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ADHS Aktuell

 
Editorial
 

Der aktuelle Newsletter legt den Schwerpunkt auf das Thema ADHS und ASS:

  • Isolde Schaffter-Wieland berichtet von der Mitgliedertagung 2019 unter dem Titel «ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen». Sie gibt einen Einblick in die Referate von Dr. med. Ronnie Gundelfinger und Dr. med. Peter Eisler, die zeigen: Fachpersonen, die mit ADHS-Betroffenen arbeiten, sollten sich auch mit ASS auskennen. So zeigen gemäss einer schwedischen Studie 50-75% der Kinder mit einer ASS-Diagnose eine klinisch relevante ADHS, während 7-15% der ADHS-betroffenen Kinder gravierende autistische Symptome aufweisen.
  • Dr. med. Peter Eisler beschreibt in seinem Artikel «Erfahrungsbericht eines Schweizer ASS-Pioniers» eindrücklich, wie fordernd und oft überfordernd der Alltag für ASS-Betroffene sein kann. Im Artikel wird deutlich, dass ASS-Betroffene und «Neurotypische» in unterschiedlichen «Kulturen» leben.
  • Ursula Ammann betont, wie wichtig die Psychoedukation bei ADHS ist und dass sie mit Besorgnis feststellt, dass ihre Klienten oft lediglich oberflächlich über ihre Symptomatik aufgeklärt wurden. Sie ihrer Kolumne stellt sie kreative Wege der Psychoedukation vor.
  • Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund gehen in ihrem Artikel der Frage nach, ob regelmässige Achtsamkeitspraxis für ADHS-Betroffene hilfreich sein könnte.

Herzliche Grüsse,

Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund

 
 

Mitglieder-Tagung 2019: ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen

Isolde Schaffter-Wieland, VS-Mitglied SFG ADHS
 

Das Tagungsmotto ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen interessierte offenbar eine grosse Mitgliederzahl: So fanden sich knapp 70 Fachpersonen im Bahnhofbuffet Olten zusammen. Ein echter Erfolg! SFG ADHS Co-Präsident Dr. Thomas Müller begrüsste die Anwesenden zum spannenden Anlass und wies darauf hin, dass Asperger in der Gesellschaft eher etabliert sei, als eine ADHS-Diagnose.

Das Eröffnungsreferat hielt Dr. med. Ronnie Gundelfinger, Leitender Arzt der Fachstelle Autismus in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychiatrie (KJPP) Zürich. Der frühkindliche Autismus wurde zuerst vom Kinder- und Jugendpsychiater Leo Kanner (1894-1981) beschrieben. Der in die USA ausgewanderte Österreicher diagnostizierte 1943 bei elf Kindern eine „autistische Störung des affektiven Kontakts“, die später unter dem Namen „frühkindlicher Autismus“ bekannt wurde.

Für den Kanner-Autismus galten folgende Merkmale:

  • Unfähigkeit, soziale Beziehungen einzugehen
  • Unfähigkeit, Sprache zur Kommunikation einzusetzen
  • Zwanghafter Wunsch, Gleichheit zu bewahren
  • Faszination für Objekte
  • Auftreten der Symptome vor dem Alter von 2 1⁄2 Jahren

Wie Kanner war der Pädiater Hans Asperger (1906-1980) gebürtiger Österreicher und definierte 1944 die Störung als „autistische Psychopathie“. Die beiden veröffentlichten fast zeitgleich ihre Publikationen zum frühkindlichen Autismus, die zudem grosse Ähnlichkeiten aufwiesen.

Aspergers Veröffentlichung enthielt die Beschreibung von vier Jungen, denen eine durchschnittliche bis hohe Intelligenz gemeinsam war, sowie:

Asperger nannte die Jungen „kleine Professoren“, da sie über das Gebiet ihres Spezialinteresses detailliert sprechen konnten und oft ein erstaunliches Wissen ansammelten. „Die Natur dieser Kinder offenbart sich am deutlichsten in ihrem Verhalten anderen Menschen gegenüber. In der Tat, ihr Verhalten in einer Gruppe ist das klarste Zeichen für ihre Behinderung und die Ursache für Konflikte von frühester Kindheit an.“

Im Alltag sind diese Kinder gemäss Ronnie Gundelfinger mit folgenden Problemen konfrontiert:

  • Sie finden keinen Anschluss, werden ausgegrenzt und geplagt
  • Sie halten sich nicht an Regeln und Konventionen
  • Sie machen verletzende Bemerkungen
  • Sie wollen fast ausschliesslich über ihr Lieblingsthema reden
  • Sie wenden extrem viel Zeit für ihre Hobbys auf
  • Sie hängen sehr an festen Abläufen und haben Mühe mit Unvorgesehenem
  • Sie haben Mühe mit Nähe und Distanz
  • Sie sind oft motorisch ungeschickt
  • Sie zeigen oft sensorische Überempfindlichkeiten (Essen, Gerüche, Lärm, Kleider)

Grundgefühle eines ASS-Betroffenen im Alltag sind Stress und Angst. Die beiden Hauptfaktoren werden beeinflusst und ausgelöst durch:

