bei zirka 15 bis 50% der Patienten je nach Definition und Substanz findet, noch relativ zuverlässig, so überzeugen die Angaben über eine gleichzeitig vorliegende Persönlichkeitsstö­rung nicht immer. Dabei trifft man bei einer Persistenz des ADHS in Erwachsenenalter oft auf Phäno­mene der Dissozialität und der emotionalen Instabilität. Letztere ist aber meist als adulter Ausdruck der ADHS zu verstehen. Für den Bereich der affektiven Symptomatik ist eine klare Differenzierung zwischen Störungen der Affektlabilität, die ja Teil der Utah-Kriterien und somit störungsimmanent sind, und einer manifesten affektiven Störung vorzunehmen. Eher für eine ADHS-spezifische Affekt­proble­matik sprechen der Wechsel zwischen neutraler und niedergeschlagener Stimmung, eine reaktive Auslösung und Beendigung durch ADHS-typische Anlässe, die oft gleichzeitig vorzufindende emotionale Überreagibilität sowie die Schilderung einer eher dysphorisch-gereizt-gelangweilten Symptomatik bei fehlender Stimulation. Zu beachten ist auch die Dauer, die bei dieser Symptomatik einige Stunden bis wenige Tagen umgreift, also die ICD-10 Kriterien für eine depressive Episode nicht erfüllt und somit ein klares Unterscheidungsmerkmal darstellt. Letztlich sind noch Angstsymptome differentialdiagnostisch zu fassen. Sinnvoll erscheint darüber hinaus, auch zu somatischen Komorbi­di­täten (Asthma, Unfälle etc.) Stellung zu nehmen.
Zu bedenken ist, dass trotz der hohen Komplikationsraten über 40% der adulten ADHS-Patienten wissenschaftlichen Studien zufolge keine komorbide Störung aufweisen. Ist dies aber der Fall, so besteht in der Regel eine Dosis-Wirkungsbeziehung zwischen der ADHS und den komorbiden Störungen. Aus versicherungsmedizinischer Sicht relevant ist, ob die Komorbidität den Patienten sonst vorhandene Ressourcen raubt.
 
Verlauf der Störung
 
Häufig findet man eine Veränderung und später dann eine Verbreiterung der Symptomatik im zeitli­chen Verlauf. Von der ADHS-Core-Symptomatik bildet sich die Hyperaktivität vergleichsweise früh zurück und es bleiben im Erwachsenenalter meist eine innere Unruhe sowie eine Impulsivität zurück bei Persistenz der Konzentrationsprobleme. Letztere treten aber durch das Erlernen von Kom­pen­sations­mechanismen weniger direkt zu Tage. Insgesamt nimmt die Hauptsymptomatik im späteren Erwachsenenalter nur wenig ab oder zu. Vielmehr führen die Auswirkungen der oben erwähnten komorbiden Störungen und/oder die störungsbedingt sich entwickelnden sozialen Probleme zu einer Verbreiterung der klinischen Symptomatik.
 
Funktionsbeeinträchtigungen
 
Der klinische Erfahrungswert bei Patienten mit einer Persistenz der ADHS ins Erwachsenenalter ist der, dass deren schulische und berufliche Abschlüsse meist deutlich hinter den Erwartungswerten zurückbleiben. Es finden sich viele bzw. häufige Wechsel des Arbeitsplatzes, oft ausgelöst durch – störungsbedingte – Konflikte mit Kollegen und Vorgesetzten. Aber auch im privaten Bereich führt die Störung zu kurzlebigen Partnerschaften und erhöhten Scheidungsraten. Deutliche Belastungen für die Angehörigen bleiben dann oft nicht aus. Ferner ist ein erhöhtes Unfallrisiko in Schule, Beruf, Frei­zeit und Straßenverkehr ein zuverlässig replizierter Befund.
Betrachtet man die möglichen Langzeitfolgen einer ADHS im Erwachsenenalter genauer, so stösst man vor allem auf Störungen des Selbstbildes, der Selbststeuerung und auf ein reduziertes Selbst­wert­­gefühl. Die adulten ADHS-Patienten verfügen meist über verminderte soziale Fertigkeiten und zeigen oft ein desorganisiertes Verhalten sowie eine Stressintoleranz, was beruflichen Problemen Vorschub leistet. Mangelndes Zeitgefühl, Probleme im Umgang mit eintönigen Tätigkeiten und Störquellen sowie eine geringe Frustrationstoleranz runden das Bild meist ab.
Aber auch unabhängig von einer vielleicht schwierigen diagnostischen Einordnung der gesamten klinischen Symptome kommt es bei der versicherungsmedizinischen Beurteilung darauf an, wie schwer sich die ADHS- bzw. die störungsspezifischen Defizite und Beeinträchtigungen auf die Arbeits­fähigkeit auswirken. Eine quantitative Einschränkung findet man in der Regel nicht. Meist handelt es sich um eine qualitative Leistungseinschränkung. Um diese sinnvoll abbilden zu können, empfiehlt sich eine standardisierte Erfassung, z. B. mittels Mini-ICF-APP. Insgesamt betrachtet resultiert aus ver­­sicherungsmedizinischer Sicht eine relevante Einschränkung der Arbeitsfähigkeit dann meist durch die Auswirkungen der komorbiden Störungen bzw. die Interaktion der ADHS-Symptomatik mit diesen.
Der Verlauf der funktionellen Störungen ist überwiegend heterogen, bedeutet also, dass es auch immer wieder zu einer Stabilisierung kommt. Einer Normalisierung des Funktionsniveaus stehen dann meist klar umschriebene Faktoren entgegen wie die gerade genannten Probleme mit den komorbiden psychischen Störungen sowie psychosoziale Risikofaktoren. Auch bei einer persistie­renden Impulsivität, die sich therapeutisch nur schwer beeinflussen lässt, finden sich überzufällig häufig Verläufe mit geringen privaten wie beruflichen Erfolgsmerkmalen.
 
