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ADHS Aktuell

Editorial

Der Schwerpunkt des vorliegenden Newsletters befasst sich mit dem Thema «Transition». In einem ersten Beitrag lässt unser Vorstandsmitglied Dr. med. Stephan Kupferschmid die Referate unserer Jahrestagung «Transition from child to adult mental health care: the knowns, the known unknowns, and the unknown unknowns» von Prof. Swaran Preet Singh von der University of Warwick, Medical School aus Grossbritannien und «Transitionslücke und ADHS» von ihm selbst Revue passieren.

Auf diese Ausführungen folgt die Eröffnung einer neuen Reihe, die sich der Vorstellung unseres Vorstands in Zusammenhang mit Informationen zu ADHS in Form von Interviews widmet. Die Ouvertüre findet mit Prof. Dr. med. Dominique Eich-Höchli, Gründungsmitglied der SFG ADHS, statt.

Rund um den Themenbereich Jugendliche und junge Erwachsene dreht sich schliesslich ein Artikel über TikTok und ADHS – ein momentan in den Medien präsentes Thema. Es wird eine Studie zur wissenschaftlichen Qualität von ADHS-Beiträgen auf TikTok zusammengefasst mit anschliessenden Kommentaren unseres Vorstandsmitglieds Dr. med. Roland Kägi und unserer Beirätin Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Susanne Walitza.

Abschliessend machen wir wie gewohnt auf Veranstaltungen in Bezug auf ADHS aufmerksam und unser Mitglied Dr. med. Oliver Bilke-Hentsch möchte im Zusammenhang mit dem Aufbau einer Fachsprechstunde ADHS und Komorbidität auf neue Stellenangebote an der Luzerner Psychiatrie hinweisen und Personen unserer Fachgesellschaft einladen, sich konzeptionell und/oder konkret einzubringen. Ein politischer Vorstoss auf kantonaler Ebene in Luzern führte erfreulicherweise zu einer neuen Psychiatrieplanung und in der Folge zu einer Verbesserung der Versorgungssituation. Weiter möchten wir die Möglichkeit der Intervision für Mitglieder der SFG ADHS aufzeigen, die von MSc Vanessa Ribolla und Dr. med. Alexander Böckmann koordiniert werden. Und last but not least würden wir uns freuen, wenn Sie uns auf unserem neuen LinkedIn Profil besuchen würden.

Einen grossen Dank für das Engagement in Bezug auf ADHS möchten wir Dr. med. Meinrad Ryffel und der Nationalrätin Yvonne Feri aussprechen. Auf Initiative unseres Mitglieds Dr. med. Meinrad Ryffel, der sich mit dem BAG wegen der Limitatio von Stimulanzien in der Spezialitätenliste in Verbindung setzte, kam eine Stellungnahme der SFG ADHS zu Stande, die im Moment zur Unterzeichnung zirkuliert und in Kürze dem BAG übermittelt wird. Dank Yvonne Feri wurden zwei parlamentarische Vorstösse auf Bundesebene eingereicht, um eine bessere Versorgungssituation im Bereich ADHS zu erzielen.

An der Mitgliedertagung kam von Seiten des Publikums der Wunsch nach Information über die Einsetzung der finanziellen Zuwendung. Da wir die Spende sorgfältig und nachhaltig für die in den Statuten erwähnten Vereinszwecken einsetzen möchten, haben wir Ende August eine Retraite einberufen, um eine neue Vereinsstrategie zu definieren. Über die Resultate informieren wir gerne im nächsten Newsletter, der Ende September erscheinen wird.

Wir wünschen Ihnen eine schöne Sommerzeit und grüssen Sie freundlich.

Schweizerische Fachgesellschaft ADHS

Dr. Susanne Kempf, Geschäftsstelle

 

Tagung der Schweizerischen Fachgesellschaft ADHS am 09.03.2023 in Bern
Transition: Eine Lücke in der Behandlungskette

 

Unter Transition versteht man den besonders vulnerablen Übergang vom Jugendalter zum jungen Erwachsenenalter. In dieser Transitionsphase erfolgen einerseits biologische, aber auch soziale und psychologische Entwicklungsschritte. Gleichzeitig findet ein Wechsel für die Patientinnen und Patienten mit ADHS im Versorgungssystem, weg von der Kinder- und Jugendpsychiatrie hin zum Versorgungssystem der Erwachsenenpsychiatrie statt.

Das Eröffnungsreferat zu diesem Thema wurde von Herr Prof. Swaran Preet Singh von der University of Warwick, Medical School aus Grossbritannien gehalten. Herr Prof. Singh ist Mitautor vieler Publikationen zu dem Thema und hat wesentlich zu einer Verbesserung der Transition in Grossbritannien beigetragen. Eine Studie aus dem Jahr 2010 betont die Notwendigkeit einer optimierten Transition zwischen den Gesundheitsanbietern. In dieser Studie stellte Herr Prof. Singh die Kriterien für eine optimale Transition vor. So sollte es zu einer Periode der parallelen Behandlung kommen, ein gemeinsames Planungstreffen und auch eine Weitergabe von Informationen zwischen den zuständigen Personen. Ernüchternd zeigte sich jedoch, dass von diesen Kriterien bei weniger als 5 % der Patienten alle erfüllt waren und bei einem grossen Teil der Patienten keines der Kriterien oder nur eines erfüllt werden konnten. In seinem Referat stellte Herr Prof. Singh in der Folge die Bemühungen aus England vor, mit Hilfe einer NICE guideline diese Transitionsprozesse standardisiert und verbessert zu gestalten. Darauf stellte Herr Prof. Singh die Milestone-Studie vor. Diese Studie weitet die Frage der Transition auf Europa aus und wurde in vielen Ländern wie Deutschland, Frankreich, Italien durchgeführt. Es wurde erhoben, wie sowohl die Architektur der psychiatrischen Versorgung als auch die Übergänge vom Jugendalter ins junge Erwachsenenalter dargestellt werden. Ernüchternderweise gab es in 60 % der untersuchten Länder keine Planung des Transitionsprozesses. So ist also noch viel Luft nach oben für eine verbesserte Versorgung. In einer weiteren Studie ging es um die individuellen Gründe der Beendigung der Therapie. Dabei wurden Gründe wie eine fehlende Krankheitsschwere, aber auch fehlende Brückenangebote genannt. In dieser Studie kam klar zum Tragen, dass auch die Beendigung der kinderpsychiatrischen Behandlung zu wenig vorbereitet war.

Zusammenfassend war die Empfehlung, dass es zu einer strukturierten Zusammenarbeit zwischen den Versorgungssystemen kommen sollte, die durch Leitlinien und "Transition Guidlines" abgestützt werden sollte. Herr Prof. Singh sieht in dieser geleiteten Transition eine grosse Möglichkeit, um die Versorgung von jungen Menschen mit ADHS nachhaltig zu verbessern.

Das zweite Referat der Veranstaltung eröffnete Herr Dr. Stephan Kupferschmid mit einem Blick auf eine Longitudinalstudie von Caspi et al. Dabei zeigte sich, dass früh beginnende psychische Störungen, wie die ADHS, eine deutliche Beeinträchtigung über die Lebenspanne bewirken und in der Folgezeit auch mit erhöhten Komorbiditäten einhergehen. ADHS beginnt typischerweise sehr früh in der Biografie und hat dann eine Reihe von Auswirkungen und Veränderungen zur Folge. Insbesondere die Phänomenologie in der Transition hat dabei eine besondere Beachtung verdient. So verändert sich die motorische Unruhe, die Hyperaktivität häufig und manifestiert sich dann im Erwachsenenalter häufig eher in einem inneren Unruhegefühl und einem "Getrieben sein". Die Aufmerksamkeitsspanne kann zwar entwicklungsbedingt zunehmen und sich verbessern, bleibt jedoch auch im Erwachsenenalter im Vergleich zu Gleichaltrigen ohne ADHS reduziert. Sehr interessant ist die Situation der Affektlage. Hier zeigt sich bei jungen Erwachsenen mit ADHS eine zunehmende affektive Instabilität mit möglicherweise Stimmungsschwankungen. Krankenkassendaten aus Deutschland zeigen, dass um den 18. Geburtstag ein dramatischer Rückgang von Inanspruchnahme bei Patienten mit ADHS stattfindet, so sinkt die Zahl der sich in Behandlung befindenden Patientinnen und Patienten um 70 % ab. Von den Patienten, die Medikamente im Alter von 15 Jahren erhalten haben, erhält im Alter von 21 Jahren fast nur noch jeder 10. eine adäquate Medikation. Dies ist mit dem alleinigen Rückgang von Symptomen nicht zu erklären, sondern deutet vielmehr einen Bruch in der Behandlung an.

Mit dem Übergang ins Erwachsenenalter verändert sich die Phänomenologie und gleichzeitig treten neue Komorbiditäten auf. Diese Komorbiditäten können sowohl im somatischen als auch im psychiatrischen Bereich liegen. Im somatischen Bereich sind dies Themen wie Übergewicht, Diabetes aber auch Asthma und Schlafstörungen. Im psychiatrischen Bereich kommt es zu einer massiven Erhöhung bei Depressionen, bipolaren Störungen, Angststörungen und vielen anderen psychiatrischen Störungsbildern bei Menschen mit ADHS. So kann man sagen, dass im Erwachsenenalter das Vorliegen einer Komorbidität eher der Regelfall als die Ausnahme ist. Daraus folgt, dass insbesondere in der Transition erneut eine diagnostische Abklärung von Komorbiditäten bei Jugendlichen mit ADHS vorgenommen werden sollte. Im weiteren Verlauf des Referates ging Herr Kupferschmid noch auf das gemeinsame Vorkommen von ADHS mit relevanten psychiatrischen Störungen ein. Als ein Beispiel wählte er Traumafolgestörungen. Dabei ist es interessant, dass es eine Überlappung von zentralen Themen von Traumafolgestörungen und ADHS wie zum Beispiel Konzentrationsproblemen oder Unruhe gibt. Auch zeigt sich, dass Kinder mit ADHS-Diagnose ein grösseres Risiko für Traumatisierungen haben. Eine ADHS-Diagnose ergibt bei gleichzeitiger Traumaexposition eine deutlich stärkere Ausprägung der Symptome. Dies lässt sich gut mit dem Transaktionalen Traumabewältigungs-Modell verstehen, bei dem auch Merkmale des Individuums eine wichtige Rolle spielen. So können prätraumatische psychische Gegebenheiten, wie z. Bsp. das Bestehen einer ADHS, die Resilienz mindern und so zu einer Ausprägung der Traumafolgestörung beitragen.

Im letzten Teil fokussierte Herr Kupferschmid auf die möglichen Verbesserungen der Versorgung von jungen Menschen mit ADHS. Gerade die Transitionspsychiatrie kann hierbei ein neues Paradigma schaffen, dass diese Übergangsphase mit den hohen Prävalenzen an psychischen Belastungen und den relevanten Veränderungen gut begleiten kann. Als ein positives Beispiel in der Schweiz kann - abseits vom Thema ADHS – das Früherkennungs- und Therapiezentrum für psychische Krisen in Bern (FETZ) sein. Dort werden Patientinnen und Patienten vom 8. bis zum 40. Lebensjahr behandelt und diagnostiziert. Die besondere Beschäftigung mit dem Thema Psychose-Risiko legt diese Altersspanne nahe. Sie ist also vom Patienten und vom zu verstehenden Erscheinungsbild hergedacht.

Am Ende des Referates fasste Herr Kupferschmid ein paar Formulierungen zusammen. So sieht er eine gute Übergabe innerhalb des Gesundheitssystems und eine erneute Evaluation der Diagnose als Voraussetzung um die Transitionslücke zu schliessen. Dabei sind Komorbiditäten hoch relevant. Die multimodale Therapie sollte neu evaluiert werden und auch die Medikation an die neuen rechtlichen und evidenz-basierten Grundlagen angepasst werden.

 

Vorstellungsrunde Vorstand:
Prof. Dr. med. Dominique Eich-Höchli, Co-Präsidentin

 

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Dominique, Du bist bereits einige Jahre Co-Präsidentin der SFG ADHS. Wie bist Du zur SFG ADHS gekommen? Oder allenfalls die SFG ADHS zu Dir?