  • Reizüberflutung,
  • unbefriedigte Erwartungen
  • unerwartete Veränderungen
  • Mangel an Verständnis für soziale Situationen
  • berufliche / soziale Herausforderungen

Knaben, respektive Männer, sind prozentual häufiger von einer ASS betroffen als Mädchen und Frauen:

  • Die Symptomatik ist bei ihnen subtiler und im Vergleich zu derjenigen bei Jungen oft weniger ausgeprägt.
  • Mädchen verfügen über mehr soziales Interesse und mehr soziale Kompetenzen.
  • Mädchen reagieren eher passiv und mit Rückzug, was dem gesellschaftlichen Rollenbild (still, schüchtern) entspricht.
  • Mädchen fallen weniger auf und verhalten sich weniger störend. Die AS- Verhaltensweisen werden rollentypisch interpretiert (mangelnder Blickkontakt = schüchtern)
  • Mädchen tarnen ihre Schwierigkeiten besser. Sie nutzen ihre (gute) Intelligenz, um ihre sozialen Schwierigkeiten zu verstecken.

Gemäss einer schwedischen Studie haben:

  • 50 -75 % der Kinder mit Asperger-Syndrom eine klinisch relevante ADHS.
  • 7 – 15 % der Kinder mit ADHS gravierende autistische Symptome.

Wie bei einer ADHS gibt es auch bei einem Asperger auffallende Stärken:

  • Die Beziehung zu Mitmenschen ist geprägt von absoluter Zuverlässigkeit und Loyalität
  • Frei von sexistischem oder anderem vorurteilsbehaftetem Denken
  • Ehrliche Kommunikation ohne Hintergedanken oder Doppeldeutigkeiten
  • Originelle Art der Problemlösung
  • Aussergewöhnliches Gedächtnis für Details
  • Enzyklopädisches Wissen über Spezialgebiete

Interessierte Leser können sich im Mitgliederbereich das sehr aufschlussreiche Fachreferat von Dr. Gundelfinger als Handout herunterladen, indem auch die Diagnostik ausführlich zur Sprache kommt.

Dr. Peter Eisler, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Zürich holte das Publikum auf eine sehr persönliche und zuweilen humorvoll-provokative Art und Weise ab. Er schickte es gleich vorab, dass er lieber von einer «Struktur» spreche als von einer Störung. Er habe zuerst ADHS-betroffene Menschen kennengelernt und sich in der Folge zunehmend für die ASS-Thematik interessiert. Er zitierte die deutsche Journalistin und Autorin Denise Linke, bei der 2011 Autismus und 2014 ADHS diagnostiziert wurde: «Autismus ist keine Krankheit – es ist eine Art zu sein.»  Der Referent erklärte zu Beginn seiner Ausführungen und Fallbeispiele: «Ich musste eine Fremdsprache lernen, um meine Patienten verstehen zu können.» Auf nachvollziehbare Weise schilderte er, dass ASS-Betroffene den Blickkontakt meiden würden, weil dies für sie Angst auslösend sei, da sie soziale Gesichtsausdrücke nicht erlernen.

Im Kontakt mit anderen Menschen müsse für sie alles logisch sein: faktisch, mit klaren Regeln und bis ins Detail erklärt. Kurz zusammengefasst bedeute dies:

  • Details bedenken, erforschen, Fakten
  • Kommunikation ist schwierig
  • Ein Satz muss analysiert werden
  • Wenig Kontextsicht
  • Muster sind Orientierung
  • Veränderungen müssen vorhersehbar sein
  • Was soll „small talk“?
  • Wie machen es die Neurotypischen?
  • Was man sagt, meint man
  • Alles muss gelernt werden

«Für ASSler ist der Alltag ein Chrampf», betont Peter Eisler. Und so gibt der Facharzt mit den Worten von Albert Camus zu bedenken: «Niemand realisiert, dass einige Menschen unglaublich viel Energie aufwenden, um normal zu sein.» Auch von diesem Referat können Sie ein Handout herunterladen.

Nach der Fragerunde gab es einen regen Austausch unter den Teilnehmenden bei einem reichhaltigen Apéro. Erfreulich war, dass immerhin 26 Personen der Mitgliederversammlung beiwohnten, die auch von 7 Vorstandsmitgliedern begleitet wurde. Angenommen wurde unter anderem auch die neue Kategorie «Senioren-Mitgliedschaft»: Mitglieder, die das Pensionsalter erreicht haben, können den Status der Seniorenmitgliedschaft wählen und bezahlen dann als Jahresbeitrag noch CHF 100.- statt CHF 200.- Die Mitgliederzahlen sind aktuell stabil (179 Einzelmitglieder/9 Kollektivmitgliedschaften/9 Klinikmitgliedschaften/4 Passiv-Mitglieder und 2 Ehrenmitglieder). Besonders freut sich die SFG ADHS über die Zunahme der Klinik-Mitgliedschaften. Dankbar sind wir auch für Anregungen aus der Runde. So besteht der Wunsch, in den kommenden Newslettern Themen wie «ADHS und Job», «ADHS im Alter» oder «Berufliche Eingliederung von Jugendlichen mit ADHS» aufzunehmen. Der Vorstand hält fest, dass die SFG ADHS politisch aktiv sein wolle, auch in Bezug auf die Krankenkassen (Kostenübernahme der Stimulanzien-Behandlung). Dabei ist es auch ein Ziel, die Mitglieder zu entlasten, die oft mit zusätzlichen administrativen Herausforderungen konfrontiert werden, um ihre Patienten zu unterstützen.