Therapiemöglichkeiten
 
Aus versicherungsmedizinischer Sicht lautet die Prämisse bei der Behandlung von ADHS-Patienten wie folgt: Durch welche therapeutischen Massnahmen lassen sich die bestehenden funktionellen Leistungseinbussen reduzieren bzw. die aktuelle Leistungsfähigkeit stabilisieren. Zwar gibt es einen wissenschaftlichen Nachweis für die Wirksamkeit der Therapiebausteine Psychopharmakotherapie und Psychotherapie, wie sich diese Methoden aber auf die funktionelle Leistungsfähigkeit auswirken, ist noch nicht sehr gut untersucht. Dabei ist auch zu bedenken, dass ein Übermass an therapeu­tischer Massnahmen sich im Sinne eines Overflows zum Teil auch negativ auf die Gesamtsituation auswirken kann. Unbestritten ist aber, dass eine adäquate Behandlung der komorbiden Störungen die Chance auf die Verbesserung der sozialen Adaptation und damit des beruflichen Funktions­niveaus bietet.
Zusammengefasst ist vor einer IV-Anmeldung von Patienten mit einer ADHS die nachfolgende Check­liste zu beachten:
  • Liegt der Nachweis einer ADHS-Symptomatik im Kindes- und Jugendalter vor?
  • Ist die ADHS-Diagnose lege artis gestellt?
  • Wurde eine umfangreiche Abklärung möglicher komorbider Störungen (psychisch und somatisch) durchgeführt?
  • Erfolgte die Erfassung möglicher Funktionsbeeinträchtigungen standardisiert?
  • Ist der therapeutische Verlauf gut dokumentiert?
  • Können umfangreiche Informationen zum sozialen Umfeld bereitgestellt werden?
 
Kontakt:
Dr. med. Detlev Blocher
Stv. Teamleiter Regionaler Ärztlicher Dienst RAD
IV-Stelle Kanton Bern
Scheibenstrasse 70
Postfach
3001 Bern
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Literatur beim Verfasser
 
 
 
 

„Zappelphilipp, Dreamer und Chaosprinzessin“: Erfolgreiche Unterstützung von Jugendlichen mit ADHS/ADS in der beruflichen Erstausbildung

Was kann die Invalidenversicherung dazu beitragen?

Eveline Chironi, Psychologin und Teamleiterin Berufsberatung bei der Invalidenversicherung Aargau
 
Jugendliche und junge Erwachsene mit der Diagnose ADHS/ADS, die der Berufsberatung der Invalidenversicherung vorgestellt werden, haben oft einen sehr langen Leidensweg hinter sich bis sie zusammen mit entsprechenden Therapiestellen wirksam unterstützt werden können. Häufig sind schon in der Vergangenheit erhebliche Verhaltens- und Schulschwierigkeiten aufgetreten, die zu einem Abbruch oder Unterbruch der beruflichen Grundbildung führten und auch alternative Wege in eine Berufsausbildung scheitern liessen. Die Gründe für das späte zur Verfügung Stellen fachgerechter und leidensspezifischer Unterstützung vor und während der Berufsausbildung sind jedoch äusserst vielfältig. Teils liegen die Ursachen immer noch im zu geringen Bekanntheitsgrad des Kostenträgers IV und dessen reichhaltiger Unterstützungsmöglichkeiten in Form von beruflichen Massnahmen. Andere Gründe liegen sicher auch in der doch recht heterogenen Symptomatik des ADHS/ADS-Leidens und der damit verbundenen diagnostischen Hürden. Das parallele Einsetzen der Pubertät in den oberen Schulklassen erschwert zudem eine klare Unterscheidung zwischen der Verhaltens- respektive Leistungssymptomatik und den motivationalen Aspekten des Leidens und der Pubertät an sich. Zeigen sich isolierte leichtere bis mittlere Verhaltens- und Leistungsprobleme in der Schule, erhalten betroffene Jugendlichen mit normaler Intelligenz zudem keinen Sonderschulstatus. Dadurch entfällt auch die wertvolle Beratung und Begleitung durch den schulpsychologischen Dienst und damit das Hinführen zu einer erforderlichen IV-Anmeldung.
 
Erfolgreicher Schulbesuch, aber dennoch Schwierigkeiten in der Berufsausbildung
 
Bei vielen betroffenen Jugendlichen gelingt es glücklicherweise mit fachgerechter pädagogischer Unterstützung die Schulstufe erfolgreich zu bewältigen und eine Ausbildung anzuschliessen. Stillere, schwächere Schüler ohne offensichtliche Verhaltensauffälligkeiten durchlaufen viel häufiger unbemerkt und teils mit erheblichen Bildungslücken die Schulzeit als Schüler mit grossen Verhaltensschwierigkeiten und Strukturierungs- und Konzentrationsproblemen. Im Schulalltag mit seinen zu Recht auf die einzelne Ressourcenförderung ausgerichteten Betrachtungen und Interventionen findet zudem seltener eine umfassende und defizitorientierte Verhaltens- und Leistungsbeurteilung statt. Diese könnte jedoch als Entscheidungsgrundlage für oder gegen eine IV-Anmeldung dienen. Auch häufigere Schul- und Wohnortswechsel bei vermehrter Mobilität können eine entsprechende Entwicklungsbeobachtung über einen angemessenen Zeitraum verunmöglichen und damit die Entscheidung zur IV-Anmeldung erschweren. Verständlicherweise gleichen Eltern auch immer wieder Lern- und Strukturierungsprobleme ihrer Kinder aus. Damit verhindern sie aber auch das Offenlegen der gesamten Problematik und das pädagogische Hinführen zu besserer Selbststrukturierung bei vorliegender ADHS/ADS. Erschwerend kommt hinzu, dass auch bei offensichtlichem Unterstützungsbedarf für die Erstausbildung eine IV-Anmeldung für berufliche Massnahmen umgangen wird, da IV-Leistungen immer noch mit schwerer und dauerhafter Invalidität assoziiert werden.
Mit dem Schulabschluss und Beginn der beruflichen Ausbildung steigen jedoch die Anforderungen an die sozialen Kompetenzen, das selbstständige Lernen und das Strukturieren. Das Wegfallen des engmaschigeren schulischen Rahmens verschärft die Situation auch für betroffene Jugendliche mit besserer Kognition, so dass auch ein guter Lehrbeginn zu einem späteren Abbruch führen kann.
 