Ich bin mit der Diagnose ADHS in Kontakt gekommen in den frühen 90er Jahren durch meine Arbeit im Bereich für Abhängigkeitsstörung der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK), wo ich die minderjährigen Betroffenen behandelte. So lernte ich das Expertenpaar Dres. med. Ryffel kennen, welches mich unterstützte. Bald gründete ich einen Qualitätszirkel zu ADHS in Zürich. Auf Schweizer Ebene begannen wir eine Interessengemeinschaft zu ADHS zu planen, welche als sfg-adhs im September 2006 gegründet wurde. Ich bin Gründungsmitglied und von Anfang an Co-Präsidentin für den Erwachsenenbereich, Herr Ryffel, Kinderarzt, war Co-Präsident für den Kinderbereich.

Ab welchem Zeitpunkt hast Du gewusst, dass Du Psychiaterin werden möchtest? Wie war Dein Werdegang und wie kam es zur Gründung des Spezialambulatoriums für Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen (ADHD) an der PUK Zürich?

Während des Wahlstudienjahres im Medizinstudium orientierte ich mich an denjenigen Ärztinnen mit eigener Familie, welche auf mich zufrieden wirkten. Das waren eben solche aus dem Fachbereich Psychiatrie und so landete ich in der Psychiatrie.

Nach meiner Facharztausbildung und einem Forschungsaufenthalt im Depressionsbereich am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München wurde mir eine Stelle als Oberärztin im Ambulatorium für Abhängigkeitserkrankungen der PUK angeboten. Damals betreuten wir dort auch minderjährige Jugendliche mit Abhängigkeitserkrankungen. So begann ich mich mit der Diagnose ADHS auseinanderzusetzen, nahm an amerikanischen Selbsthilfe-Kongressen für ADHS-Betroffene teil und besuchte Kurse zu ADHS an der Harvard Medical School.

Diese Zusatzausbildungen ermöglichten mir zuerst im kleinen Rahmen ADHS-Betroffene Jugendliche zu behandeln und damit eine Unterabteilung in der PUK Zürich aufzubauen.

Inwiefern hat sich die ADHS-Diagnostik seit den Anfängen verändert und wird die Diagnose in nächster Zukunft eine klinische bleiben?

Bezüglich ADHS-Diagnose (ich verzichte auf den geschichtlichen Hintergrund und möchte lediglich Heinrich Hoffmann mit dem Struwwelpeter, 1845 publiziert, nennen) hat sich in unseren Diagnosesystemen (ICD und DSM) viel getan. Die Diagnose einer ADHS kann im Kindesalter deutlich später (bis 12 Jahre) gestellt werden und sie ist «im Erwachsenenalter» angekommen. Die Autismus-Spektrumsstörung ist heute im DSM kein Ausschlusskriterium mehr. Es ist inzwischen bekannt, dass sich die einzelnen Symptome mit zunehmendem Alter verändern (Syndromshift) und einiges mehr. Störende Symptome müssen in mindestens zwei Lebensbereichen beobachtet werden.

Hinsichtlich Zukunft muss festgehalten werden, dass seit 2009 im NIMH eine Forschungsplattform (RDoC) aufgebaut wird. Sie hat einen transdiagnostischen Ansatz und bildet symptombasierte Dimensionen ab, die über verschiedene Störungen hinweg auftreten. Zudem will sie die zugrundeliegenden gemeinsamen psychosozialen und biologischen Grundlagen dieser Dimensionen identifizieren.

Ziel von RDoC (Research Domain Criteria) ist ein besseres Verständnis der den Symptomgruppen zugrundeliegenden Mechanismen und eine höhere Präzision in der Diagnostik (Th. Insel, 2014).

Dennoch wird die ADHS-Diagnose auch für die kommenden Jahre eine klinische bleiben.

Apropos Diagnostik: Wie viel Prozent der Personen, die sich abklären lassen, erhalten tatsächlich die Diagnose ADHS, und wie hoch wiederum ist die Fehlerquote der ADHS-Diagnosen?

In meiner Sprechstunde sehe ich Personen, welche einerseits zur Abklärung und/oder Zweitmeinung zugewiesen werden oder bei sich selbst den Verdacht auf Vorliegen von ADHS hegen. Die meisten haben verwandte Betroffene mit ADHS. Damit besteht schon ein deutliches Bias, d.h. nur wenige Abzuklärende werden keine ADHS-Diagnose haben. Kurz gesagt: Bei einer gründlichen Abklärung ist die Fehlerquote gering. Und ganz wichtig: Nicht jede Person mit einer ADHS-Diagnose muss pharmakologisch behandelt werden. Der Leidensdruck - nicht die Diagnose - wird behandelt.

Aus Sicht der Epidemiologie spricht man weltweit von ca. 4 – 5 betroffene Erwachsene auf 100 Personen in der Bevölkerung.

Welches sind im Moment die Knackpunkte in der ADHS-Forschung?

Ein interessanter Bereich ist die Heterogenität der ADHS-Symptomatik, d.h. eine definierte Anzahl von Symptomen können sich in ganz unterschiedlicher Ausprägung manifestieren und zu ungleichen Verläufen führen. Auch bietet die Erforschung der Komorbiditäten (psychische und somatische wie zum Beispiel Neurodermitis oder Migräne) ein Potenzial an neuen Erkenntnissen. Zuletzt soll auch das Fehlen von biologischen Markern für ADHS erwähnt werden.

Stelle Dir vor, Du könntest eine Studie zum Thema ADHS in Auftrag geben. Wie wäre der Titel?

Ein genauer Titel schwebt mir nicht vor. Spannend finde ich persönlich die Themen rund um die Transition (Syndromshift) und die Frauen mit ADHS sowie den Einfluss von KI und ChatGPT auf die Diagnostik und Behandlung von ADHS.

 

 

Thema ADHS auf TikTok

Ein journalistischer Text von Dr. Susanne Kempf basierend auf einer Studie von Anthony Yeung et al. (2022) mit Kommentaren von Vorstandsmitglied Dr. med. Roland Kägi und Beirätin Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Susanne Walitza.

Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist der Trend, sich durch soziale Medien über gesundheitliche Themen zu informieren, in den letzten Jahren stark angestiegen. Ein Medium, das besondere Popularität erfährt, ist TikTok mit monatlich rund einer Milliarde aktiver User. 69% der User sind zwischen 16 und 24 Jahre alt. In Form eines auf die Plattform hochgeladenen kurzen Videos, wahlweise 15 oder 60 Sekunden lang, kann ein User eigen kreierte Inhalte an ein beliebiges Publikum transportieren. Die Mission des im Jahr 2016 gegründeten chinesischen Unternehmen lautet auf der Homepage folgendermassen: «TikTok ist das Ziel Nummer eins für kurze Handyvideos. Unsere Mission besteht darin, Kreativität zu inspirieren und Freude zu bringen». Um Videos zu einem bestimmten Thema zu finden, helfen Hashtags. Der Hashtag #ADHD ist auf Platz sieben der Rangliste der beliebtesten Gesundheitsthemen und hat über 23 Milliarden Views. Die Videos mit sogenanntem ADHS-Content beinhalten eigene Erfahrungen, Anleitungen zur Selbstdiagnose, Hilfestellungen etc. und die Urheberschaft dieser Kurzfilme deckt die ganze Bandbreite von ADHS-Betroffenen bis hin zum auf ADHS spezialisierten Psychiater ab.

Durch das grosse Interesse an dieser Art von Informationsgewinnung der jungen Erwachsenen über ADHS stellt sich die Frage nach der Qualität der Inhalte. Bei TikTok handelt es sich in erster Linie um eine soziale Plattform mit open-access, die wie oben erwähnt unter anderem «Freude bereiten soll» und weniger um ein Medium zur Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse.

 

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Abbildung 1 - Beispiele von Videos über ADHS auf TikTok (Quelle: www.tiktok.com)

 

Anthony Yeung und sein Team (2022) von der University of British Columbia analysierten in einer Studie die 100 am meisten angesehenen TikTok-Beiträge über ADHS auf die wissenschaftliche Qualität der Inhalte, indem die Videos nach Einschätzung von zwei Psychiatern drei Kategorien zugeteilt wurden: 1. «Hilfreich», 2. «Persönliche Erfahrung» oder 3. «Irreführend». Die ausgewählten 100 Videos wurden zum Zeitpunkt der Untersuchung bereits 283'459’400-mal angeschaut. 11% der Beiträge wurden von Fachpersonen generiert, 89% von sogenannten Laien. Einer der populärsten ADHS-Fachperson, der auf TikTok aktiv ist, ist der Psychiater und Bestseller-Autor Dr. Hallowell.

 

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Abbildung 2 - ADHS-Beiträge auf TikTok von Dr. Hallowell (Quelle: www.tiktok.com)

 

Zusammenfassend kamen Anthony Yeung und sein Team zum Schluss, dass 52% der von ihnen untersuchten Videos irreführend sind, 27% wurden als «persönliche Erfahrung» klassifiziert und 21% als «hilfreich». Abgesehen davon, dass über die Hälfte der untersuchten Videos Falschinformationen verbreiten, waren es gerade diese Videos, die am beliebtesten waren und am meisten Views, Likes oder Shares erhielten. Die Resultate der Untersuchung unterstreichen die Resultate einer früheren Studie von Pratikshya Thapa et al. (2018) über die Qualität von ADHS-Beiträgen in YouTube Videos, dass Inhalte in Hinblick auf wissenschaftliche Kriterien mit Vorsicht zu geniessen sind. Pratikshya Thapa und ihr Team kamen zum Ergebnis, dass der grösste Teil der Videos (38.36%) irreführend sind und 28.93% der Videos als nicht hilfreich. Auffallend ist, dass die qualitativ minderwertigen Beiträge eine weit grössere Beliebtheit in Form von Likes erfuhren als jene, die als sehr hilfreich klassifiziert wurden. Nur gerade 5.03% der untersuchten YouTube-Videos in Bezug auf ADHS wurden als sehr hilfreich eingestuft.

Unser Vorstandsmitglied Dr. med. Roland Kägi kann in seiner praktischen Tätigkeit keine Mehrbelastung durch online-basierte Selbstdiagnosen feststellen. Relevant in diesem Zusammenhang sei, dass durch Allgemeinmedizin Praktizierende und Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten eine Triage vorgenommen wird, um seine Praxis, die jährlich 80 bis 100 Kinder mit ADHS diagnostiziert, nicht zu überlasten.

Betreff TikTok und anderen Selbsttests meint Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Susanne Walitza, dass das «immer nur ein Screening oder eine erste Orientierung sein kann, da man für die valide Diagnose viele verschiedene Perspektiven berücksichtigen muss. Die Diagnose ist immer klinisch, aber nutzt standardisierte Verfahren und muss z.B. immer auch andere Störungen ausschliessen. Mit Zunahme von Tik Tok steigen bei vielen Störungen die Verdachtsdiagnosen. Psychische Störungen sollten am Ende immer von Fachpersonen gestellt werden.»

Quellen:

Thapa P, Thapa A, Khadka N, Bhattarai R, Jha S, Khanal A, Basnet B. YouTube lens to attention deficit hyperactivity disorder: a social media analysis. BMC Res Notes. 2018 Dec 4;11(1):854. doi: 10.1186/s13104-018-3962-9. PMID: 30514370; PMCID: PMC6277992.

Yeung A, Ng E, Abi-Jaoude E. TikTok and Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder: A Cross-Sectional Study of Social Media Content Quality. Can J Psychiatry. 2022 Dec;67(12):899-906. doi: 10.1177/07067437221082854. Epub 2022 Feb 23. PMID: 35196157; PMCID: PMC9659797.