Wir danken an dieser Stelle allen, die an der Tagung und Mitgliederversammlung teilgenommen haben – neue Mitglieder sind übrigens jederzeit herzlich willkommen.


Erfahrungsbericht eines Schweizer Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) Pioniers:
Menschen mit ASS – Menschen mit ADHS im Erwachsenenalter

Dr. med. Peter Eisler, Zürich

Ich möchte von meinen Erfahrungen und meinem Lernprozess in der Arbeit mit Menschen mit einer Autismus Spektrum Struktur berichten, von denen einige auch eine ADHS zeigten. Welche Gemeinsamkeiten haben Menschen mit ASS und Menschen mit einer „reinen“ ADHS und welches sind die Unterschiede?

Ich spreche lieber von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Struktur und auch Menschen mit einer Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Struktur. Denn heute ist klar, dass sich die Gehirne dieser Menschen von den Gehirnen der “Normalen“ (Neurotypischen) unterscheiden.

 

Fremde Kulturen

Menschen mit ASS und neurotypische Menschen haben unterschiedliche Kulturen. Nach meinem Verständnis sind die Werte die Grundlage der menschlichen Kultur. Auf diesen bauen dann Normen auf. Im Alltag äussern sich diese in unserem Verhalten, unserem Verständnis und unserem Umgang mit der Wirklichkeit.

Für Menschen mit einer ASS sind Fakten und Logik wichtige Werte zur Orientierung in dieser Welt. Und für uns sogenannt „Normale“? Im Internet habe ich eine Liste von 346 Werten gefunden. Die wenigsten davon sind logisch und/oder faktisch. Viele haben mit unseren Emotionen zu tun. Zusammengefasst kann man sagen: Menschen mit einer ASS sind logik- und faktenorientiert, die Neurotypischen kontextorientiert.

Werte sind wie eine Sprache. Wenn andere Menschen andere Werte haben, sprechen sie eine andere Sprache und die Kommunikation wird schwierig. Es kann zu Missverständnissen, Vorurteilen oder gar Vorverurteilungen kommen.

Über Menschen mit einer ASS gibt es eine Menge Mythen und Vorurteile wie:

  • Alle Autisten sind geistig behindert
  • Autisten sind gut im Kopfrechnen
  • Autisten reden komisch
  • Autisten bewegen sich komisch
  • Autisten sind am liebsten allein
  • Autisten haben keine Gefühle
  • Autisten schauen einen nicht an
  • Autisten fallen auf den ersten Blick auf
  • Autisten sind alle wie „Rainman“
  • Autisten haben besondere Fähigkeiten (Savants)
  • Autismus ist heilbar

Die Vorurteile bezüglich Menschen mit einer ADHS sind Ihnen sicher bestens bekannt.

Versetzen Sie sich in Gedanken auf eine Reise in eine fremde Kultur, ohne Fremdenführer, ohne Übersetzer. Vielleicht verstehen Sie sogar die Sprache, aber deren kulturelle Bedeutung nicht. Anstrengend! So ging es mir anfangs auch. Ich musste viel lernen. Ich musste also eine „Fremdsprache“ lernen, um diese Menschen zu erfassen und für sie therapeutisch hilfreich sein zu können.

Es gibt keinen typischen ASS-Menschen. Sie sind unterschiedlich! Jeder ist ein Individuum. In meiner Arbeit mit Erwachsenen traf ich wenige, die schon als Kinder diese Diagnose bekommen haben. Die Anmeldungen erfolgten meist über KollegInnen zur diagnostischen Klärung, oder weil jemand darüber gelesen hatte und sich fragte: „bin ich eventuell so?“ Oder: „Bei meinem Kind wurde die Diagnose eines Asperger Syndroms gestellt, habe ich das auch?“ Oder: „Meine Frau hat mich geschickt, sie meint....“, usw.

 

Sozialverhalten

Menschen mit einem ADHS beherrschen die „normalen“ sozialen Regeln grundsätzlich. Dass sie dennoch manchmal anecken, hat mit ihrer Impulsivität und den Aufmerksamkeitsproblemen zu tun.

Menschen mit einer ASS verstehen die sozialen Regeln nicht. Und so treten sie oft in „Fettnäpfchen“ mit ihren direkten, faktischen Äusserungen. „Sie sind dick“. Sie stinken“. Und so ist man im Kontakt mit ihnen oft irritiert.

Während Säuglinge mit einer ADHS die Mutter (Betreuer) geradezu anstrahlen, schauen Säuglinge mit einer ASS diesen schon bald nicht mehr in die Augen. Forschungen haben ergeben, dass bei ihnen die Amygdala beim Anblick von Augen „grösste Gefahr!“ funkt. Deshalb schauen sie auf andere Dinge wie Knöpfe, etwas das glänzt oder sich bewegt. Und so lernen sie weder Mimik, noch die verschiedenen sozialen Gesichtsausdrücke, die Grundlagen des sozialen Umgangs. Auch zärtliche Berührung ist ihnen zuwider. Und doch, viele Erwachsene mit einer ASS schauen einem in die Augen. Zumindest bekommt man den Eindruck. Wenn man aber nachfragt ist die Antwort oft: „Ich schaue auf etwas über ihren Augen, auf die Stirn oder tiefer, auf die Nase, den Mund“.