Leistungen der Invalidenversicherung bei ADHS und ADS
 
Die Invalidenversicherung verfügt grundsätzlich über zahlreiche Leistungen, die betroffene Kinder, Jugendliche und Erwachsene professionell unterstützen. Bei Kindern, die bis zum 9. Lebensjahr aufgrund einer ADS/ADHS therapeutische Interventionen erhalten haben und bis zum 11. Altersjahr bei der Invalidenversicherung angemeldet wurden, kann ein sogenanntes Geburtsgebrechens 404 anerkannt werden. Diese Anerkennung ermöglicht die Vollkostenübernahme der Leidensbehandlung bis zum 20. Altersjahr. Wurden entsprechende Fristen verpasst, die Anerkennung verneint oder das Leiden erst später behandlungsbedürftig, ist dennoch eine Unterstützung in Form von beruflichen Massnahmen möglich.
Um eine berufliche Massnahme zusprechen zu können, muss die ADHS/ADS-Symptomatik eine Erstausbildung oder die Berufswahl erschweren oder in der Vergangenheit erschwert haben. In selteneren Fällen sind Auswirkungen auf den Beruf erst im Erwachsenenalter offensichtlich, so dass eine Umschulung nach begonnener Erwerbslaufbahn geprüft werden muss. Im Gegensatz zu den zahlreichen IV-Anmeldungen führt eine isolierte ADHS/ADS-Diagnose in den meisten Fällen aber nicht zu einer IV-Berentung, was darauf hinweist, dass die Symptomatik oft unter der zunehmenden Reifung abnimmt und mit Hilfe von adäquater Unterstützung auch eine erfolgreiche Berufslaufbahn aufgenommen werden kann. Es lohnt sich in jedem Fall rechtzeitig entsprechende Hilfen zu stellen, damit betroffene junge Menschen mit einer ADHS/ADS-Symptomatik die Möglichkeit erhalten, überhaupt eine Erstausbildung gemäss ihren Fähigkeiten absolvieren zu können (und dies ohne die Anhäufung von einer unendlichen Folge von Misserfolgserfahrungen). Junge Menschen ohne abgeschlossene Erstausbildung tragen ein erhebliches soziales Risiko und verbleiben häufiger in der Sozialhilfe und in der Arbeitslosigkeit. Das Gesetz über die Invalidenversicherung trägt demnach auch mit den beruflichen Massnahmen dazu bei, langfristig die soziale Sicherheit zu garantieren und Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen in unsere Gesellschaft, d.h. auch in unseren Arbeitsmarkt, zu inkludieren. Die Invalidenversicherung verpflichtet sich mit ihren beruflichen Massnahmen daher zu effektiven Bildungsleistungen, die auch im Anschluss begleitet oder unbegleitet in eine Anstellung führen und den nachhaltigen Aufenthalt im ersten Arbeitsmarkt ermöglichen.
 
Eine frühzeitige Anmeldung führt zu Entlastung aller beteiligten Personen
 
Damit die Invalidenversicherung rasch und professionell unterstützen kann, ist eine frühzeitige Anmeldung mindestens zwei Jahre vor dem Schulaustritt durch die Eltern oder einem Rechtsvertreter auch bei moderater Symptomatik empfehlenswert. Der IV-Anmeldung sollten möglichst bestehende medizinische Akten und Schulberichte beigelegt werden. Im optimalen Fall ist zu diesem Zeitpunkt eine regelmässige fachgerechte medizinische Therapie eingeleitet, die auch konsequent durchgeführt wird. 
Bei der Übernahme von erstmaligen beruflichen Massnahmen der Invalidenversicherung wird der eigentliche Ersatz der sogenannten behinderungsbedingten Mehrkosten für die Erstausbildung (Art. 16 IVG) zugesprochen, sofern diese Mehrkosten CHF 400 pro Jahr übersteigen. Die Erziehungsberechtigten haben damit weiterhin die Grundkosten für die Erstausbildung zu tragen, wie sie bei jedem Jugendlichen in der beruflichen Grundbildung anfallen (Art. 302 ZGB). Unter Mehrkosten können eigentliche Bildungsleistungen (z.B. die Kosten einer Handelsschule oder Nachhilfeunterricht) sowie auch akzessorische Leistungen wie Taggelder als Ersatz für Lohnausfall und Reisekosten respektive Zehrgelder (Spesen) fallen. Die Mehrkosten werden in jedem einzelnen Fall durch die Berufsberatenden der IV ermittelt.
Die Invalidenversicherung prüft nach dem Einreichen einer IV-Anmeldung individuell, ob zusätzlich zu einer medizinischen Behandlung eine leidensbedingte Unterstützung für das Bewältigen einer Erstausbildung erforderlich ist. Ist dies der Fall, wird die IV-Berufsberatung die vorliegende Situation in einer professionellen Bildungsberatung mit Hilfe einer individuellen Interessen- und Ressourcenabklärung besprechen und gemeinsam mit den Jugendlichen, den Eltern und den Therapiestellen die notwendigen nächsten Schritte festlegen. Je nach Grad des erhobenen Unterstützungsbedarfs wird die Intensität der Begleitleistungen im entsprechenden Wunschberuf bestimmt. In einigen Fällen braucht es für den Erfolg der Erstausbildung nur die Übernahme eines begleitenden (ADHS-)Coachings oder des Lehrlingslohnes in Form von Taggeldern. In anderen Fällen sind umfassende sozialrehabilitative Massnahmen vor der eigentlichen Ausbildung im geschützten Rahmen und ein leidensbedingtes betreutes Wohnen notwendig. Jede berufliche Massnahme ist eine individuelle Einzellösung und wird auf den langfristigen Verbleib im ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet.
 