 

Aufbau Fachsprechstunde ADHS und Komorbidität beim KJPD der Luzerner Psychiatrie AG

 

Liebe Kolleginnen und Kollegen
Liebe ADHS-Interessierte
Im Rahmen der Psychiatrieplanung des Kantons Luzern ist es uns in diesem Jahr möglich,
eine ADHS-Fachsprechstunde mit 4 VZÄ (entspricht in etwa fünf 80%-Stellen) aufzubauen.
Die Sprechstunde unter Leitung von Professor Dr. med. Esther Sobanski und Dr. phil. Mengia Dosch ergänzt unsere Fachsprechstunden zum Thema Zwang und wird für die Gesamtregion eine wichtige Anlaufstelle werden.
Es wäre ausgesprochen interessant, wenn Mitglieder der Schweizerischen Fachgesellschaft ADHS hier mitwirken könnten und sich von Anfang an konzeptionell oder auch in der konkreten Arbeit einbringen würden.
Die entsprechenden Stellenanzeigen sind auf der Website www.lups.ch zu finden.
Für Rückfragen stehe ich Ihnen auch persönlich unter der Mailadresse Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! zur Verfügung.
Wir hoffen, mit dieser Aktivität die Situation in der Zentralschweiz deutlich verbessern zu können.
Dr. med. Oliver Bilke-Hentsch

 

Veranstaltungshinweise

 

Veranstaltung der SFG ADHS

 

Veranstaltungen Dritter

 

  • «Das weibliche ADHS» und «ADHS und Schlaf» am 26.06.2023, 9-13 Uhr, Zürich

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  • «ADHS und Stress» am 12.09.2023, WASAD CONGRESS 2023 in Zürich

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Weitere Informationen zu den Veranstaltungen finden Sie auf der Website der SFG ADHS www.sfg-adhs.ch

ADHS Aktuell

 
Editorial
 
Im aktuellen Newsletter:
  • Befasst sich Dr. med. Markus Guzek mit der ADHS im Alter. Er zeigt unter anderem auf, weshalb bei der Therapie betagter ADHS-Patienten der Schwerpunkt auf sozial-psychiatrischen Massnahmen liegen sollte und dass insbesondere auf die soziale Einbindung der Betroffenen geachtet werden sollte.
  • Dr. med. Eveline Breidenstein weist in ihrem Beitrag auf die Bedürfnisse von ADHS-betroffenen Kindern beim Übertritt in die Sekundarschule hin. Sie betont, dass die Eltern beim Übertritt eine aktive Rolle übernehmen müssen, wenn sie von der Schule erwarten, dass diese auf besondere Bedürfnisse des Kindes eingeht, da Informationen nicht automatisch von der Primarstufe weitergeleitet werden. In einem gesonderten Beitrag, der als Download zur Verfügung steht, finden Lehrpersonen Informationen und Ideen für den Umgang mit ADHS-betroffenen Schüler/innen.
  • Ursula Ammann, Leiterin icp ADHS-Coaching stellt in ihrer Serie ANALOG weitere Coachingmethoden vor. Im aktuellen Beitrag gibt sie Anregungen, wie ADHS-Betroffene durch Visualisierung ihre Prioritätensetzung verbessern können.
Herzliche Grüsse,
Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund
 
 

ADHS im Alter

Dr. med. Markus Guzek, Regionalspital Emmental AG, Psychiatrieleitung, Leitender Arzt Alterspsychiatrie
 
Einleitung
 
Eine achtzigjährige Patientin berichtete uns kürzlich, wie betroffen es sie mache, erst nun nach Jahrzehnten zu verstehen, wieso sich ihr Leben so und nicht anders entwickelt habe. Zu der Diagnose ADHS kam sie, nachdem die Störung bei ihrer Enkeltochter erfolgreich behandelt wurde. Auch wenn die Erklärung der Entwicklung eines langen Lebens nur über die ADHS sicher zu kurz greift, so ist diese Geschichte recht typisch. Die ADHS ist auch im Alter einer Tatsache.
 
Häufigkeit
 
Das Fehlen verlässlicher Daten beginnt bereits bei der Altersgrenze. Die wenigen Studien setzten diese bei 55, so dass von einer eigentlichen Alterspopulation nicht gesprochen werden kann. Die Angaben zur Prävalenz schwanken, sie wird zwischen 2.8 und 4.2 % angegeben (1). Die relativ hohe Streubreite dürfte methodische Ursachen haben. Smith und Rush wiesen bereits 2006 darauf hin, dass die Diagnose im Alter möglicherweise zu selten gestellt wird, weil Symptome der ADHS mit der altersbedingten Verschlechterung der kognitiven Leistungsfähigkeit verwechselt werden könnten (2). Diskutiert werden auch altersspezifische Gründe, nämlich überproportionale Sterblichkeit der ADHS Betroffenen in Folge eines risikoreichen Lebensstils (3), und als Folge der erhöhten Prävalenz von Komorbiditäten (4).
 
ADHS Symptome und andere kognitive Störungen im Alter
 
Die Diagnostik der ADHS im Alter unterscheidet sich nicht wesentlich vom Vorgehen bei jüngeren Erwachsenen. Guldberg und Johansson publizierten 2013 anhand ihrer klinisch und mit Fragebögen erhobenen Befunde die Persistenz der ADHS Kernsymptome (5). Während aber die persistierenden kognitiven Defizite der ADHS im Erwachsenenalter in den meisten Fällen zur Kenntnis genommen werden können, erfordert ihre erstmalige Feststellung im höheren Alter eine eingehende differenzialdiagnostische Abklärung Die Hauptprämisse lautet, keine beginnende Demenz zu übersehen. Ältere Patienten, die über Aufmerksamkeitsstörungen, Konzentrationsprobleme und Alltagsvergesslichkeit berichten sollten daher in einer Memory Clinic mit Kompetenzen im ADHS Bereich abgeklärt werden. In einer in den USA durchgeführten Umfrage wurde berichtet, dass in ca. 60% der Memory Kliniken auch ADHS Fälle festgestellt werden. Zahlen für die Schweiz gibt es nicht. Die wichtigste Diffenrentialdiagnose ist die Leichte kognitive Störung (MCI), sowohl als unklares, eigenständiges Krankheitsbild, als auch als Frühphase einer demenziellen Erkrankung.  Dabei muss der untergeordneten biografischen Bedeutung der ADHS gegenüber einer Demenz Rechnung getragen werden. Der Verdacht einer ADHS im Alter ist nur dann relevant, wenn eine dementiellen Entwicklung ausgeschlossen wurde. Auch bei eindeutiger ADHS in der Lebensgeschichte, muss bei einer Neuabklärung im Alter berücksichtigt werden, dass eine ADHS nicht vor einer Demenz schützt. Eine besonders sorgfältige Abgrenzung ist gegenüber den frontotemporalen Demenzen nötig, die in der Anfangsphase eine ähnliche Symptomatik wie die ADHS zeigen können (6). Weiterhin unklar ist der Zusammenhang zwischen der ADHS und dem Risiko demenzieller Erkrankungen. Kontrovers diskutiert werden Zusammenhänge zwischen ADHS und Parkinson, aber auch der Behandlung mit Methylphenidat und späteren Parkinson sowie der Zusammenhang zwischen der ADHS und der Lewy Body Demenz (7).
 
ADHS und psychische Störungen im Alter
 
Spezifische Studien zum Zusammenhang zwischen der ADHS und affektiven Störungen bei Alterspatienten liegen nicht vor. Aus der eigenen klinischen Erfahrung lässt sich ein solcher Zusammenhang nicht wegdenken. Die meisten ADHS Erstdiagnosen bei Alterspatienten erfolgen im Rahmen der Abklärung «therapieresistenter Depressionen». Nicht selten muss dabei festgestellt werden, dass während Jahren eine bipolar II Störung diagnostiziert war und zumeist erfolglos mit Lithium behandelt wurde. Die zweite wichtige Komorbidität ist die Early-onset Abhängigkeit, vor allem von Alkohol. Im Alter geht sie mit Folgestörungen einher, so dass sorgfältig zwischen allfälligen emotionalen und kognitiven Auswirkungen der ADHS einerseits und den oft sehr ähnlichen Folgen chronischen Äthylismus unterschieden werden sollte.
 
Lebenssituation alterspsychiatrischer ADHS Patienten
 
Das grösste Problem ist die Einsamkeit. Was ohnehin für viele ältere Menschen zutrifft, ist bei alt gewordenen ADHS Patienten das Problem schlechthin. In einer Studie hierzu zeigte sich, dass die meisten alten ADHS Patienten beruflich gut integriert waren, jedoch sehr oft gar nicht verheiratet oder geschieden  (8).  Dieses Hauptproblem macht ein möglichst dichtes sozialpsychiatrisches Setting notwendig.
 
Therapie
 
Einmal mehr – Studien fehlen. Aus der eigenen klinischen Erfahrung kann berichtet werden, dass die erwähnte soziale Desintegration stärker im Fokus stehen muss als die selten relevanten Aufmerksamkeitsstörungen. Die meisten sozial relevanten, therapiebedürftigen Schwierigkeiten resultieren nicht zuletzt aus der chronifizierten jahrzehntelangen Überimpulsivität mit entsprechend negativer sozialer Performance und den häufigen Komorbiditäten aus dem F6 Kapitel. Deren Behandlung ist entscheidend.  Der Einsatz von Methylphenidat ist Ermessensfrage und vor allem off lable. Es gibt kein zugelassenes Präparat. Kontrollierte Studien fehlen. Aus eigener Erfahrung zeigen sich gute Auswirkungen insbesondere für die Emotionsregulation und die Antriebsregulierung. Ein Therapieversuch ist deswegen unter Beachtung der Nebenwirkungen im Alter, insbesondere der Auswirkungen für das Herz-Kreislaufsystem, in vielen Einzelfällen sinnvoll und sollte mit Patienten besprochen werden.
 
Zusammenfassung
 
Nachdem in den letzten 20 Jahren die Persistenz der ADHS ins Erwachsenenalter hinein eine inzwischen etablierte klinische Bedeutung bekam, muss der Persistenz der Störung bis ins hohe Lebensalter eine ähnliche Aufmerksamkeit zuteilwerden. Leider existieren hierzu nur wenige kontrollierte Studien. Die kognitiven Symptome der ADHS müssen, werden sie im Alter erstmalig berichtet, differenzialdiagnostisch vor allem gegenüber dementiellen Entwicklungen abgegrenzt werden, so dass die erste Diagnostik der ADHS im Erwachsenenalter durch eine Memory Clinic durchgeführt werden sollte. Darüber hinaus stehen im Alter vor allem affektive Folgestörungen der ADHS sowie Suchtprobleme im Fokus der klinischen Bedeutung. Eine Off-Label-Behandlung mit Methylphenidat kann in begründeten Fällen unter Wahrung der Sicherheit sinnvoll sein. Der Therapie Schwerpunkt liegt jedoch in sozial psychiatrischen Massnahmen, insbesondere der Förderung der sozialen Einbindung.
 
1. Michielsen, M., Semeijn, E., Comijs, H. C., van de Ven, P., Beekman, A. T. F., Deeg, D. J. H., & Kooij, J. J. S. Prevalence of attention-deficite hyperactivity disorder in older adults in The Netherlands. The British Journal of Psychiatry. 201 2012, S. 298-305.
2. Smith, G., & Rush, B. Normal aging and mild cognitive impairment. Geriatric neuropsychology. 2006, S. 27-55.
3. Barkley, R. Driving impairments in teens and adults with attention-deficite/hyperactivity disorder. Psychiatric Clinics of North America. 2004, S. 233-260.
4. Roth, R., & Saykin, A. Executive dysfunction in attentiondeficit/hyperactivity disorder: Cognitive and neuroimaging findings. Psychiatric Clinics of Noth America. 2004, S. 83-96.
5. Guldberg-Kjär. T., Johansson B. ADHS Symptoms Across the Lifespan; A Comparison of Symptoms Captured by the Wender and Barkley Scales and DSM-IV Criteria in a Population-Based Swedish Sample Aged 65 - 80. Journal of Attention Disorders . 11. March 2014.
6. Pose M., Cetkovic M., Gleichgerrcht E., Ibanez A., Torralva T., Manes F. The Overlap of symptomatic dimensions between frontotemporal dementia and deveral psychiatrisc disorders that appear in late adulthood. Int Rev Psychiatry. Apr 2013, S. 159-67.
7. Golimstok A., Rojas Jl., Romano M., Zurru MC., Doctorovich D., Cristiano E. Previous adult attention-defocite and hyperactivity disorder symptomas and risk of dementia with Lewy bodies: a case-control study. Eur J Neurol. Jan 2011, S. 78-84.
8. Michielsen M., Comijs HC., Aartsen MJ., Semeijn EJ., Beekmann AT., Deeg DJ., Kooij JJ. The relationships between ADHS and sozial functioning and participation in older adults in a population-based study. J Attend Disord. 2015, Bd. 19, 5, S. 368 -79.
9. Henry. E., & Jones. S.H. Experiences of Older Adult Women Diagnosed with Attention DEficite Hyperactivity Disorder. Journal of Woman & Aging . 2011, S. 246-262.
 

Kinder mit ADHS in der Sekundarstufe 1

 
Der folgende Beitrag legt den Fokus auf die besonderen Bedürfnisse von Kindern mit ADHS in der Se­kun­darschule. Er basiert auf den eigenen Erfahrungen von Frau Dr. Eveline Breidenstein und ist auf die Verhältnisse im Kanton Zürich, Bezirk Affoltern, zugeschnitten, beinhaltet aber Empfehlungen, die auch ausserhalb des Kantons Zürich wertvoll sein können.
 