Sie selbst zeigen kaum Mimik oder eine aufgesetzt wirkende, starre Mimik. Es kann sein, dass sie einen anschauen, wenn jemand spricht, nicht aber, wenn sie selber sprechen. Oft müssen sie einem alles bis ins Detail berichten, aus der Überzeugung heraus, dass das Gegenüber alles wissen muss, um sie zu verstehen. Sie merken gar nicht, dass wir eventuell gelangweilt sind und schon längst begriffen haben. Denn sie selber müssen alle Fakten kennen, um sich zu orientieren.

Auch das konnte ich mir mit einem zusätzlichen Forschungsergebnis verständlicher machen. Gehirne von Menschen mit einer ASS sind grösser als die der „Normalen“. Nun ist es aber so, dass einzelne Gebiete viele Zellen haben und lokal eng verbunden sind. Zu den anderen Gehirnregionen bestehen aber wenig Verbindungen. Ganz im Gegensatz zum *normalen“ Gehirn. Dazu passen auch die Untersuchungen, die gezeigt haben, dass die Dichte der Spiegelneuronen bei diesen Menschen viel geringer ist als bei „normalen“ Menschen. Diese Untersuchungsergebnisse passen zum Modell der theory of mind. Der Fähigkeit, die sozialen Perspektiven anderer Menschen zu übernehmen, deren Handeln zu antizipieren und mitzuschwingen. Dies beinhaltet auch die Fähigkeit, übers Zuschauen zu lernen. Sie können demzufolge die Welt nur von sich aus sehen, also auch nicht über Nachahmung lernen. Das bezeichnet man als Egozentrismus.

Somit liegt die Stärke dieser Menschen beim Erkennen von Details, den Fakten, dem genauen, logischen Verstehen. Small talk was soll das? Gefühlssteuerung, was ist das? Veränderungen müssen vorbereitet, faktisch sinnvoll und gut durchdacht sein. Sonst sind sie der pure Stress. Was man sagt, gilt! Also, wenn ich dir einmal gesagt habe „Ich liebe dich!“ dann muss ich das doch nicht dauernd wiederholen! Wenn etwas nicht erklärbar oder unvorhergesehen ist, dann ist es eine unverständliche, überfordernde Situation. Dinge müssen Regeln haben: „Ich könnte nicht Metzger werden, denn ich kenne die Regeln nicht!“ „ Ich kann auch eine Schnupperstelle nicht besuchen, denn ich weiss die Regeln nicht, wie man das macht!“ Als „Normaler“ neigt man rasch dazu, dies als faule Ausrede abzutun. Das sind aber keine faulen Ausreden, denn Menschen mit einer ASS können in solchen Situationen überfordert sein. Die normalen menschlichen Reaktionen sind nicht logisch, sie sind verwirrlich. Wie kann ich mich orientieren? Und da nicht alle zwischenmenschlichen Situationen gleich sind, muss jede einzelne neu erlernt werden. So fragte mich ein Patient einmal in der ersten Stunde, wohin genau er sich setzen sollte, was genau er mir erzählen solle und was nicht. Er brauche diese Angaben, sonst könne er sich nicht orientieren, er sei nämlich das erste Mal bei einem Psychiater und er wolle es gut machen. Ein anderer erklärte, er habe die Regeln und Abläufe vieler Frauen beim Sex genau studiert und sei nun ein super Liebhaber. Offene Fragen wie: „Wie ist es Ihnen am letzten Wochenende gegangen?“ können nicht beantwortet werden. Wann? Wo? Mit wem? Gegangen? Ich bin meist gelegen!

Es ist aber nicht so, dass Menschen mit einer ASS selber keine Gefühle hätten. Sie können auch lieben und möchten auch geliebt werden. Nur drücken sie das anders aus. Hier möchte ich auf das Buch „Ein Kaktus zum Valentinstag“ von Peter Schmidt hinweisen.

Das Modell theory of mind erklärt für mich auch zum Teil die ausgeprägte Detailsicht von Menschen mit einer ASS. Verstärkend kommt noch die Schwierigkeit der zentralen Kohärenz hinzu, also der Fähigkeit zur Verallgemeinerung und Konzeptbildung. Das kann aber auch eine Stärke sein. So können Menschen mit einer ASS rasch Fehler in einer Programmierung oder in einem Text erkennen, quasi auf einen Blick: Etwas im Muster ist nicht korrekt.