Aufgaben der Invalidenversicherung der Zukunft
 
Die Aufgaben der Invalidenversicherung im Bereich der beruflichen Bildung werden auch in Zukunft von Bedeutung sein. In seiner Botschaft vom Februar 2017 hat der Bundesrat für die nächste IV-Revision umfassende Leistungen für junge Versicherte und vor allem für junge Menschen mit psychischen Schwierigkeiten in Aussicht gestellt. Für die Begleitung junger Versicherter in die Erwerbstätigkeit soll der Invalidenversicherung künftig sogar eine umfassende Querschnittsfunktion zukommen, die auch präventive Massnahmen zur Vermeidung einer Leidens-Chronifizierung respektive Invalidität beinhaltet.
Bereits heute sind die beruflichen Massnahmen der Invalidenversicherung auf individuelle Versichertenbedürfnisse ausgerichtete Leistungspakete, die auch den Zugang zu notwendigen Sondersettings beinhalten ohne dabei Familien finanziell zu belasten. Diese Massnahmen unterstützen Jugendliche mit gesundheitlicher Problematik umfassend und leiten zu einer selbstgeführten Lebensgestaltung respektive finanziellen Unabhängigkeit an.
Eine frühzeitige Anmeldung trägt damit entscheidend dazu bei, Jugendlichen mit relevanten Schwierigkeiten rechtzeitig in eine Erstausbildung zu verhelfen, den Eintritt in den Arbeitsmarkt zu unterstützen und soziale Risiken zu mindern. 
 
Hinweis: Im Rahmen der Aktionstage psychische Gesundheit organisieren die Beratungsdienste ask!, die IV-Berufsberatung Aargau und Betroffene am 23.10.2018, 19.00 Uhr in der Aula der neuen Kantonsschule Aarau, eine öffentliche Veranstaltung mit anschliessendem Apéro zum gleichen Thema: „Zappelphilipp, Dreamer und Chaosprinzessin“: 
Erfolgreiche Unterstützung von Jugendlichen mit ADHS/ADS in der beruflichen Erstausbildung
 
 
 
 

ADHS in der Berufsausbildung – Sag ich’s oder verschweige ich’s?

Die Berufs-, Studien- und Laufbahnberaterin Bernadette Casasola hat 2017 eine spannende Masterarbeit zu diesem Thema verfasst. Die Sozialpädagogin ist in Basel tätig als SVA-Eingliederungs­beraterin. Das Ergebnis wollen wir unseren auf ADHS-spezialisierten Fachpersonen nicht vorenthalten, da es im Kontext der Tagungsreferate eine interessante Ergänzung darstellt. 
Zusammenfassung von Isolde Schaffter-Wieland, Vorstandsmitglied SFG ADHS
 
Viele ADHS-Betroffene und/oder deren Eltern fragen sich während der Lehrstellensuche: «Wie rea­giert der Lehrbetrieb, wenn ich meine ADHS offen kommuniziere, und wann ist der richtige Zeit­punkt, ihn darüber in Kenntnis zu setzen?» Um diese Frage beantworten zu können, braucht es Erfahrungswerte der Lehrbetriebe. Im Rahmen der Masterarbeit zur Berufs-, Studien- und Laufbahn­beraterin an der FHNW in Olten nahmen im September 2016 total 506 Lehrbetriebe im Kanton Solothurn an der Umfrage von Bernadette Casasola zum Thema «ADHS in der Berufsausbildung» teil. Insgesamt wurden 2027 Lehrbetriebe angeschrieben und zu ihren Erfahrungen mit ADHS be­fragt. Der Rücklauf der Online-Fragebögen betrug 25%.
 
Lehrbetriebe schätzen es sehr, wenn sie von ihren Lernenden über die Diagnose ADHS informiert werden, relevant dafür ist der richtige Zeitpunkt.
 
Die nachfolgenden Auswertungen zeigen auf, wie die Lehrbetriebe geantwortet haben, was ihnen wichtig ist und welche Erfahrungen mit ADHS vorhanden sind.
 
Ein erster Überblick der ausgewerteten Rückmeldungen:
 
Lehrbetriebe, die ADHS bis zur Umfrage nicht kannten
62
Lehrbetriebe, denen ADHS aus dem beruflichen und/oder privaten Umfeld bekannt ist
444
Lehrbetriebe, die in den vergangenen 5 Jahren Lernende mit ADHS ausgebildet haben
70
Lehrbetriebe, die keine Lernenden mit ADHS ausbilden würden
(94 Lehrbetriebe mit ADHS-Kenntnissen und 17 ohne ADHS-Kenntnisse)
121
Lehrbetriebe, denen ADHS bekannt ist und die Lernende mit ADHS ausbilden würden
385
 
Nachfolgende Statistik zeigt auf, ob und wann die Lehrbetriebe von den Lernenden über die Aufmerk­sam­keits­defizitstörung informiert werden möchten:
 
 
Diese Auswertung beinhaltet die Antworten der 70 Lehrbetriebe mit ADHS-betroffenen Lernenden und die der 280 Lehrbetriebe, denen ADHS bekannt ist und die Lernende ausbilden würden. Die 62 Lehrbetriebe ohne ADHS-Kenntnisse sowie die 94 Lehrbetriebe, die keine Lernenden mit ADHS ausbilden würden, wurden dazu nicht befragt.
88% der Lehrbetriebe möchten bereits während des Bewerbungsprozesses von der ADHS erfahren. Persönliche Anmerkungen der Lehrbetriebe verdeutlichen, dass eine durchgehend offene und ehrliche Kommunikation sehr geschätzt wird. Dies aus dem Grund, dass sich der Lehrbetrieb besser auf die Situation einstellen und darauf vorbereiten kann.
Wie und ob die 70 Lehrbetriebe mit ADHS-betroffenen Lernenden informiert worden sind, zeigt folgendes Diagramm:
 
 
Die Rückmeldungen der Lehrbetriebe, die bereits Erfahrungen in der Ausbildung mit ADHS-betroffe­nen Lernenden haben, zeigen auf, dass dies in Wirklichkeit anders gehandhabt wird. Lediglich 33% der Lehrbetriebe wurden während der Bewerbungsphase respektive innerhalb der ersten Monate informiert.
 