Wichtige Erkenntnisse:
 
  • Übertritt Mittelstufe - Oberstufe (Sekundarstufe I): Die Informationen über die speziellen Bedürf­nisse eines Kindes [ISR-Status (Integrierte Sonderschulung in der Verantwortung der Regelschule), Nachteilsausgleich] werden oft nicht automatisch von der Primarschule an die Oberstufe weiter­ge­leitet. Es ist Aufgabe der Eltern, die Lehrpersonen und die Schulleitung zu informieren. Den Eltern ist deshalb zu empfehlen, bereits vor den Sommerferien mit der betroffenen Schulleitung Kontakt aufzunehmen, um die geeigneten Adressaten der Information (Heilpädago­gen, Klassen­lehrperson, Schulleitung, Schulpsychologischer Dienst) zu erfahren.
 
  • Neuabklärungen: Die Eltern müssen die Schule über die Diagnose informieren, wenn sie beson­dere Rücksichtnahmen der Schule erwarten.
 
  • Generell gilt: Falls zusätzliche Massnahmen erforderlich sind (heilpädagogische Unterstützung oder Nachteilsaus­gleich), braucht die Schule eine ärztlich bestätigte, schriftliche Diagnose. Es lohnt sich - insbesondere auf der Sekun­dar­stufe I - , als Fachperson mit den zuständigen Heil­pädagoginnen und -pädagogen Kontakt aufzunehmen, um sich über Fördermassnahmen und Abklärung von allfälligen Lerndefiziten auszu­tauschen. Damit können unerfüllbare «Leistungser­wartung der Eltern», aber auch das Verpassen von unentdeckten Fördermöglichkeiten vermieden werden.
 
  • : Im Kanton Zürich haben die Heilpädagoginnen und -pädagogen in der Sekundarstufe I A keinen «generellen Auftrag» und bemerken allfällige Defizite der Kinder auch nicht ohne Weite­res. Die Eltern müssen den Unterstützungsbedarf daher aktiv anmelden (s.o.). In der Sekundar­stufe I B und C sind die Heilpädagoginnen und -pädagogen viel näher dran, können selbst auch Defizite wahrnehmen und Unterstützungen indizieren. Je nach Motivation der Schule finden anfangs der ersten Sek B oder C auch Sprach- und Matheeinstufungstests statt, um den Kindern dann angepasste Fördermassnahmen zukommen zu lassen. Das ist aber nicht obligatorisch. Von der Primarschule mitgebrachte Lernlücken werden andernfalls leider erst im Laufe des ersten Sekundarschuljahrs erkannt!
 
Den Text von Dr. med. Eveline Breidenstein mit Informationen und Ideen für den Umgang mit ADHS-Kindern, der sich an Pädagoginnen und Pädagogen richtet, finden Sie  pdf hier (216 KB) .
 
 

ADHS Analog: Prioritäten sichtbar machen

Ursula Ammann, MAS Supervision und Coaching ZHAW, Studienleiterin icp ADHS Coaching
 
In einer regelmässigen Serie schreibt Ursula Ammann über analoge Methoden, die sich im Therapie und Coaching-Bereich bewährt haben:
Prioritäten zu setzen fällt nicht nur ADHS Betroffenen schwer, diesen aber besonders. Meiner Erfahrung nach, spricht alles, was buchstäblich „SICHTBAR“ daherkommt, sehr an und wird motivierter angegangen. So arbeite ich auch hier mit unterschiedlichen Tools.
Zum einen mit dem Prio-Baum:
 
Mit mittelgrossen Post-it Zetteln werden zunächst alle offenen Aufgaben, die einem gerade in den Sinn kommen, aufgeschrieben (Es entspannt Klienten, wenn sie sehen, dass auch später noch offene Punkte hinzugefügt werden können!). Danach werden diese nach Dringlichkeit aufgeklebt in das entsprechende „Abteil“ des Baumes. Der Baum hat sich als am Einfachsten in der Umsetzung erwiesen. Viele Klienten haben aber auch sehr kreative, eigene Ideen und setzen diese um. So hat beispielsweise ein Klient einen Prioritäten-Flieger gebaut – die praktische Anwendung war dort aber etwas schwierig ;-)
Als Einteilung hat sich folgendes Raster bewährt
A = heute (oder innert 3 Tagen)
B =diese Woche
C = Diesen Monat
D = nicht vergessen
Wichtig ist, dass die erledigten Zettel abgenommen werden und genussvoll entsorgt werden und dass neue Zettel in einer anderen Farbe aufgeklebt werden. Unser Hirn macht sehr schnell einen „printscreen“ und speichert Bekanntes als nicht mehr interessant ab. Mit neuen Farben bleibt der Baum «frisch». Im gleichen Prinzip funktioniert eine Aufgabenliste wie diese hier:
 
Sie wurde mit einem Klient erstellt, der unter Zeitdruck stand und ziemlich viele Unterlagen in diversesten Mäppchen oder lose dabei hatten. Wir sortierten die Unterlagen und unterhielten uns darüber, was denn gerade besonders drängend sei. Oftmals sind ADHS-Betroffene nicht mehr in der Lage, zu unterscheiden, was wichtig ist, weil eben soooo vieles offen ist. Auch wenn der Wunsch nach einer aufgeräumten Wohnung und geordneten Unterlagen übermächtig ist und sicher auch sehr sinnvoll, müsste in diesem Fall doch zunächst das Stipendiengesuch eingereicht werden, da er sonst schlicht das Studium nicht beginnen kann....
Man kann solche Aufgabenlisten auch mit vielen anderen Methoden darstellen. Lustig für Kinder sind dabei z.B. Duplo-Bauklötzchen, die man zunächst in einer Reihe auf eine Bauplatte setzt und mit einem abwischbaren Folienschreiber beschriftet. zB. Mathe, Franz, etc. Dann werden die grossen Aufgaben in der Folge dahinter mit weiteren Duplosteinen in Unterschritte aufgeteilt. Macht Spass, erinnert gut und hilft tatsächlich.
Viel Spass beim Ausprobieren!

 

Hinweise auf Veranstaltungen

Felicitas Furrer
  • Donnerstag, 21. März 2019:14.00 – ca. 17.30 Uhr: Mitgliederversammlung der SFG ADHS, mit Referaten zum Thema «ADHS und Autismus», Bahnhofbuffet Olten
  • Samstag, 22. Juni 2019, 08.15 – ca. 15.45 Uhr:6. Nationale ADHS Tagung für Betroffene und Fachpersonen, Universität Zürich, Rämistrasse 71, Zürich
  • Tagungsthema: ADHS - (K)ein Thema mehr? . Weitere Informationen folgen auf oder
  • Freitag 13.- Sonntag 15. September 2019: 1. Internationaler deutschsprachiger ADHS-Kongress über Landes-, Alters- und Berufsgrenzen hinaus. Weitere Informationen folgen auf www.sfg-adhs.ch

ADHS Aktuell

Editorial

Der vorliegende Newsletter wird mit der Weiterführung der Vorstellungsreihe unseres Vorstandes in Form eines Interviews mit unserem Co-Präsidenten Prof. Dr. med. Thomas J. Müller eröffnet. 

Das Jahr neigt sich dem Ende zu und wir möchten unter anderem die Gelegenheit nutzen, über Aktualitäten rund um die SFG ADHS zu berichten. Neugestaltung der Homepage, Änderungen in der Zusammensetzung des Vorstands, Ausstellung einer Mitgliedschaftsbestätigung sind nur ein paar wenige Punkte, die in den Vorstandssitzungen diskutiert werden, jedoch oft nicht bis zu den Mitgliedern dringen.

Anschliessend möchten wir Ihnen eine Rezension von Dr. Monika Brunsting über ein Buch von Prof. Stefano Pallanti zur Lektüre offerieren. «The Burden of Adult ADHD in Comorbid Psychiatric and Neurological Disorders» ist gemäss unserer Beirätin Dr. Monika Brunsting ein “wegweisendes Buch (...), das den aktuellen Stand der Forschung in Diagnostik und Therapie von ADHS aufzeigt".

In einem weiteren Teil berichten wir über die Vorkommnisse rund um die Aussagen eines Mitglieds der Expertengruppe ADHS des Bundesamts für Gesundheit (BAG) und unsere Aufforderung zur Stellungnahme. Und wie gewohnt finden sich am Schluss des Newsletters die Veranstaltungshinweise.

Wir wünschen Ihnen einen guten Start in das neue Jahr und grüssen Sie freundlich.

Schweizerische Fachgesellschaft ADHS

Dr. Susanne Kempf, Geschäftsstelle

 

Vorstellungsrunde Vorstand:
Prof. Dr. med. Thomas J. Müller, Co-Präsident

 

Lieber Thomas, zusammen mit Dominique führst Du bereits seit einigen Jahren das Präsidium unserer Fachgesellschaft. Warum engagierst Du Dich für die ADHS?

Also grundsätzlich finde ich ADHS ein sehr wichtiges Thema. Die Erkrankung wird nunmehr sicherlich besser erkannt als noch vor vielen Jahren. Und was mich natürlich sehr erfreut ist, dass wir in der Psychiatrie viele chronische Krankheitsbilder haben, die lange brauchen, bis sie auch nur teilweise auf eine Behandlung ansprechen und bei der ADHS ist es so, wenn die Diagnose stimmt, die Behandlung im Allgemeinen sehr erfolgreich ist. Die Erfolge könnten gesteigert werden, indem die Patienten möglichst früh erkannt werden. Denn die Datenlage ist leider nicht ganz so, wie wir das gerne hätten. Je später man anfängt zu   behandeln, desto weniger sind insbesondere in sozialen, beruflichen und familiären Bereichen die Erfolge. Man muss klar sagen: Ein Erkennen ist auch im Alter noch wichtig für das Befinden und viele Symptome. Aber wichtig   ist die frühere Erkennung, um letztendlich den Schaden für die Patientinnen und Patienten zu minimieren. Und schliesslich engagiere ich mich für die ADHS, weil es Spaß macht. 

 

ausgabe-71-1.jpegCo-Präsident Prof. Dr. med. Thomas J. Müller 

Am WASDAD Kongress im September hast Du ein Referat über ADHS und Klimawandel gehalten. Was waren die Kernbotschaften und warum hast Du ausgerechnet diese Thematik gewählt?

Ausschlaggebend war ein Gespräch mit unserer Beirätin Prof. Susanne Walitza. Wir haben uns unterhalten und sie meinte, dass sie gehört hätte, dass ich mich mit diesem Thema auch in der Psychiatrie beschäftige. Und in der Tat war ich herausgefordert und habe mir gedacht, ob es eigentlich Spezifisches für die ADHS bezüglich Klimawandel gibt? Und das sah erstmal nicht so aus, aber mitnichten, selbst eigene Forschungsdaten, die auch publiziert sind, zeigen eben, dass sogenannte Entwicklungsstörungen – und dazu gehört die ADHS - tatsächlich besonders betroffen sind.
Bei ungewöhnlicher Hitze gibt es mehr Klinikaufnahmen. Es gibt Daten von einer Doktorandin von mir, dass Besuche von Notfallpatientinnen und -patienten ein ähnliches Muster aufzeigen. Da sehen wir ein erhöhtes Risiko. Es betrifft die Vulnerabelsten und es ist gemäss Datenlage so, dass Patientinnen und Patienten mit einer ADHS - oder sagen wir mal ganz vorsichtig - mit Entwicklungsstörungen ein höheres Risiko haben, dass der Klimawandel Auswirkungen haben könnte. Bei einem Datensatz aus Bern über 45 Jahre war die Odds Ratio gegen 1.5. Daten aus Brasilien zeigen Ähnliches.
Da durch die ADHS eine verminderte Anpassungsfähigkeit besteht, muss geschaut werden, welcher Umgang hilfreich ist. Aber auch das Thema Aggression ist zu beachten, da Patientinnen und Patienten mit einer ADHS zur Impulsivität neigen. Hier könnte vermutet werden, dass das Risiko für impulsives Verhalten bei einer ADHS durch den Klimawandel steigt. Da muss man die entsprechenden Maßnahmen ergreifen, auch die Awareness, aber auch, dass man lernt, mit der Hitze umzugehen.

Der Oktober ist bekanntlich der ADHD Awareness Month. Wie können Forschung und klinische Praxis in Bezug auf ADHS dazu beitragen, das Bewusstsein für ADHS in der Gesellschaft zu schärfen und die Entstigmatisierung zu fördern?