Sie können aber in einer Situation Erlerntes nicht generalisieren und auf andere Situationen übertragen. Da sich jedoch kaum zwei Situationen gleichen, müssen sie jede neue Situation neu lernen. Neue Situationen, z.B. eine Reise in eine fremde Stadt, sind eine harte Herausforderung, denn alles ist neu, jeder Baum, jedes Haus, jedes Detail. Veränderungen machen grosse Mühe, nur keine Überraschungsgeschenke, keine Überraschungsreise! Ein Besuch bei einem Arzt muss faktisch begründet sein. Eine Mutter berichtete mir, dass sie für einen Besuch beim Arzt, der auf 14 Uhr terminiert war, um 11 Uhr damit beginnen musste, ihrem Sohn zu erklären weshalb, welchen Weg und was genau geschehen werde. Der Weg zum Einkauf muss immer wieder derselbe sein, wenn möglich das Benötigte auch. Einen neuen Weg zu gehen, erfordert manchmal monatelange gedankliche Vorüberlegungen bis das möglich ist.

Und so ist es nicht erstaunlich, dass auch bei Erwachsenen mit einer ASS das Sozialverhalten hölzern, unbeteiligt, gleichgültig, selbstgerecht wirkt, was dann als narzisstische Störung fehldiagnostiziert werden kann.

„Ich gelte als Sonderling, eigenartig, aufgesetzt, arrogant, besserwisserisch, rechthaberisch, lieblos, kalt, überheblich, berechnend, gefühllos, komisch. Ich hätte einen schlechten Charakter und ich sei krank. Mit mir stimme etwas nicht.“ So erklärte sich eine Patientin mir gegenüber im Erstgespräch.

Und wie ist das bei Menschen mit einer ADHS? Es kann nicht neu genug sein!

 

Aufmerksamkeit

Bei Menschen mit einer ADHS und Menschen mit einer ASS ist der präfrontale Cortex weniger ausgebildet als bei „normalen“ und somit auch die situationsangemessene Handlungsplanung und die Regulation emotionaler Prozesse. Ich beschränke mich hier auf die Aufmerksamkeit im Sinne einer Filterstörung. Während Menschen mit einem ADHS von einem Interesse zum nächsten hüpfen – es sei denn, sie sind fasziniert – „hyperfokussieren“ Menschen mit einer ASS auf eine Sache, ein Detail, eine Struktur, eine Regel. Sie haben Spezialinteressen.

Beide Typen von Menschen können aber auch sehr rasch überfordert werden. Die Reaktion von Menschen mit einer ADHS setze ich als bekannt voraus, inklusive impulsiver Handlungen. Menschen mit einer ASS mit ihren Schwierigkeiten im Erfassen und Verstehen der zwischenmenschlichen Kommunikation können dann in einen langen Denkprozess kommen, um etwas logisch verstehen zu wollen. Oder sie können blockiert sein, sich „trotzig“ verweigern, ausgeprägte Stereotypien zeigen, in ein „meltdown“ kommen, einem völligen Zusammenbruch, der wie ein psychotischer Stupor anmutet, oder in einen Gewaltausbruch sich selbst gegenüber (Kopf gegen die Wand schlagen) oder gegenüber Gegenständen (Einrichtung zerstören) geraten.

 

Wahrnehmung

Auch Erwachsene mit einer ASS haben Auffälligkeiten im Bereich der Sinne. Danach muss man sie aber fragen, denn für sie ist es selbstverständlich = normal, dass sie zum Beispiel sehr lärmempfindlich sind oder eine ganz feine Nase haben, wenig Licht sie schon blendet, gewisse Stoffe unerträglich sind, das Essen auf dem Teller voneinander getrennt sein muss, auf keinen Fall zusammenfliessen darf oder sie gar nicht merken was sie essen, oder dieses gewisse Farben nicht haben darf, oder immer gleich sein muss. Letzteres kann auch zu Mangelerscheinungen führen und sollte abgeklärt und bei Bedarf substituiert werden. Einige Beispiele aus meiner Praxis. Eine junge Frau ass über Jahre nur Pizza. Ein junger Mann fühlte sich unwohl. Erst nach langem Nachdenken fand er heraus, dass er fror.

 

ASS und ADHS

Und dann gibt es auch Menschen, die an beidem leiden. Oft wurde die Diagnose eines ADHS bereits in der Jugend gestellt, diese erklärte aber nicht alles, vor allem nicht ein „komisches“, „asoziales“ Verhalten als Erwachsene, das sich im Beruf vor allem dann zeigt, wenn es um Teamarbeit und Betriebsausflüge geht. Vordergründig können diese Menschen sehr kommunikativ wirken, stets in Bewegung, stets am Reden. So wurde ein Patient von mir wegen seiner hohen Fachkompetenz (Spezialinteresse) und seiner Beredsamkeit zum Gruppenleiter befördert, wo er nach kurzer Zeit überfordert war, arbeitsunfähig wurde und dann von der Sozialarbeiterin zu mir zur Abklärung geschickt wurde.

 

Stärken

„Niemand realisiert, dass einige Menschen unglaublich viel Energie aufwenden, um normal zu sein“ (Albert Camus). Das gilt für viele Menschen mit einer ASS. So sein wie die „Normalen“, um jeden Preis dazugehören bis zum Burnout, zum völligen Zusammenbruch. Dabei haben auch sie viele Stärken:

  • Sie sind zuverlässig.
  • Sie sind loyal.
  • Was sie sagen, gilt in der Regel „Wort-wörtlich“.
  • Sie können nur ganz schwer lügen.
  • Sie machen nicht aus emotionalen Gründen Ausnahmen, möchten aber dazugehören und lassen sich über den Tisch ziehen.
  • Sie sind „Fakten-Freaks“, erkennen also rasch Fehler in Mustern.
  • Sie können in gewissen Gebieten ein enormes Wissen und Können haben.