Die Lernenden mit ADHS verteilen sich wie folgt auf die Lehrbetriebe:
 
 
An der Umfrage haben 98 Lehrbetriebe teilgenommen, die mehr als 100 Mitarbeitende beschäftigen, 40 Betriebe mit 51–100 Mitarbeitenden und jeweils 184 Lehrbetriebe mit bis zu 10 und zwischen 11 und 50 Mitarbeitenden.
Die 70 teilnehmenden Lehrbetriebe haben innerhalb der letzten 5 Jahre insgesamt 77 Lernende mit ADHS ausgebildet.
 
Nachfolgendes Balkendiagramm zeigt, welche beruflichen Grundbildungen ab­sol­viert wurden:
 
 
Die Lehrbetriebe schätzen eine gute Zusammenarbeit mit den Eltern als wichtigste Bezugspersonen der Lernenden – egal, ob mit oder ohne ADHS.
 
Weitere bekannte Unterstützungsmassnahmen sind folgende:
 
 
73 Lehrbetriebe geben an, dass sie keine der aufgelisteten Unterstützungsmassnahmen kennen. Unter «Andere» wurden folgende Unterstützungsmassnahmen angegeben: Ritalin, interne Wechsel in ein ruhigeres Setting, Ernährung, Naturheilmethoden, Kinesiologie, mehr Zeit sowie Unterstützung durch die Invalidenversicherung.
Unterstützungsmassnahmen sollen individuell angepasst und punktuell eingesetzt werden: So viel wie nötig und so wenig wie möglich! Jede Massnahme, die einem ADHS-Betroffenen dient, ist auch für die anderen Mitarbeitenden ein Gewinn.
In 15 Fällen kam es gemäss Lehrbetrieb zu einer Auflösung des ursprünglichen Lehrvertrags aufgrund der ADHS. Von den Lehrbetrieben wurden folgende Gründe für den Lehrabbruch angegeben:
  • Die Kooperation der Lernenden und der Eltern fehlte
  • Schule war zu anspruchsvoll
  • Ungenügende Entwicklung/Leistung
  • Starke psychische Belastung
  • Lernender wollte nicht mehr
  • Wechsel von EFZ in EBA
  • Ausbildung in anderem Betrieb weitergeführt
  • Die Umsetzung in die Praxis funktionierte nicht, die Lernende war unkonzentriert, nicht krank­heitseinsichtig, nicht ehrlich
  • Konnte nicht zu eigenen Fehlern stehen, grosse Konzentrationsschwächen am Arbeits­platz
Bei der genauen Analyse der 15 Lehrvertragsauflösungen zeigt sich, dass es in 10 Fällen effektiv zu einem Lehrabbruch ohne direkte Anschlusslösung innerhalb des Lehrbetriebs oder in einem anderen Lehrbetrieb gekommen ist. 3 Lehrverhältnisse wurden innerhalb vom Lehrbetrieb in ein angepasstes Niveau umgewandelt (vom Logistiker EFZ in EBA, vom KV E-Profil ins B-Profil und vom Elektroinstalla­teur zum Montageelektriker). Ein Lernender in der Ausbildung zum Koch EFZ wurde von einem ande­ren Betrieb nahtlos übernommen. Ein Jugendlicher in Ausbildung zum Informatiker wurde von der Berufsschule verwiesen. Der Lehrbetrieb beschäftigte den Jugendlichen aber weiterhin als Praktikan­ten, bis eine Anschlusslösung (KV B-Profil) mit Unterstützung der Invalidenversicherung gefunden werden konnte.
Kommt es während der Ausbildung zu Problemen/Schwierigkeiten, sollte wie bei allen Lernenden dif­fe­renziert werden, wo die Ursache liegt und was genau Schwierigkeiten bereitet. Kristallisiert sich im Laufe der Zeit heraus, dass die sogenannte «Chemie» zwischen Lehrbetrieb und Lernenden nicht stimmt, der Beruf aber der Richtige ist, dann kann ein Wechsel in einen anderen Lehrbetrieb für alle Beteiligten eine Entlastung sein.
 
Die Frage: «Würden Sie Jugendlichen mit ADHS eine berufliche Grundausbildung in Ihrem Betrieb ermöglichen?» wurde folgendermassen beantwortet:
 
 
76% der 506 teilnehmenden Lehrbetriebe sind bereit, einen Lernenden mit ADHS auszubilden. Dies ist eine erfreuliche Zahl und verdeutlicht auch das Engagement der Lehrbetriebe. Welche Gründe 121 Lehrbetriebe dazu veranlasst hat, keine Lernenden mit ADHS auszubilden, kann anhand dieser Um­fra­ge nicht abschliessend evaluiert werden. Genannte relevante Gründe können die Arbeitssicher­heit, ein hektisches Arbeitsumfeld sowie Grossraumbüros sein.
 
Die Lehrbetriebe schätzen an «ihren» Lernenden mit ADHS die offene und aufgestellte Wesensart, die Begeisterungsfähigkeit und Motivation sowie ihre Dankbarkeit (dies ist lediglich ein Auszug der indivi­duellen Rückmeldungen der Lehrbetriebe).
 