Die Forschung dient immer dazu, die Behandlungsgrundlagen zu schaffen. Man muss schon sagen, dass wir bezüglich der ADHS-Behandlung mit Methoden wie der Abgabe von Stimulantien ausgestattet sind - wenn man ganz ehrlich bleibt -, die wir sonst in der Psychiatrie kaum haben in dieser extrem hohen Wirksamkeit. Wenn man das im Vergleich zur Inneren Medizin sieht, sind wir in der Psychiatrie gut aufgestellt. Die wirksamste psychiatrische Medikation sind Amphetamine bei der ADHS-Behandlung. Danach kommt für die bipolare Störung das Lithium und weiter kommt das Methylphenidat für die ADHS. Und dann kommt nochmals das Lithium für die rezidivierende depressive Störung. Also da haben wir was in der Hand.
Die Forschung muss dazu beitragen, sich mit der Suche nach Prädiktoren zu beschäftigen. Da gibt es leider noch nichts, jedenfalls nicht so, dass wir das wie einen Laborwert nutzen könnten. Also im Einzelfall, das ist der und der Typus von ADHS und diese und jene Laborbefunde gehören dazu. Die ADHS ist nach wie vor eine klinische Diagnose. Die ganze Diagnostik, die wir betreiben, dient der Sicherung der Diagnostik, aber letztendlich ist es ein klinisches Bild, das wir abbilden. Und wir haben keinen Laborparameter, kein EEG, keinen Blutbefund, kein Kernspintomogramm, das eine ADHS diagnostizieren kann. Es wäre sehr hilfreich, wenn die Forschung uns da hilft.

Anhand der ADHS wird beispielsweise aufgezeigt, mit was sich die Forschung beschäftigt. Es werden genetische Studien gemacht, wo das gesamte Genom des Menschen untersucht wird. Dann schaut man nach Varianten und zum Beispiel wurde eine Variante bei der ADHS gefunden. Diese Variante wurde in die Fruchtfliege eingebaut. Und wie untersucht man das zum Beispiel jetzt an der Fruchtfliege? Die Fruchtfliege wird in einen Glastubus eingesperrt und fliegt hin und her. Und dazwischen befindet sich eine Lichtschranke. Jene Fruchtfliegen mit der eingebauten Variante fliegen mehr hin und her. Gibt man der Fruchtfliege ins Futter Methylphenidat, fliegt sie plötzlich wieder normal. Daran kann man den Mechanismus verstehen lernen.

Das ist schon faszinierend, also auch für das Verständnis. Verständnis ist zum Beispiel auch wichtig für die komorbiden Erkrankungen. Man weiß, dass die ADHS-Betroffenen ein leicht erhöhtes Risiko für Adipositas haben. Natürlich muss man die Proteine, die dann abgebildet werden durch die DNA, untersuchen. Diese Kombination erlaubt eventuell noch eine gezieltere Behandlung. Deswegen ist dieser Awareness Month auch wichtig, um zu zeigen, da geht was. Also es werden nicht einfach nur Pillen verschrieben.

Inwiefern kann die Zusammenarbeit zwischen Forschern und klinischen Fachleuten hilfreich sein, den Übergang von Erkenntnissen aus der Forschung in die klinische Praxis zu erleichtern und evidenzbasierte Behandlungsmethoden zu fördern?

Eine wichtige Aufgabe der Fachgesellschaft einerseits, aber auch von den Experten in der Fachgesellschaft, die sich in Lehre wie in Forschung mit dem Thema beschäftigen ist, Behandlungsempfehlungen zu machen. Wir haben soeben das Projekt «Behandlungsempfehlungen zu ADHS» im Auftrag der SGPP gestartet, um klinischen Fachpersonen den Zugang zu einer evidenzbasierten Versorgung in der Schweiz zu erleichtern.

ADHS bei Mädchen und Frauen findet zunehmend Beachtung. Sind die Subtypen der ADHS geschlechtsspezifisch? Können neuronale Mechanismen die Unterschiede zwischen den Subtypen von ADHS (unaufmerksam, hyperaktiv-impulsiv, kombiniert) erklären?

Das ist schwierig. Bei Frauen findet man eher den unaufmerksamen Typus, aber da spielen auch ein bisschen die entsprechenden kulturellen, kulturspezifischen Erziehungstypen eine Rolle.
Männer schickt man in einen Fußballverein, um diese Hyperaktivität loswerden. Mir sind jetzt keine Daten bekannt, die einen klaren geschlechtsspezifischen Unterschied zeigen. Es gibt eher ein Problem in der geschlechtsspezifischen Awareness. Es ist auch so, dass Männer ungefähr zweimal so häufig diagnostiziert werden. Aber ich glaube, das ist eher ein Artefakt in der Diagnostik.

Wie kann die Forschung zu ADHS dazu beitragen, unser Verständnis von langfristigen Lebensverläufen und den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter bei Menschen mit ADHS zu verbessern?

Also was man sieht - das war ja auch der Gedanke bei der Entwicklung von unserem Zentrum für junge Erwachsene in Thun -, dass wir ein grosses Problem mit der Transition zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Erwachsenenpsychiatrie haben. Das sieht man sehr deutlich an dem Beispiel ADHS. Also just mit dem 18. Geburtstag, also auf den Tag genau, fällt die Prävalenz der ADHS von 6 auf 3 Prozent. Das ist natürlich unsinnig. Das ist ein Methodenartefakt bzw. ein Artefakt zwischen den verschiedenen Formen von Psychiatrie. Natürlich dient die Forschung dazu, auch zu erfassen, welche Symptome im Vordergrund stehen. Das wäre jetzt auch eine Aufgabe zum Beispiel von unserem Zentrum, die besser zu erfassen und dann entsprechend angepasst, zum Beispiel eine Berufsempfehlung zu geben. Eine Masterstudentin von mir hat eine wunderschöne Arbeit zu dem Thema geschrieben, wo die Benefits von der ADHS liegen und die Auswirkungen auf die Berufswahl. Meine Frage war an die Studentin, ob es Hinweise darauf gibt, dass zum Beispiel in der Medizin Menschen mit einer ADHS oder Novelty Seeking bestimmte Facharzt-Richtungen wählen. Ich vermutete, dass das bei Notfallärztinnen und -ärzten zum Beispiel zutrifft. Der Beweis aber fehlt.  

Wie könnte die Anwendung von Neuromodulationstechniken wie nicht-invasiver Hirnstimulation (NIBS) bei der Behandlung von ADHS-Symptomen eine vielversprechende Rolle spielen, und welche Bereiche erfordern noch weitere Forschung?

Da braucht es noch Forschung. Also ich habe jetzt einen Patienten, bei dem ich transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS) gemacht habe und der hat profitiert. Der Patient hat Pech, denn er hat tatsächlich auf jede Stimulanz, aber auch auf alle anderen Medikamente in der ADHS-Behandlung mit Nebenwirkungen reagiert. Ich habe länger erfolgreich mit ihm Psychotherapie gemacht. Von der zusätzlichen Hirnstimulation hat er noch (eigene Aussage) 10% zusätzlich profitiert. Das sind kleine Erfolge, die weiterer Untersuchungen bedürfen. Hier gibt es noch zu wenig gesicherte Daten, mit denen man eine klare Aussage machen könnten. Somit blieben im Bereich ADHS Hirnstimulationsverfahren off-label-Einzelbehandlungen. So gibt es leider möglicherweise falsche Versprechungen. Es gibt übrigens Patienten, die gamen gerne, auch ADHS-Patientinnen und -patienten natürlich. Und die nutzen tDCS, also Gleichstrombehandlung. Dadurch wird die frontale Hirnleistung noch um einen Tick verbessert und das führt dazu, dass sie beim Online-Gamen, wo es auch um Geld gehen kann, eher gewinnen.

Welche Fortschritte wurden im Bereich der Früherkennung von ADHS gemacht, und wie könnten diese Erkenntnisse dazu beitragen, Interventionsmaßnahmen frühzeitig zu ergreifen?

In der Früherkennung gibt es viele Fortschritte, hauptsächlich die Awareness. Also das sind die Weiterbildungen und Fortbildungen unserer Fachgesellschaft. Wir versuchen, das Wissen zu verbreiten. Jetzt muss man nur aufpassen, dass das Wissen nicht dazu führt, dass plötzlich jeder eine ADHS hat. Das wäre der Rosenthal-Effekt: Wenn man eine Forschungsfrage hat, dann sieht man nur noch das Forschungsproblem bei den Patienten. Und könnte es eine wundersame Vermehrung von ADHS-Fällen geben. Hier muss immer abwägen.

Unsere nächste Mitgliedertagung im März befasst sich unter anderem mit dem Thema ADHS im Alter. Welche Herausforderungen und Chancen ergeben sich bei der Diagnose und Behandlung von ADHS bei älteren Erwachsenen, insbesondere im Zusammenhang mit Alterserscheinungen und kognitivem Rückgang?

Erstens gibt es eine neue israelische Studie, die zeigt, dass wahrscheinlich eine unerkannte ADHS das Risiko für demenzielle Erkrankungen erhöht. Das kann natürlich auch eine Interaktion sein, weil man weiß, dass Depressionen – eine mögliche Komorbidität der ADHS -, die unbehandelt oder schlecht behandelt sind, im Alter auch wiederum das Demenzrisiko erhöhen.
Aber eine schlecht behandelte ADHS führt zu weniger Chancenausnutzung im Leben. Weniger Potenzial, das man nutzen kann, als man es eigentlich hätte. Ein hoher IQ mit einem stark ausgeprägten ADHS hilft einem wenig, wenn man den ganzen Tag einfach nur mit der Kontrolle der ADHS beschäftigt ist. Ähnliches ergibt sich im Alter. Also auch im Alter lohnt sich durchaus noch eine Behandlung. Und wenn es nur der Kopierung der Symptomatik, die lästig ist für die Patientinnen und Patienten, dient. Wir müssen im Alter auch vorsichtiger behandeln wegen den ganzen somatischen Begleiterkrankungen, die durch Stimulantien noch gesteigert werden können.

Und zum Schluss: Eine ADHS wird oft mit Kreativität in Zusammenhang gebracht. Wenn die ADHS ein Musikinstrument wäre, welches Instrument würde es sein und wie würde das musikalische Stück klingen, das die Essenz von ADHS einfängt? Du darfst jetzt aber nicht die Klarinette nennen, das wäre nicht objektiv (Prof. Müller lernt aktuell das Klarinettenspiel, Anm. d. Red.).

Nein, nein, ich habe an ein anderes Instrument gedacht, ja an die Geige.
Ja, da ist mir überhaupt die Geige eingefallen. Die Geige ist ein sehr anspruchsvolles Instrument. Da wäre für die ADHS wahrscheinlich das Schlagzeug am besten. Geige klingt, wenn man sie schlecht spielt, grauenhaft. Wenn man da nicht die Daueraufmerksamkeit und das Vergnügen hat, ewig zu üben. Aber Schlagzeug, das ist sicherlich etwas, was für Menschen mit einer ADHS hilfreich ist.

 

Aktuelles aus der Schweizerischen Fachgesellschaft ADHS

  

  • Ende August dieses Jahres wurde im Zuge einer Strategie-Retraite entschieden, dass die Homepage der SFG ADHS mit Hilfe einer externen Agentur von Grund auf neugestaltet wird. Diese Aufgabe ist mit einem grossen Aufwand verbunden und wir bitten um Geduld, sollten die Informationen auf unserer noch aktuellen Homepage nicht die gewünschte Übersicht und Aktualität vorweisen.

  • In der Praxis hat es sich gezeigt, dass gerade aus versicherungstechnischer Sicht ein Nachweis der Expertise im Bereich ADHS für Fachpersonen nützlich sein kann. Daher hat sich die SFG ADHS dazu entschlossen, seinen Mitgliedern bei Bedarf eine Bestätigung der Mitgliedschaft auszustellen. Jede Person, die eine Mitgliedschaft beantragt, wird vom Vorstand auf die Erfahrung im Bereich ADHS geprüft und eine Zulassung in den Verein wird nur gewährleistet, wenn eine entsprechende Expertise vorhanden ist. Die ersten Bestätigungen wurden bereits ausgestellt und bei Interesse kann Ihnen die SFG ADHS den Nachweis kostenlos ausstellen. Im Zuge dieser Neuerung möchten wir Sie auf ein bereits bestehendes Dokument der SFG ADHS hinweisen. Unser Verein stellt bereits seit einiger Zeit einen Patientenausweis für den Strassenverkehr zur Verfügung, der von der behandelnden medizinischen Fachperson ausgefüllt werden muss. Kann bei einer Polizeikontrolle im Strassenverkehr nicht nachgewiesen werden, dass jene eingenommenen ADHS-Medikamente, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, nicht ärztlich verschrieben wurden, muss mit einem umgehenden Fahrausweisentzug gerechnet werden. Bedauerlicherweise wurden uns in letzter Zeit von solchen Vorfällen berichtet und wir möchten die Wichtigkeit des Mitführens eines Patientenausweises betonen.