Nur glauben sie selber oft nicht daran oder sehen es als Schwächen. Meiner Meinung nach ist es wichtig, in einem therapeutischen Prozess das Selbstbewusstsein und die Selbstsicherheit für diese Seiten zu stärken, wenn möglich eine Arbeit zu finden, wo diese Stärken gesucht sind und nicht vor allem das Gewicht darauf zu legen, so zu werden wie die „Normalen“.

 
 

ADHS Analog (5) PSYCHOEDUKATION

Ursula Ammann, MAS Supervision und Coaching ZHAW, Studienleiterin icp ADHS Coaching
 

In einer regelmässigen Serie schreibt Ursula Ammann über analoge Methoden, die sich im Therapie- und Coaching-Bereich bewährt haben:

Heute möchte ich nicht über eine konkrete Methode schreiben, sondern über etwas, was oft unterschätzt, aber dringend notwendig ist. In den letzten Monaten ist mir wieder vermehrt aufgefallen, dass viele unserer Patienten kaum eine Ahnung haben, was ADHS eigentlich ist und bedeutet. Wenn wir uns den selektiven Wahrnehmungsstil unserer ADHS Betroffenen vor Augen führen, mag das wenig erstaunen. Umso erstaunlicher ist es, wie viele Fachpersonen dem Bereich Psychoedukation (PE) wenig Bedeutung beimessen, oder dabei auf überladene Fachdarstellungen zurückgreifen, die Patienten eher verwirren als aufklären. Bei unseren Studierenden verlangen wir das Erstellen eines eigenen Psychoedukationsmodelles. Etwas, was wirklich zu dem Therapeuten, dem Coach passt, der das Modell anwendet. Die Präsentation dieser Modelle ist immer ein Highlight in den Vorlesungen. Da kommt geballte Phantasie mit Fachwissen zusammen. Allerdings weisen wir auch da immer darauf hin, dass Psychoedukation nicht eine einmalige Angelegenheit ist, sondern so oft wie nötig (z.B. in Teilschritten) wieder aufgegriffen werden sollte.

Es war für mich ein Schlüsselerlebnis, welches ist in der Folge mehrmals erlebte. Eine Frau mittleren Alters fragte, ob sie ihren neuen Partner einmal mitbringen könnte, damit der nachher wisse, was eigentlich diese ADHS sei. Als wir dann mit ihm Stück für Stück durchgingen, was ADHS ist, wie es sich im Alltag äussert, welche Symptome, Komorbiditäten etc dazu gehören, wurden ihre Augen immer grösser. Erschüttert fragte sie mich, ob das wirklich so sei. Mit all diesen Symptomen würde sie seit Monaten von Arzt zu Arzt rennen. Sie habe befürchtet, sie sei an Demenz erkrankt, habe zusätzlich mindestens Krebs und niemand würde das erkennen.... Neben der bekannten Hypochondrie, zu der viele ADHS Betroffenen neigen (oft eben genau, weil sie die Symptome nicht zuordnen können und sich nicht ernst genommen fühlen), ist es eminent wichtig, dass unsere Patienten immer wieder davon hören, was mit ADHS alles zusammen hängen kann.

Einer meiner Studenten hat im jetzt zu Ende gehenden Ausbildungsgang ein geniales PE Modell für einen achtjährigen Schüler entwickelt, der durch enorme Aggression und fehlende Impulssteuerung auffällt.

(PE-Modell „Äntli-Schuel“ von Daniel Beer)

Mit diesem Modell kann er mittels Leuchtdioden die Probleme der Aufmerksamkeitssteuerung sehr eindrücklich aufzeigen. WIE gut der Klient das Modell verstand, zeigte sich darin, dass er nach der Erklärung kritisch guckte und anfügte, dass sein Coach aber eine ganz wichtig Ablenkungsquelle vergessen habe – die der Mitschüler, die ihn auch stören und provozieren würden.... Und hier kommt auch ein weiterer wichtiger Aspekt dazu: unsere Patienten sollen und dürfen mitdenken und reden. PE muss auf Augenhöhe passieren – wieviel Wertvolles an Wissen und Ergänzung ginge uns verloren, wenn wir nur aus der Ebene „Fachperson-Betroffener“ kommunizieren würden! Nehmen wir die Patienten ernst und fragen nach ihrem Erleben und ihrem Erkennen.