Fazit
Es ist empfehlenswert und sinnvoll, den Lehrbetrieb über die ADHS zu informieren. Die Aufmerksam­keits­de­fizit­störung mit oder ohne Hyperaktivität/Hypoaktivität soll aber nicht den ganzen Bewer­bungs­prozess überschatten!
Die Lernenden mit ADHS müssen die Möglichkeit haben, sich wie alle Lehrstellensuchenden zu em­pfehlen, indem sie sich bewerben, am Vorstellungsgespräch präsentieren und ihre Fähigkeiten wäh­rend der Schnupperlehre unter Beweis stellen können. Sind diese «Hürden» genommen und der Lehrbetrieb signalisiert weiterhin Interesse an einem Lehrverhältnis, dann ist ein idealer Zeitpunkt, die ADHS zu kommunizieren. Die Jugendlichen haben ihre Chance genutzt und den Lehrbetrieb aus eigener Kraft von ihrer Eignung überzeugt. Ein Erfolgserlebnis, auf das sie stolz sein können und das sich positiv auf das Selbstwertgefühl auswirkt!
Kommt es aufgrund der ADHS zu keinem Lehrverhältnis, muss geklärt werden, welche Gründe den Lehrbetrieb dazu veranlasst haben, sich gegen einen Lehrvertrag zu entscheiden. Kommen zum Bei­spiel Bedenken in Bezug auf die Arbeitssicherheit auf, besteht allenfalls die Möglichkeit, während eines erneuten Schnuppereinsatzes den zukünftigen Lehrmeister vom Gegenteil zu überzeugen und die Bedenken zu überprüfen. Blockt der Lehrbetrieb ab, weil er nicht bereit ist, sich auf einen Lernen­den mit ADHS einzulassen, stellt sich grundsätzlich die Frage, ob dieser Betrieb der geeignete Ausbil­dungsplatz ist. Klar ist es frustrierend, die Lehrstelle kurz vor dem Ziel nicht erhalten zu haben. Be­denkt man aber, dass die Lernenden die nächsten zwei bis vier Jahre auf einen Lehrbetrieb angewie­sen sind, der aus irgendwelchen Gründen keine Lernende mit ADHS ausbilden möchte, ist es besser, dass auch der Lehrbetrieb mit offenen Karten spielt. Eine Lehrvertragsauflösung sollte, wann immer möglich, vermieden werden.
Welche Entscheidung letztlich die Richtige ist, muss individuell jeder für sich beantworten. Idealer­weise können die Erkenntnisse aus dieser Umfrage für die Entscheidungsfindung genutzt werden.
 
Links und weitere Merkblätter zum Thema:
 
ADHS bei Lernenden
 
Nachteilsausgleich
 
 
 

ADHS Analog (2): Die Arbeit mit dem IST-SOLL-Tier

Ursula Ammann, MAS ZHAW Supervison, Coaching und OE, ADHS-Coach
 
In einer regelmässigen Serie schreibt Ursula Ammann über analoge Methoden, die sich im Therapie- und Coaching-Bereich bewährt haben. Heute das IST-SOLL-Tier.
Tierassoziationen haben wir alle immer mal wieder: „Der ist langsam wie eine Schnecke“, „Sie hat einen Adlerblick“, „der macht sich zum Affen“ - um nur einige wenige zu nennen.
Das haben sich verschiedene Therapierichtungen immer wieder zunutze gemacht. Fast jeder kennt das System der Kinderzeichnungen „Familie in Tieren“1, die ursprünglich aus der Psychoanalyse kommt. Auch Gestalt-, systemische und andere Therapieformen setzen auf Tierfiguren, wenn es um freies Assoziieren geht oder um das Bewusstmachen von Verhaltensmustern, Stellungen in Systemen etc.2
Die Arbeit mit Tierfiguren verleiht schwierigen Themen etwas Spielerisches und ermöglicht es dem Klienten und Coach/Therapeuten, auf eine Metaebene zu gehen.
Heute möchte ich Sie mitnehmen in das Arbeiten mit IST-SOLL-Tieren. Vorausschicken möchte ich einige «technische» Vorbemerkungen:
  • ich arbeite fast ausschliesslich mit Schleichtieren, da diese in jedem gut sortierten Warenhaus erhältlich sind und die Klienten sich dann diese bei Bedarf auch selbst kaufen können
  • Bei Kindern kann es Sinn machen, vorweg zu klären, welches ihre Lieblingstiere sind, und diese sind dann eventuell aus der Auswahl zu entfernen. Dies ist beim IST-SOLL Tier nicht so wichtig, bei einer Geno- oder Systemogrammaufstellung jedoch schon, da sich sonst das Resultat verfälscht
  • Alle analogen Arbeiten sind immer nur Momentaufnahmen, können an einem anderen Tag anders ausfallen. Das macht nichts und kann den Klienten auch entlasten.
  • Bitte nicht zu viel Zeit für die Auswahl der Tiere geben und diese auch nicht kommentieren. Es geht darum, Gedanken und Gefühle von der kognitiven Ebene wegzuholen und einen intuitiven Ansatz zu verfolgen. Wenn zu viel Zeit gegeben wird, überlegen sich die Klienten oftmals die Eigenschaften, die dem Tier zugeschrieben werden.
  • Und besonders wichtig: Die Interpretationshoheit liegt immer beim Klienten!
 
Mit dem IST-SOLL-Tier arbeite ich vor allem in Situationen, in denen sich der Klient, die Klientin wünscht, anders zu sein, sich anders zu verhalten oder eine neue Stellung beispielsweise in einem Team einzunehmen.
Mein Gegenüber sucht sich in der Folge aus einer gut präsentierten Tier-Auswahl zwei Tiere aus. Eines für das momentane IST-Empfinden, eines für das gewünschte SOLL-Sein.
Ich lasse mir erzählen, welche Gedanken zur Tierauswahl geführt haben und was sonst noch so durch den Kopf huscht. Dann arbeiten wir daran, was vom SOLL Tier schon vorhanden ist und auch, was vom IST-Tier unbedingt erhalten bleiben sollte.
Manchmal ist das SOLL-Tier utopisch. Das kann verschiedene Ursachen haben und muss sorgfältig angesprochen werden:
 
1.      Würdigen der „Sehnsuchtsziele“
2.      Würdigen der Frustration darüber, dass sie nicht erreichbar sind
3.      Würdigen der Ambivalenz gegen Alternativen
4.      Muster suchen, welche Wahrscheinlichkeit erhöhen, Gewünschtes zu erreichen
5.      Angebot vom „Zweitbesten“  (Nach Gunter Schmidt)
 
Unter Umständen kann man zwei SOLL-Tiere auswählen lassen, was in meiner Praxis jedoch eher selten vorkommt. Eines als „Identifikationsfigur“ und eines als „Differenzierungsfigur“ mit der Bedeutung «das ganz bestimmt nicht».
In der Folge sprechen wir darüber, wie es sich anfühlen würde, als SOLL-Tier zu agieren. Was hinderlich sein könnte und was man noch zur Umsetzung braucht.
 