 

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  • Prisca Zulauf hat sich nach 13 Jahren Vorstandstätigkeit dazu entschlossen, Ihr Engagement in der SFG ADHS nicht mehr weiter zu verfolgen und hat bereits im letzten Jahr Ihren Rücktritt auf Ende dieses Jahres angekündigt. Um den frei gewordenen Platz im Vorstand neu zu besetzen, wird in der kommenden Mitgliederversammlung Prof. Dr. med. Nader Perroud als neues Vorstandsmitglied vorgeschlagen. Der Psychiater und Psychotherapeut ist stellvertretender Chefarzt am Universitätsspital Genf (HUG) und Leiter der Abteilung für Störungen der Emotionsregulation (TRE), in der Menschen mit ADHS und Borderline-Persönlichkeitsstörungen betreut werden. Als Privatdozent an der Universität Genf hält Prof. Dr. med. Nader Perroud regelmäßig Vorlesungen, spricht auf nationalen und internationalen Konferenzen und er hat sich dazu bereit erklärt, an der kommenden Mitgliedertagung ein Referat zu halten. Ebenfalls für einen Rücktritt aus dem Vorstand hat sich Oliver Obrecht entschlossen, der die Coaches vertreten hat. Auch für diese Vorstandsposition wird für einen Ersatz gesucht.
  • Im Auftrag der SGPP hat sich rund um die SFG ADHS eine Expertengruppe formiert, die sich mit der Erarbeitung von Behandlungsempfehlungen zu ADHS beschäftigt. Das Kick-off Meeting zum Projektstart fand Mitte Dezember statt und wir hoffen, dass die entsprechenden Behandlungsempfehlungen 2024 fertig gestellt werden können.

 

 

Pallanti Stefano und Salerno Luana (2020): The Burden of Adult ADHD in Comorbid

Psychiatric and Neurological Disorders. Cham: Springer Nature Switzerland

Rezension von Dr. Monika Brunsting

 

Stefano Pallanti, Professor in Stanford und Gründer des Neurowissenschaftlichen Instituts in Florenz ist Experte für Hirnstimulation und hat mit der Psychologin Luana Salerno ein wegweisendes Buch verfasst, das den aktuellen Stand der Forschung in Diagnostik und Therapie von ADHS aufzeigt.

Nach Beschreibungen der ADHS (Kap.2-3) plädieren die Autoren für einen Paradigmenwechsel in Diagnostik und Therapie: Dieser neue Weg der «Research domain criteria (R-Do-C) sei besser imstande, komplexe psychiatrische mentale Störungen wie die ADHS zu verstehen und zu behandeln. Genetik, Moleküle, zahlreiche Schaltkreise, Verhalten Physiologie und Selbst-Beobachtung/Report sind Bestandteile eines solchen multidimensionalen Konzepts zur Diagnostik und Behandlung psychiatrischer Störungen mit neurologischen Wurzeln (Kap. 4).

Die Autoren stellen Diagnostik und Therapie von ADHS im psychiatrischen Kontext und im Umfeld neurodegenerativer Störungen vor: «The overlapping symptoms between ADHD and other psychiatric disorders constitute a challenge for clinicians, but the lack of identification of the presendence of ADHD can negatively influence the trajectory of the psychiatric or neurologic comorbid conditions and increase personal and socioeconomic burden.» (Introduction, p. XV).

Im Hauptteil dieser umfassenden Publikation stellen sie in 18 Kapiteln ADHS mit verschiedenen Komorbiditäten vor: von mehr psychiatrischen Störungen wie Depressionen oder Angststörungen bis hin zu neurokognitiven und neurologischen Störungen. Der durchwegs analoge Aufbau der Kapitel ist sehr leserfreundlich. Nach dem klinischen Blick werden jeweils Verdachtsmomente geschildert, Assessment Tipps und Tools vorgestellt und Behandlungsoptionen geschildert. Man bekommt in jedem Kapitel das notwendige Rüstzeug, um mit komplexen ADHS-Betroffenen gut umzugehen. Die Bibliographie nach jedem Kapitel ist überwältigend und sehr hilfreich, wenn man sich genauer einarbeiten will (Kapitel 5-18).

 

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Schliesslich schildern sie die Behandlung von Erwachsenen mit ADHS (Kap.19). Den fulminanten Schluss des Buches machen Fakten, Gedanken und Ideen für die Zukunft von Forschung und Praxis. Vielversprechende Ergebnisse aus Studien mit nicht-invasiver Hirnstimulation (NIBS) wie TMS, tDCS, und rTMS, werden beschrieben. Zum Schluss werfen sie auch einen Blick auf die Beziehung zwischen Entzündungstheorien und ADHS: «The collected findings clearly point out that inflammation can have a key role in the development of those pathophysiological mechanisms leading to many psychiatric disorders, such as ADHD.» (Pallanti & Salerno, p 361).

Von diesem Buch können nicht nur Psychiater, Neurologen, Gerontologen und Neuropsychologen profitieren, sondern auch andere «mental health practitioner» die mit wenig auf die Standardbehandlungen ansprechenden Patienten arbeiten.

ISBN 978-3-030-39053-2

Monika Brunsting, Beirätin Schweizerische Fachgesellschaft ADHS (SFG-ADHS)

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Aufforderung zur Stellungnahme bezüglich Aussagen eines Mitglieds der Expertengruppe

ADHS des Bundesamts für Gesundheit (BAG)

 

 «Statt der Prügelstrafe wird heute die Ritalin-Keule herausgeholt.» - Dieses in der NZZ abgedruckte Zitat eines Soziologen und Mitglieds der Expertengruppe ADHS des BAG hat die Fachwelt wie auch Betroffene entrüstet. Wir haben das BAG in einem auf LinkedIn veröffentlichten Schreiben aufgefordert, Stellung zu beziehen. Die Fachgesellschaften pädiatrie schweiz, Schweizerische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (SGKJPP) und die Schweizerische Vereinigung der Fachpersonen im schulärztlichen Dienst (scolarmed) distanzierten sich ebenfalls von diesen Aussagen in einer gemeinsamen Stellungnahme an das BAG wie auch die restlichen unabhängigen Mitglieder der Expertengruppe ADHS.

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Bereits im Jahr 2014 hat Monika Bütler, Ökonomin und Honorarprofessorin an der Universität St. Gallen (HSG) als betroffene Mutter auf ihrem Blog «Von selbsternannten Experten und schlafenden Medien» über eine analoge Situation berichtet. Und sogar der Bundesrat schätzte damals in seiner Antwort auf eine Motion von Yvette Estermann (2015) die betreffende Haltung folgendermassen ein:  «Diverse Aussagen, auch von der in der Begründung der Motion Estermann (15.3146) genannten Fachperson, markieren sehr radikale Positionen.»

Knapp zehn Jahre später wird diesen, sich offensichtlich gegen wissenschaftliche Erkenntnisse stellenden Behauptungen nach wie vor durch die Medien eine Plattform gegeben und auch das BAG reagiert nicht. Weder auf unsere Bitte zur Stellungnahme noch mit Konsequenzen für Vertreter solcher Aussagen in den eigenen Reihen. Wir bleiben dran.   

 

 

Veranstaltungshinweise

 

Veranstaltung der SFG ADHS

  • Voranzeige: März 2024, 14.00 - ca. 16.30 Uhr, Tagung mit anschliessender Mitgliederversammlung. Weitere Informationen werden Sie zu gegebener Zeit auf unserer Website www.sfg-adhs.ch finden.

Veranstaltungen Dritter

  •  Internationale Konferenz über ADHS in französischer Sprache am 26. und 27. September 2024 in Genf (CICG)
    Der Fokus in diesem Jahr wird auf die Zusammenhänge von ADHS mit Süchten, neue Ansätze, geschlechtsspezifische Merkmale und den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter gelegt.
    Organisation: Prof.Perroud Nader, Abteilung für Psychiatrie des HUG, Prof. Kerstin von Plessen und PD Dr.Michel Bader, Abteilung für Psychiatrie des CHUV unter Beteiligung des WHO-Kollaborationszentrums für Ausbildung und Forschung im Bereich psychische Gesundheit.

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Weitere Informationen zu den Veranstaltungen finden Sie auf der Website der SFG ADHS www.sfg-adhs.ch

ADHS Aktuell

 
Editorial
 
Im aktuellen Newsletter dreht sich alles um ADHS im Zusammenhang mit der Invalidenversicherung.
Dr. med. Detlev Blocher berichtet über versicherungsmedizinische Aspekte hinsichtlich der Begutachtung bei ADHS.
Eveline Chironi, Psychologin und Teamleiterin Berufsberatung bei der Invalidenversicherung Aargau informiert über den Beitrag der Invalidenversicherung zur Unterstützung von Jugendlichen mit ADHS/ADS in der beruflichen Erstausbildung.
Zudem werden die Forschungsergebnisse zum Thema «ADHS in der Berufsausbildung – Sag ich’s oder verschweige ich’s?» der Berufs-, Studien- und Laufbahnberaterin Bernadette Casasola vorgestellt.
ADHS-Coach Ursula Ammann beschreibt eine weitere Therapie- und Coachingmethode: die Arbeit mit dem IST-SOLL-Tier.
Isolde Schaffter-Wieland, Vorstandsmitglied SFG ADHS gibt eine kurze Zusammenfassung der beiden Referate der SFG-Mitgliederversammlung vom 22. März 2018 zum Thema «ADHS und Versicherungsmedizin».
Herzliche Grüsse,
Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund
 
 

Begutachtung bei ADHS: versicherungsmedizinische Aspekte

Dr. med. Detlev Blocher
Stv. Teamleiter im Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) der IV-Stelle des Kantons Bern
 
Diagnostik
 
Dreh- und Angelpunkt bei der Anmeldung von Erwachsenen mit einer ADHS ist der Nachweis der ADHS-Symptomatik im Kindes- und Jugendalter. Dies geschieht mittels retrospektiver Erfassung mit testpsychologischen Instrumenten, fremdanamnestischer Angaben oder indirekt über Befunde be­züg­lich früherer Anmeldungen bei der IV als Geburtsgebrechen. Auch Zeugnisse für die relevanten Lebensabschnitte sind hier dienlich. Liegt ein entsprechender Nachweis über die ADHS-Diagnose im Kindes- und Jugendalter nicht vor, so minimiert dies die Chancen auf eine rasche und zielführende Bearbeitung des Falles deutlich bzw. erfordert eine sehr ausführliche und überzeugende Argumenta­tion, dass dennoch von einer adulten ADHS auszugehen ist. Insgesamt ist auf eine stringente Erfas­sung der klinischen Symptomatik seit der Jugend über das frühe Erwachsenenalter hin zur aktuellen Situation zu achten. Ferner empfiehlt sich eine Festlegung auf einen Subtypus der Störung und es muss dargelegt werden, dass keine andere Störung die Symptomatik besser erklären kann. Grosse Probleme scheint es häufig mit der korrekten Erfassung komorbider psychischer Störungen zu geben. Gelingt dies für die Diagnose eines Missbrauchs bzw. einer Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen, die man bei zirka 15 bis 50% der Patienten je nach Definition und Substanz findet, noch relativ zuverlässig, so überzeugen die Angaben über eine gleichzeitig vorliegende Persönlichkeitsstö­rung nicht immer. Dabei trifft man bei einer Persistenz des ADHS in Erwachsenenalter oft auf Phäno­mene der Dissozialität und der emotionalen Instabilität. Letztere ist aber meist als adulter Ausdruck der ADHS zu verstehen. Für den Bereich der affektiven Symptomatik ist eine klare Differenzierung zwischen Störungen der Affektlabilität, die ja Teil der Utah-Kriterien und somit störungsimmanent sind, und einer manifesten affektiven Störung vorzunehmen. Eher für eine ADHS-spezifische Affekt­proble­matik sprechen der Wechsel zwischen neutraler und niedergeschlagener Stimmung, eine reaktive Auslösung und Beendigung durch ADHS-typische Anlässe, die oft gleichzeitig vorzufindende emotionale Überreagibilität sowie die Schilderung einer eher dysphorisch-gereizt-gelangweilten Symptomatik bei fehlender Stimulation. Zu beachten ist auch die Dauer, die bei dieser Symptomatik einige Stunden bis wenige Tagen umgreift, also die ICD-10 Kriterien für eine depressive Episode nicht erfüllt und somit ein klares Unterscheidungsmerkmal darstellt. Letztlich sind noch Angstsymptome differentialdiagnostisch zu fassen. Sinnvoll erscheint darüber hinaus, auch zu somatischen Komorbi­di­täten (Asthma, Unfälle etc.) Stellung zu nehmen.
Zu bedenken ist, dass trotz der hohen Komplikationsraten über 40% der adulten ADHS-Patienten wissenschaftlichen Studien zufolge keine komorbide Störung aufweisen. Ist dies aber der Fall, so besteht in der Regel eine Dosis-Wirkungsbeziehung zwischen der ADHS und den komorbiden Störungen. Aus versicherungsmedizinischer Sicht relevant ist, ob die Komorbidität den Patienten sonst vorhandene Ressourcen raubt.
 