Eine andere Studierende, Ulrike Vogel, erklärt die Reizfilterschwäche mit Kaffeefiltern (sie arbeitet mit Erwachsenen). Dazu verwendet sie zwei handelsübliche Filtersysteme, bei einem lässt sie aber den Innenfilter weg, so dass der Kaffee ungefiltert in das darunter stehende Glasgefäss fliesst. Eine ungeniessbare Suppe. Als sie beim nächsten Termin nachfragte, was ihm denn vom letzten Mal noch so in Erinnerung sei, bestätigte sich, dass so anschauliche Methoden perfekt im Gedächtnis haften bleiben. Wie erklären Sie Ihren Patienten und Klienten, was ADHS ist? Gerne ermuntere ich Sie dazu, kreativ zu werden, Dinge zu suchen, die zu Ihnen und ihren Klienten passen und immer wieder darauf zu achten: Hat das Gegenüber wirklich verstanden, was ich gesagt habe. Die Ablenkbarkeit ist auch bei PE da ;-)

Übrigens: im Ausbildungsgang zum ADHS Coach, der im November beginnt, hat es noch freie Plätze – das Erstellen des eigenen PE Modelles kommt dann garantiert auf Sie zu ☺


 

Achtsamkeit - ein Ansatz für AD(H)S-Betroffene?

Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund

Achtsamkeit bzw. Mindfulness ist in aller Munde. Was verbirgt sich dahinter? Welche Übungen sind hilfreich? Und inwiefern könnte eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis Menschen mit ADS / ADHS das Leben erleichtern? 

 

Die Aufmerksamkeitslenkung bewusst trainieren?

Menschen mit AD(H)S sind häufig dazu in der Lage, sich lange und intensiv zu fokussieren, wenn sie intrinsisch motiviert sind. Zieht ein Fach oder Themengebiet sie an und trifft es ihre Interessen, werden sie oft regelrecht eingesaugt und entwickeln eine erstaunliche Ausdauer. Schwierig wird es, wenn man die Aufmerksamkeit bewusst auf einen Gegenstand lenken muss, der wenig spannend erscheint, oder man zwischen verschiedenen Aufträgen hin- und herschalten muss. 
Wenn AD(H)S-Betroffene ihre Aufmerksamkeitsleistung verbessern möchten, sollten sie lernen:

  • Den Fokus bewusst auf eine einzige Sache zu richten
  • Die Konzentration länger aufrechtzuerhalten
  • Zu registrieren, wenn sich etwas anderes in den Vordergrund drängt oder sie in Tagträume abdriften - und sich erneut auf die ursprüngliche Aufgabe zu fokussieren. 

Es gibt verschiedene Ansätze, um diese Bereiche zu trainieren, beispielsweise Übungen zur Stärkung der exekutiven Kontrolle, Neurofeedback oder Konzentrationstrainings. In diesem Artikel möchten wir Ihnen einen Weg vorstellen, der momentan viel Forschungsinteresse weckt: die Achtsamkeitspraxis.

 

Warum könnte regelmäßige Achtsamkeitspraxis AD(H)S-Betroffenen helfen?

Unter Achtsamkeit versteht man unter anderem eine Meditationstechnik, in deren Zentrum eine wachsame, urteilsfreie und nicht-reaktive Haltung den eigenen Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen gegenüber steht (Kabat-Zinn, 2003). Übungsphasen umfassen beispielsweise stille Sitzmeditationen, Atemübungen, bewusstes, langsames Gehen oder das willentliche Sich-Konzentrieren auf alltägliche Aktivitäten wie Essen oder Zähneputzen.

Das Ziel besteht nicht vorwiegend in der Entspannung – auch wenn diese ein schöner Nebeneffekt ist – sondern vielmehr darin, zu lernen, wie man die eigene Aufmerksamkeit willentlich und bewusst auf den gegenwärtigen Moment ausrichtet, sich für das Hier und Jetzt öffnet und ihm mit einer akzeptierenden Grundhaltung begegnet (vgl. Bishop et al., 2004). Es gilt, sich in der Regulation von Aufmerksamkeit und der emotionalem Empfinden zu üben.

In Programmen zur Stärkung von ADHS-Betroffenen werden vorwiegend zwei Bereiche trainiert: die fokussierte und die rezeptive Aufmerksamkeit (für eine Übersicht siehe Modesto-Lowe und Kollegen, 2015):

Übungen zur fokussierten Aufmerksamkeit zielen darauf ab, sich völlig auf eine bestimmte Körperempfindung oder einen Gedanken einzulassen. Man konzentriert sich beispielsweise ganz auf die Atmung und blendet dabei bewusst alles andere aus. Begeben sich die Gedanken auf Wanderschaft und lösen sich beispielsweise von der Atmung, wird man dazu angehalten, sie wieder zurückzuholen. Dadurch trainiert man, den Fokus auf einer einzigen Sache zu halten, Zerstreuung entgegenzuwirken und nicht in Tagträume abzugleiten.

Übungen zur rezeptiven Aufmerksamkeit halten uns dazu an, unseren Fokus zu öffnen und unsere Körperempfindungen, Gedanken und Gefühle im Hier und Jetzt neugierig wahrzunehmen, ohne direkt darauf zu reagieren. Dadurch soll nicht nur die allgemeine Wachsamkeit trainiert werden, sondern auch die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit gezielt und flexibel zu verlagern. Mit der Zeit soll der Zugang zu den eigenen Empfindungen, Gedanken und Gefühlen verbessert werden und die Fähigkeit sich ausbilden, sich von ungünstigen Reaktionsmustern aus dem Affekt heraus (z.B. Überreagieren bei Wut) innerlich zu distanzieren. Damit leisten diese Übungen einen wesentlichen Beitrag zur Emotionsregulation und Impulskontrolle.