Im hier gezeigten Beispiel3 hat sich eine Frau Mitte dreissig als Faultier im IST aufgestellt und als sich aufbäumendes Pferd im SOLL. Sie leidet an einer ausgeprägten Prokrastination und wünscht sich sehnlichst Veränderung - ohne etwas dafür tun zu müssen. Im Laufe der Arbeit kam sie zur
Erkenntnis, dass es für sie auch Vorteile hat, wenn man als Faultier wahrgenommen wird, da dann die Erwartungen von aussen automatisch tiefer sind. Ihr ursprüngliches Ziel des sich aufbäumenden Pferdes erschien ihr zwar verlockend, aber doch sehr anstrengend. So entschloss sie sich, lieber in der aktuellen Arbeitssituation zu bleiben und das Pferd nur in der Freizeit zu zeigen. Auf die Arbeit, das Pferd in ihr zu trainieren, wollte sie sich nicht einlassen, da ihr dies zu viel war. Es ging dann in der Folge darum, dass das Faultier sich arbeitstechnisch so positioniert, dass es sich Struktur gibt, die geforderten Aufgaben zu erledigen.
 
 
Das Beispiel zeigt auch, wie wichtig es ist, eigene Interpretationen zu meiden und den Klienten/die Klientin einfach im selbstgewählten Weg zu unterstützen und miteinander zu erarbeiten, welche Konsequenzen welches Verhalten haben kann.
Man kann auch hier, wie bereits im Baustellen-Beispiel, mit einer Skalierung arbeiten. Im oben erwähnten Fall sah diese dann so aus:
Oftmals wird vom Klienten aber das SOLL Tier als Zielelement angestrebt, wie im folgenden Beispiel:
 
 
 
 
 
Hier handelte es sich um eine 40 jährige Mutter, die sowohl den Schwan wie auch den Occtopus als IST-Tier gewählt hatte. Letzteren übrigens erst nach einem weiteren Gespräch – mit Scham und der Aussage „dass sie so sehr klammere und nichts loslassen könne“. Ihr Wunsch war, Züge eines Tigers zeigen zu können und sich nicht mehr für alles verantwortlich zu fühlen. Insbesondere nicht für ihre inzwischen erwachsenen Kinder. Schritt für Schritt überprüfte sie ihre Handlungen am Ziel des „Mini-Tiger-Seins“ und kaufte sich diesen auch um ihn in der Hosentasche mitzuführen als Erinnerungshilfe.
In meiner Erfahrung macht die Arbeit mit Tierfiguren allen Klienten Spass und bringt einen spielerischen Zugang in eine manchmal schwere Thematik. Viel Spass beim Ausprobieren. Wie immer stehe ich für Fragen oder entsprechende Methoden-Supervisionen gerne zur Verfügung!
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Ursula Ammann, MAS ZHAW Supervison, Coaching und OE. Eigene Coachingpraxis www.amteam.ch, Dozentin und Studienleiterin am www.icptp.ch
 
1 Brem Luitgard Familie in Tieren (Kinderzeichnungen)  Reinhardt, Basel, 2011 – 10 Auflage
2 Natho, Frank    Gespräche mit dem inneren Schweinehund Vandenhoeck & Rupprecht, Göttingen, 2010 – 2. Auflage
3 Alle Beispiele Anonymisiert
 
 
 
 

Mitglieder-Tagung «ADHS und Versicherungsmedizin» vom 22. März 2018

Isolde Schaffter-Wieland, Vorstandsmitglied SFG ADHS
 
Die SFG ADHS hat es sehr gefreut: 65 Interessierte fanden an diesem sonnigen Frühlingstag den Weg nach Olten, um an der Tagung mit anschliessender Mitgliederversammlung teilzunehmen. Die Refe­renten sind renommierte Fachpersonen und fanden entsprechend Aufmerksamkeit im Publikum.
 
Dr. med. Detlev Blocher, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, stellte die ADHS-Begutach­tung einerseits vom strafrechtlichen Gesichtspunkt und andererseits vom versicherungsrechtlichen Aspekt her in den Fokus. Seine Ausführungen über den Risikofaktor ADHS in Bezug auf ein delinquen­tes Verhalten zeichnen ein ernüchterndes Bild. Eine Realität, die in der Gesellschaft in diesem Aus­mass noch nicht wahrgenommen, jedoch in Fachkreisen sehr wohl thematisiert wird. Kinder mit einer ADHS entwickeln in bis zu 50 Prozent der Fälle Störungen im Sozialverhalten. Die Wahrschein­lichkeit, Gewalt- oder Eigentumsdelikte zu begehen, ist bei ihnen erhöht. Umso wichtiger ist es, dass Eltern für eine multimodale Behandlung sensibilisiert werden, um dem betroffenen Kind einen mög­lichst deliktfreien Weg ins Erwachsenenalter zu ermöglichen. Studien belegen, dass die Prävalenz von ADHS in Gefängnispopulationen bis zu 50% beträgt! Im Vergleich zu anderen Straftätern beginnt bei ihnen die Delinquenz durchschnittlich 10 Jahre früher.
 
So ist die ADHS ein Risikofaktor für:
  • Antisoziale Persönlichkeitsstörung > Gewalttätigkeit und Aggressivität
  • Suchterkrankungen > Betäubungsmittel- und Eigentumsdelikte
  • Stimmungs- und Impulskontrollstörungen > Sexualdelikte
Die ADHS-Anamnese erhöht das Risiko einer späteren Delinquenz um die Faktoren 6 bis 8.
Moderierender Faktor ist meist die Störung des Sozialverhaltens bzw. die dissoziale Persönlich­keitsstörung. (Blocher & Rösler 2001, Ziegler et. al 2003, Blocher 2009, 2013)
An erster Stelle der Delikte stehen Drogen- (80,3 %), gefolgt von Sexualdelikten (77,8 %), Gewalttätig­keit (77,4%) und Eigentumsdelikten (75,1%). Die Betroffenen zeigen oft auch während des Strafvoll­zugs ein auffälliges Verhalten, vor allem, wenn die Hyperaktivität nicht ausgelebt werden kann. Wie können Delinquente mit einer ausgeprägten ADHS vor einer weiteren Straffälligkeit präventiv be­handelt werden? Denn die Erfahrung zeigt gemäss Studien: Ohne Behandlung mit Stimulanzien oder einem späteren Abbruch der Medikation droht auch eine schnellere Rückfälligkeit.
 