Verlauf der Störung
 
Häufig findet man eine Veränderung und später dann eine Verbreiterung der Symptomatik im zeitli­chen Verlauf. Von der ADHS-Core-Symptomatik bildet sich die Hyperaktivität vergleichsweise früh zurück und es bleiben im Erwachsenenalter meist eine innere Unruhe sowie eine Impulsivität zurück bei Persistenz der Konzentrationsprobleme. Letztere treten aber durch das Erlernen von Kom­pen­sations­mechanismen weniger direkt zu Tage. Insgesamt nimmt die Hauptsymptomatik im späteren Erwachsenenalter nur wenig ab oder zu. Vielmehr führen die Auswirkungen der oben erwähnten komorbiden Störungen und/oder die störungsbedingt sich entwickelnden sozialen Probleme zu einer Verbreiterung der klinischen Symptomatik.
 
Funktionsbeeinträchtigungen
 
Der klinische Erfahrungswert bei Patienten mit einer Persistenz der ADHS ins Erwachsenenalter ist der, dass deren schulische und berufliche Abschlüsse meist deutlich hinter den Erwartungswerten zurückbleiben. Es finden sich viele bzw. häufige Wechsel des Arbeitsplatzes, oft ausgelöst durch – störungsbedingte – Konflikte mit Kollegen und Vorgesetzten. Aber auch im privaten Bereich führt die Störung zu kurzlebigen Partnerschaften und erhöhten Scheidungsraten. Deutliche Belastungen für die Angehörigen bleiben dann oft nicht aus. Ferner ist ein erhöhtes Unfallrisiko in Schule, Beruf, Frei­zeit und Straßenverkehr ein zuverlässig replizierter Befund.
Betrachtet man die möglichen Langzeitfolgen einer ADHS im Erwachsenenalter genauer, so stösst man vor allem auf Störungen des Selbstbildes, der Selbststeuerung und auf ein reduziertes Selbst­wert­­gefühl. Die adulten ADHS-Patienten verfügen meist über verminderte soziale Fertigkeiten und zeigen oft ein desorganisiertes Verhalten sowie eine Stressintoleranz, was beruflichen Problemen Vorschub leistet. Mangelndes Zeitgefühl, Probleme im Umgang mit eintönigen Tätigkeiten und Störquellen sowie eine geringe Frustrationstoleranz runden das Bild meist ab.
Aber auch unabhängig von einer vielleicht schwierigen diagnostischen Einordnung der gesamten klinischen Symptome kommt es bei der versicherungsmedizinischen Beurteilung darauf an, wie schwer sich die ADHS- bzw. die störungsspezifischen Defizite und Beeinträchtigungen auf die Arbeits­fähigkeit auswirken. Eine quantitative Einschränkung findet man in der Regel nicht. Meist handelt es sich um eine qualitative Leistungseinschränkung. Um diese sinnvoll abbilden zu können, empfiehlt sich eine standardisierte Erfassung, z. B. mittels Mini-ICF-APP. Insgesamt betrachtet resultiert aus ver­­sicherungsmedizinischer Sicht eine relevante Einschränkung der Arbeitsfähigkeit dann meist durch die Auswirkungen der komorbiden Störungen bzw. die Interaktion der ADHS-Symptomatik mit diesen.
Der Verlauf der funktionellen Störungen ist überwiegend heterogen, bedeutet also, dass es auch immer wieder zu einer Stabilisierung kommt. Einer Normalisierung des Funktionsniveaus stehen dann meist klar umschriebene Faktoren entgegen wie die gerade genannten Probleme mit den komorbiden psychischen Störungen sowie psychosoziale Risikofaktoren. Auch bei einer persistie­renden Impulsivität, die sich therapeutisch nur schwer beeinflussen lässt, finden sich überzufällig häufig Verläufe mit geringen privaten wie beruflichen Erfolgsmerkmalen.
 
Therapiemöglichkeiten
 
Aus versicherungsmedizinischer Sicht lautet die Prämisse bei der Behandlung von ADHS-Patienten wie folgt: Durch welche therapeutischen Massnahmen lassen sich die bestehenden funktionellen Leistungseinbussen reduzieren bzw. die aktuelle Leistungsfähigkeit stabilisieren. Zwar gibt es einen wissenschaftlichen Nachweis für die Wirksamkeit der Therapiebausteine Psychopharmakotherapie und Psychotherapie, wie sich diese Methoden aber auf die funktionelle Leistungsfähigkeit auswirken, ist noch nicht sehr gut untersucht. Dabei ist auch zu bedenken, dass ein Übermass an therapeu­tischer Massnahmen sich im Sinne eines Overflows zum Teil auch negativ auf die Gesamtsituation auswirken kann. Unbestritten ist aber, dass eine adäquate Behandlung der komorbiden Störungen die Chance auf die Verbesserung der sozialen Adaptation und damit des beruflichen Funktions­niveaus bietet.
Zusammengefasst ist vor einer IV-Anmeldung von Patienten mit einer ADHS die nachfolgende Check­liste zu beachten:
  • Liegt der Nachweis einer ADHS-Symptomatik im Kindes- und Jugendalter vor?
  • Ist die ADHS-Diagnose lege artis gestellt?
  • Wurde eine umfangreiche Abklärung möglicher komorbider Störungen (psychisch und somatisch) durchgeführt?
  • Erfolgte die Erfassung möglicher Funktionsbeeinträchtigungen standardisiert?
  • Ist der therapeutische Verlauf gut dokumentiert?
  • Können umfangreiche Informationen zum sozialen Umfeld bereitgestellt werden?
 
Kontakt:
Dr. med. Detlev Blocher
Stv. Teamleiter Regionaler Ärztlicher Dienst RAD
IV-Stelle Kanton Bern
Scheibenstrasse 70
Postfach
3001 Bern
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Literatur beim Verfasser
 
 
 
 

„Zappelphilipp, Dreamer und Chaosprinzessin“: Erfolgreiche Unterstützung von Jugendlichen mit ADHS/ADS in der beruflichen Erstausbildung

Was kann die Invalidenversicherung dazu beitragen?

Eveline Chironi, Psychologin und Teamleiterin Berufsberatung bei der Invalidenversicherung Aargau
 
Jugendliche und junge Erwachsene mit der Diagnose ADHS/ADS, die der Berufsberatung der Invalidenversicherung vorgestellt werden, haben oft einen sehr langen Leidensweg hinter sich bis sie zusammen mit entsprechenden Therapiestellen wirksam unterstützt werden können. Häufig sind schon in der Vergangenheit erhebliche Verhaltens- und Schulschwierigkeiten aufgetreten, die zu einem Abbruch oder Unterbruch der beruflichen Grundbildung führten und auch alternative Wege in eine Berufsausbildung scheitern liessen. Die Gründe für das späte zur Verfügung Stellen fachgerechter und leidensspezifischer Unterstützung vor und während der Berufsausbildung sind jedoch äusserst vielfältig. Teils liegen die Ursachen immer noch im zu geringen Bekanntheitsgrad des Kostenträgers IV und dessen reichhaltiger Unterstützungsmöglichkeiten in Form von beruflichen Massnahmen. Andere Gründe liegen sicher auch in der doch recht heterogenen Symptomatik des ADHS/ADS-Leidens und der damit verbundenen diagnostischen Hürden. Das parallele Einsetzen der Pubertät in den oberen Schulklassen erschwert zudem eine klare Unterscheidung zwischen der Verhaltens- respektive Leistungssymptomatik und den motivationalen Aspekten des Leidens und der Pubertät an sich. Zeigen sich isolierte leichtere bis mittlere Verhaltens- und Leistungsprobleme in der Schule, erhalten betroffene Jugendlichen mit normaler Intelligenz zudem keinen Sonderschulstatus. Dadurch entfällt auch die wertvolle Beratung und Begleitung durch den schulpsychologischen Dienst und damit das Hinführen zu einer erforderlichen IV-Anmeldung.
 
Erfolgreicher Schulbesuch, aber dennoch Schwierigkeiten in der Berufsausbildung
 
Bei vielen betroffenen Jugendlichen gelingt es glücklicherweise mit fachgerechter pädagogischer Unterstützung die Schulstufe erfolgreich zu bewältigen und eine Ausbildung anzuschliessen. Stillere, schwächere Schüler ohne offensichtliche Verhaltensauffälligkeiten durchlaufen viel häufiger unbemerkt und teils mit erheblichen Bildungslücken die Schulzeit als Schüler mit grossen Verhaltensschwierigkeiten und Strukturierungs- und Konzentrationsproblemen. Im Schulalltag mit seinen zu Recht auf die einzelne Ressourcenförderung ausgerichteten Betrachtungen und Interventionen findet zudem seltener eine umfassende und defizitorientierte Verhaltens- und Leistungsbeurteilung statt. Diese könnte jedoch als Entscheidungsgrundlage für oder gegen eine IV-Anmeldung dienen. Auch häufigere Schul- und Wohnortswechsel bei vermehrter Mobilität können eine entsprechende Entwicklungsbeobachtung über einen angemessenen Zeitraum verunmöglichen und damit die Entscheidung zur IV-Anmeldung erschweren. Verständlicherweise gleichen Eltern auch immer wieder Lern- und Strukturierungsprobleme ihrer Kinder aus. Damit verhindern sie aber auch das Offenlegen der gesamten Problematik und das pädagogische Hinführen zu besserer Selbststrukturierung bei vorliegender ADHS/ADS. Erschwerend kommt hinzu, dass auch bei offensichtlichem Unterstützungsbedarf für die Erstausbildung eine IV-Anmeldung für berufliche Massnahmen umgangen wird, da IV-Leistungen immer noch mit schwerer und dauerhafter Invalidität assoziiert werden.
Mit dem Schulabschluss und Beginn der beruflichen Ausbildung steigen jedoch die Anforderungen an die sozialen Kompetenzen, das selbstständige Lernen und das Strukturieren. Das Wegfallen des engmaschigeren schulischen Rahmens verschärft die Situation auch für betroffene Jugendliche mit besserer Kognition, so dass auch ein guter Lehrbeginn zu einem späteren Abbruch führen kann.
 
Leistungen der Invalidenversicherung bei ADHS und ADS
 
Die Invalidenversicherung verfügt grundsätzlich über zahlreiche Leistungen, die betroffene Kinder, Jugendliche und Erwachsene professionell unterstützen. Bei Kindern, die bis zum 9. Lebensjahr aufgrund einer ADS/ADHS therapeutische Interventionen erhalten haben und bis zum 11. Altersjahr bei der Invalidenversicherung angemeldet wurden, kann ein sogenanntes Geburtsgebrechens 404 anerkannt werden. Diese Anerkennung ermöglicht die Vollkostenübernahme der Leidensbehandlung bis zum 20. Altersjahr. Wurden entsprechende Fristen verpasst, die Anerkennung verneint oder das Leiden erst später behandlungsbedürftig, ist dennoch eine Unterstützung in Form von beruflichen Massnahmen möglich.
Um eine berufliche Massnahme zusprechen zu können, muss die ADHS/ADS-Symptomatik eine Erstausbildung oder die Berufswahl erschweren oder in der Vergangenheit erschwert haben. In selteneren Fällen sind Auswirkungen auf den Beruf erst im Erwachsenenalter offensichtlich, so dass eine Umschulung nach begonnener Erwerbslaufbahn geprüft werden muss. Im Gegensatz zu den zahlreichen IV-Anmeldungen führt eine isolierte ADHS/ADS-Diagnose in den meisten Fällen aber nicht zu einer IV-Berentung, was darauf hinweist, dass die Symptomatik oft unter der zunehmenden Reifung abnimmt und mit Hilfe von adäquater Unterstützung auch eine erfolgreiche Berufslaufbahn aufgenommen werden kann. Es lohnt sich in jedem Fall rechtzeitig entsprechende Hilfen zu stellen, damit betroffene junge Menschen mit einer ADHS/ADS-Symptomatik die Möglichkeit erhalten, überhaupt eine Erstausbildung gemäss ihren Fähigkeiten absolvieren zu können (und dies ohne die Anhäufung von einer unendlichen Folge von Misserfolgserfahrungen). Junge Menschen ohne abgeschlossene Erstausbildung tragen ein erhebliches soziales Risiko und verbleiben häufiger in der Sozialhilfe und in der Arbeitslosigkeit. Das Gesetz über die Invalidenversicherung trägt demnach auch mit den beruflichen Massnahmen dazu bei, langfristig die soziale Sicherheit zu garantieren und Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen in unsere Gesellschaft, d.h. auch in unseren Arbeitsmarkt, zu inkludieren. Die Invalidenversicherung verpflichtet sich mit ihren beruflichen Massnahmen daher zu effektiven Bildungsleistungen, die auch im Anschluss begleitet oder unbegleitet in eine Anstellung führen und den nachhaltigen Aufenthalt im ersten Arbeitsmarkt ermöglichen.
 