 

Achtsamkeitspraxis und AD(H)S: Was sagt die Forschung?

Cairncross & Miller verfassten 2016 ein metaanalytisches Review, in welches sie die bis dato größten 10 Studien zur Wirksamkeit von achtsamkeitsbasierten Therapieverfahren bei AD(H)S einbezogen. Über alle Studien hinweg zeigte sich ein positiver Einfluss der Achtsamkeitspraxis auf alle Kernsymptome, wobei die Verbesserung der Aufmerksamkeitsleistung etwas größer ausfiel als jene im Bereich der Hyperaktivität / Impulsivität.

Auch Schmiedeler (2015) sowie Evans und Kollegen (2018) weisen in ihren Überblicksartikeln darauf hin, dass es mittlerweile einige Studien gibt, die die Wirksamkeit von Achtsamkeitsübungen bei Kindern mit AD(H)S und ihren Eltern belegen, dass aber qualitativ bessere Untersuchungen nötig sind, um einen definitiven und glaubwürdigen Nachweis zu erbringen.

Die Forschung zur Achtsamkeitspraxis bei AD(H)S steckt also noch in den Kinderschuhen. Erste Befunde deuten darauf hin, dass es sich um einen vielversprechenden Ansatz handelt. Wir dürfen gespannt sein, was die Wissenschaft in den nächsten Jahren noch zutage fördern wird.

 

Achtsamkeitsübungen

Haben Sie Lust, sich ein wenig in Achtsamkeit zu trainieren? Vielleicht gemeinsam mit Ihrem Kind? Im Folgenden lernen Sie einige Übungen kennen.

 

Fokus auf eine alltägliche Tätigkeit

Es fällt uns immer schwerer, nur eine Sache auf einmal zu tun: Wir essen vor dem Fernseher, lesen oder hören Musik, während wir einen Kaffee trinken oder nehmen sofort das Smartphone zur Hand, wenn wir zwei, drei Minuten warten müssten. Eine Studie von Killingsworth und Gilbert (2010) belegt, dass Menschen fast 50 % ihrer ganzen Zeit gedanklich nicht bei dem sind, was sie eigentlich gerade tun, und dass dieses Unachtsamsein sie unzufrieden macht. Wenn wir lernen möchten, unsere Aufmerksamkeit bewusst auf das Hier und Jetzt zu lenken, können wir dies tun, indem wir uns auf eine einzige Tätigkeit konzentrieren.

 

Widmen Sie sich voll und ganz einer Tätigkeit

Setzen Sie sich hin und trinken Sie ein Getränk, das Sie gerne mögen. Fokussieren Sie sich ganz auf den Geschmack und die Empfindungen, die dadurch in Ihnen ausgelöst werden. Wie riecht der Tee oder Kaffee? Wo spüren Sie den Geschmack? Welche Geschmacksnoten können Sie herausschmecken? Falls Sie ein kohlesäurehaltiges Getränk zu sich nehmen: Wie fühlt sich das ganz genau an? Auf der Zunge? Im Hals? Falls Sie ein warmes Getränk gewählt haben: Wo können Sie die Wärme wahrnehmen? Nur im Mund oder auch im Hals?

Wenn Sie diese Übung machen, werden Sie auf der einen Seite registrieren, dass Sie diese Tätigkeit verstärkt genießen können und sich ihre Wahrnehmung erweitert. Sie werden aber wahrscheinlich auch bemerken, wie schwierig es ist, ganz im Hier und Jetzt und bei einer einzigen Sache zu bleiben. Sie werden sich immer wieder dabei ertappen, wie Ihre Gedanken abdriften. Registrieren Sie das einfach, ohne es zu werten – und widmen Sie sich dann wieder bewusst der einen Sache, auf die Sie sich fokussieren möchten.

Wenn Sie Aufgaben dieses Typs häufiger durchführen, werden Sie auch bei anderen Tätigkeiten mit der Zeit besser registrieren, ob Sie abdriften.

Die Übungen müssen nicht lange dauern, sollten aber häufig durchgeführt werden: Beispielsweise ein bis zweimal pro Tag für zwei bis drei Minuten. Sie können fast jede Tätigkeit dazu nutzen: Essen, Trinken, Zähne putzen, das Geschirr spülen etc.

 

Nehmen Sie sich beim Warten ein wenig Zeit für sich

Im Alltag gibt es immer wieder Momente des Wartens: Wir stehen an der Bushaltestelle, in der Schlange an der Kasse – und haben meist Lust, uns sofort zu beschäftigen. 
Sie können diese Momente nutzen, um sich in Achtsamkeit zu üben. Nehmen Sie dazu wahr, wie Sie sich fühlen: Sind Sie entspannt und zufrieden? Oder gelangweilt, verärgert oder gestresst? Versuchen Sie das Gefühl oder den Mix aus Gefühlen genauer zu erkunden. Wie fühlt sich Langeweile oder Stress körperlich an? Scannen Sie offen und neugierig Ihren Körper: Gibt es Stellen, die angespannt sind?

Wenn Sie möchten, können Sie zum Ende der Übung diese Stellen bewusst entspannen.