ADHS und Delinquenz - Was ist zu tun?
  • Pharmakologische Interventionen als Primärbehandlung für Kinder und Erwachsene mit ADHS (Fredriksen et al., 2013): Methylphenidat
  •  Geringere Kriminalitätsraten bei ADHS Patienten innerhalb Perioden mit Medikamentenbehand­lung: Reduktion der Kriminalitätsrate um 32% bei Männern und 41% bei Frauen (Lichtenstein et al., 2012)
  • Stimulanzientherapie geht nicht mit einem erhöhten Risiko für Substanzmissbrauch einher (Chang et al., 2013; Ginsberg et al. 2015).
Zum Abschluss erläuterte Dr. Blocher, der seit 2017 im RAD der IV-Stelle des Kantons Bern arbeitet, das Versicherungsrecht und wie die IV im Falle einer adulten ADHS vorgeht. Hier die wichtigsten Punkte im Überblick.
 
Allgemeine Aspekte der IV
  • Zusprache einer Rente bei Personen im Alter zwischen 18 und 24 Jahren hat zwischen 2008 – 2012 um 11 Prozent (BSV) zugenommen
  • Klar gilt die Regel: Eingliederung vor Rente
  • In Bern werden die Anträge der jungen Versicherten zukünftig gleich durch die Eingliederungsfachpersonen bearbeitet
 
Für die Versicherungsmedizinische Beurteilung sind relevante Faktoren:
  • die Diagnostik
  • der Verlauf der Störung
  • die Funktionsbeeinträchtigungen
  • Therapiemöglichkeiten
 
Für die Diagnostik der adulten Form des ADHS sind massgebend:
  • Der Nachweis der ADHS-Symptomatik im Kindes- und Jugendalter
  •  retrospektive Erfassung mit testpsychologischen Instrumenten
  •  fremdanamnestische Angaben
  • Die Befunde über frühere Anmeldungen bei der IV als GG
  • Zeugnisse für die relevanten Lebensabschnitte
  • Erfassung der klinischen Symptomatik seit der Jugend und dem frühen Erwachsenenalter bis zum Anmeldezeitpunkt
  • Testpsychologische bzw. neuropsychologische Abklärung
  • Festlegung auf einen Subtypus
  • Keine andere Störung kann die Symptomatik besser erklären
 
Und letztlich zählen als relevante Faktoren für die IV-Anmeldung:
  • ADHS-Diagnose lege artis
  • Nachweis einer ADHS-Symptomatik im Kindes- und Jugendalter
  • • umfangreiche Abklärung möglicher komorbider Störungen (psychisch und somatisch)
  • Standardisierte Erfassung der Funktionsbeeinträchtigungen
  • Darlegung des therapeutischen Verlaufs
  • umfangreiche Informationen zum sozialen Umfeld
 
Das aufschlussreiche Referat von Dr. Blocher legte eine optimale Basis zum nachfolgenden dynami­schen Fachgespräch zwischen Dr. Oliver Bilke-Hentsch, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie FMH, FA Vertrauensarzt (SGV) und Markus Bonelli, Sekretär der Schweizerischen Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte SGV. Die beiden tauschten sich in einem angeregten Frage- und Antwortmodus über Mythen und Fakten im Kontext von ADHS und (Kranken-)-Versicherungsmedi­zin aus. „In Bezug auf ADHS gibt es unterschiedliche Blickwinkel“, hielt Dr. Bilke-Hentsch gleich zu Be­ginn fest. Er sprach dabei die Positionen von Medizin, Recht, Politik und Gesellschaft an, die sich kontro­vers gegenüber­­stehen würden. Die beiden Experten versuchten die vertrauensärztlichen Rahmen­bedingungen zu beleuchten und Lösungsansätze für Spannungsfelder zwischen behandeln­den ÄrztInnen und VertrauensärztInnen zu entwickeln. Der Interpretations­spielraum mache es oft schwierig und die „Juristerei“ hinke der Medizin leider hinterher. Die Rolle des Vertrauensarztes umschrieb Dr. Bilke-Hentsch mit folgenden Worten: „Bei ihm landet, was von Gesetzes wegen sein muss.“ In der Diskussion ging es hauptsächlich um die Verweigerung der Kostenübernahme gewisser ADHS-Medikamente. Die Preise würden dabei keine Rolle spielen, sondern die Limitation, betonte Markus Bonelli. Ein Tagungsteilnehmer fragte: „Was haben unsere ADHS-Patienten unseren Ver­siche­rern angetan, wenn es um die Akzeptanz von Stimulanzien geht?“ Der Vertrauensarzt war der Auffassung, dass die gesellschaftspolitische Haltung dabei sicher auch einen Einfluss hat.
Im Anschluss an diesen spannenden Austausch fand die Mitgliederversammlung mit 30 Anwesenden (inklusive Vorstand) statt. Co-Präsident, Prof. Dr. Thomas Müller bedankte sich bei den Mitgliedern für das Vertrauen und wies darauf hin, dass die SFG ADHS ihre Dienstleistungen weiter ausbaue und die Weiterbildung für Hausärzte in den Qualitätszirkeln aktiv gefördert würde. In Erarbeitung befin­det sich für unsere Mitglieder ein spezieller Medikamentenpass (Dokument für Auto und Ausland­reisen). Die SFG ADHS ist weiter bestrebt, sich mit medizinischen und wissenschaftlichen Stellung­nah­men anlässlich politischer Interventionen zu positionieren. Froh wäre der Vorstand über Feed­backs und Anregungen zur neuen Webseite, damit sie optimal auf die Bedürfnisse der Mitglieder ab­gestimmt werden kann.