Eine frühzeitige Anmeldung führt zu Entlastung aller beteiligten Personen
 
Damit die Invalidenversicherung rasch und professionell unterstützen kann, ist eine frühzeitige Anmeldung mindestens zwei Jahre vor dem Schulaustritt durch die Eltern oder einem Rechtsvertreter auch bei moderater Symptomatik empfehlenswert. Der IV-Anmeldung sollten möglichst bestehende medizinische Akten und Schulberichte beigelegt werden. Im optimalen Fall ist zu diesem Zeitpunkt eine regelmässige fachgerechte medizinische Therapie eingeleitet, die auch konsequent durchgeführt wird. 
Bei der Übernahme von erstmaligen beruflichen Massnahmen der Invalidenversicherung wird der eigentliche Ersatz der sogenannten behinderungsbedingten Mehrkosten für die Erstausbildung (Art. 16 IVG) zugesprochen, sofern diese Mehrkosten CHF 400 pro Jahr übersteigen. Die Erziehungsberechtigten haben damit weiterhin die Grundkosten für die Erstausbildung zu tragen, wie sie bei jedem Jugendlichen in der beruflichen Grundbildung anfallen (Art. 302 ZGB). Unter Mehrkosten können eigentliche Bildungsleistungen (z.B. die Kosten einer Handelsschule oder Nachhilfeunterricht) sowie auch akzessorische Leistungen wie Taggelder als Ersatz für Lohnausfall und Reisekosten respektive Zehrgelder (Spesen) fallen. Die Mehrkosten werden in jedem einzelnen Fall durch die Berufsberatenden der IV ermittelt.
Die Invalidenversicherung prüft nach dem Einreichen einer IV-Anmeldung individuell, ob zusätzlich zu einer medizinischen Behandlung eine leidensbedingte Unterstützung für das Bewältigen einer Erstausbildung erforderlich ist. Ist dies der Fall, wird die IV-Berufsberatung die vorliegende Situation in einer professionellen Bildungsberatung mit Hilfe einer individuellen Interessen- und Ressourcenabklärung besprechen und gemeinsam mit den Jugendlichen, den Eltern und den Therapiestellen die notwendigen nächsten Schritte festlegen. Je nach Grad des erhobenen Unterstützungsbedarfs wird die Intensität der Begleitleistungen im entsprechenden Wunschberuf bestimmt. In einigen Fällen braucht es für den Erfolg der Erstausbildung nur die Übernahme eines begleitenden (ADHS-)Coachings oder des Lehrlingslohnes in Form von Taggeldern. In anderen Fällen sind umfassende sozialrehabilitative Massnahmen vor der eigentlichen Ausbildung im geschützten Rahmen und ein leidensbedingtes betreutes Wohnen notwendig. Jede berufliche Massnahme ist eine individuelle Einzellösung und wird auf den langfristigen Verbleib im ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet.
 
Aufgaben der Invalidenversicherung der Zukunft
 
Die Aufgaben der Invalidenversicherung im Bereich der beruflichen Bildung werden auch in Zukunft von Bedeutung sein. In seiner Botschaft vom Februar 2017 hat der Bundesrat für die nächste IV-Revision umfassende Leistungen für junge Versicherte und vor allem für junge Menschen mit psychischen Schwierigkeiten in Aussicht gestellt. Für die Begleitung junger Versicherter in die Erwerbstätigkeit soll der Invalidenversicherung künftig sogar eine umfassende Querschnittsfunktion zukommen, die auch präventive Massnahmen zur Vermeidung einer Leidens-Chronifizierung respektive Invalidität beinhaltet.
Bereits heute sind die beruflichen Massnahmen der Invalidenversicherung auf individuelle Versichertenbedürfnisse ausgerichtete Leistungspakete, die auch den Zugang zu notwendigen Sondersettings beinhalten ohne dabei Familien finanziell zu belasten. Diese Massnahmen unterstützen Jugendliche mit gesundheitlicher Problematik umfassend und leiten zu einer selbstgeführten Lebensgestaltung respektive finanziellen Unabhängigkeit an.
Eine frühzeitige Anmeldung trägt damit entscheidend dazu bei, Jugendlichen mit relevanten Schwierigkeiten rechtzeitig in eine Erstausbildung zu verhelfen, den Eintritt in den Arbeitsmarkt zu unterstützen und soziale Risiken zu mindern. 
 
Hinweis: Im Rahmen der Aktionstage psychische Gesundheit organisieren die Beratungsdienste ask!, die IV-Berufsberatung Aargau und Betroffene am 23.10.2018, 19.00 Uhr in der Aula der neuen Kantonsschule Aarau, eine öffentliche Veranstaltung mit anschliessendem Apéro zum gleichen Thema: „Zappelphilipp, Dreamer und Chaosprinzessin“: 
Erfolgreiche Unterstützung von Jugendlichen mit ADHS/ADS in der beruflichen Erstausbildung
 
 
 
 

ADHS in der Berufsausbildung – Sag ich’s oder verschweige ich’s?

Die Berufs-, Studien- und Laufbahnberaterin Bernadette Casasola hat 2017 eine spannende Masterarbeit zu diesem Thema verfasst. Die Sozialpädagogin ist in Basel tätig als SVA-Eingliederungs­beraterin. Das Ergebnis wollen wir unseren auf ADHS-spezialisierten Fachpersonen nicht vorenthalten, da es im Kontext der Tagungsreferate eine interessante Ergänzung darstellt. 
Zusammenfassung von Isolde Schaffter-Wieland, Vorstandsmitglied SFG ADHS
 
Viele ADHS-Betroffene und/oder deren Eltern fragen sich während der Lehrstellensuche: «Wie rea­giert der Lehrbetrieb, wenn ich meine ADHS offen kommuniziere, und wann ist der richtige Zeit­punkt, ihn darüber in Kenntnis zu setzen?» Um diese Frage beantworten zu können, braucht es Erfahrungswerte der Lehrbetriebe. Im Rahmen der Masterarbeit zur Berufs-, Studien- und Laufbahn­beraterin an der FHNW in Olten nahmen im September 2016 total 506 Lehrbetriebe im Kanton Solothurn an der Umfrage von Bernadette Casasola zum Thema «ADHS in der Berufsausbildung» teil. Insgesamt wurden 2027 Lehrbetriebe angeschrieben und zu ihren Erfahrungen mit ADHS be­fragt. Der Rücklauf der Online-Fragebögen betrug 25%.
 
Lehrbetriebe schätzen es sehr, wenn sie von ihren Lernenden über die Diagnose ADHS informiert werden, relevant dafür ist der richtige Zeitpunkt.
 
Die nachfolgenden Auswertungen zeigen auf, wie die Lehrbetriebe geantwortet haben, was ihnen wichtig ist und welche Erfahrungen mit ADHS vorhanden sind.
 
Ein erster Überblick der ausgewerteten Rückmeldungen:
 
Lehrbetriebe, die ADHS bis zur Umfrage nicht kannten
62
Lehrbetriebe, denen ADHS aus dem beruflichen und/oder privaten Umfeld bekannt ist
444
Lehrbetriebe, die in den vergangenen 5 Jahren Lernende mit ADHS ausgebildet haben
70
Lehrbetriebe, die keine Lernenden mit ADHS ausbilden würden
(94 Lehrbetriebe mit ADHS-Kenntnissen und 17 ohne ADHS-Kenntnisse)
121
Lehrbetriebe, denen ADHS bekannt ist und die Lernende mit ADHS ausbilden würden
385
 
Nachfolgende Statistik zeigt auf, ob und wann die Lehrbetriebe von den Lernenden über die Aufmerk­sam­keits­defizitstörung informiert werden möchten:
 
 
Diese Auswertung beinhaltet die Antworten der 70 Lehrbetriebe mit ADHS-betroffenen Lernenden und die der 280 Lehrbetriebe, denen ADHS bekannt ist und die Lernende ausbilden würden. Die 62 Lehrbetriebe ohne ADHS-Kenntnisse sowie die 94 Lehrbetriebe, die keine Lernenden mit ADHS ausbilden würden, wurden dazu nicht befragt.
88% der Lehrbetriebe möchten bereits während des Bewerbungsprozesses von der ADHS erfahren. Persönliche Anmerkungen der Lehrbetriebe verdeutlichen, dass eine durchgehend offene und ehrliche Kommunikation sehr geschätzt wird. Dies aus dem Grund, dass sich der Lehrbetrieb besser auf die Situation einstellen und darauf vorbereiten kann.
Wie und ob die 70 Lehrbetriebe mit ADHS-betroffenen Lernenden informiert worden sind, zeigt folgendes Diagramm:
 
 
Die Rückmeldungen der Lehrbetriebe, die bereits Erfahrungen in der Ausbildung mit ADHS-betroffe­nen Lernenden haben, zeigen auf, dass dies in Wirklichkeit anders gehandhabt wird. Lediglich 33% der Lehrbetriebe wurden während der Bewerbungsphase respektive innerhalb der ersten Monate informiert.
 
Die Lernenden mit ADHS verteilen sich wie folgt auf die Lehrbetriebe:
 
 
An der Umfrage haben 98 Lehrbetriebe teilgenommen, die mehr als 100 Mitarbeitende beschäftigen, 40 Betriebe mit 51–100 Mitarbeitenden und jeweils 184 Lehrbetriebe mit bis zu 10 und zwischen 11 und 50 Mitarbeitenden.
Die 70 teilnehmenden Lehrbetriebe haben innerhalb der letzten 5 Jahre insgesamt 77 Lernende mit ADHS ausgebildet.
 
Nachfolgendes Balkendiagramm zeigt, welche beruflichen Grundbildungen ab­sol­viert wurden:
 
 
Die Lehrbetriebe schätzen eine gute Zusammenarbeit mit den Eltern als wichtigste Bezugspersonen der Lernenden – egal, ob mit oder ohne ADHS.
 
Weitere bekannte Unterstützungsmassnahmen sind folgende:
 
 
73 Lehrbetriebe geben an, dass sie keine der aufgelisteten Unterstützungsmassnahmen kennen. Unter «Andere» wurden folgende Unterstützungsmassnahmen angegeben: Ritalin, interne Wechsel in ein ruhigeres Setting, Ernährung, Naturheilmethoden, Kinesiologie, mehr Zeit sowie Unterstützung durch die Invalidenversicherung.
Unterstützungsmassnahmen sollen individuell angepasst und punktuell eingesetzt werden: So viel wie nötig und so wenig wie möglich! Jede Massnahme, die einem ADHS-Betroffenen dient, ist auch für die anderen Mitarbeitenden ein Gewinn.
In 15 Fällen kam es gemäss Lehrbetrieb zu einer Auflösung des ursprünglichen Lehrvertrags aufgrund der ADHS. Von den Lehrbetrieben wurden folgende Gründe für den Lehrabbruch angegeben:
  • Die Kooperation der Lernenden und der Eltern fehlte
  • Schule war zu anspruchsvoll
  • Ungenügende Entwicklung/Leistung
  • Starke psychische Belastung
  • Lernender wollte nicht mehr
  • Wechsel von EFZ in EBA
  • Ausbildung in anderem Betrieb weitergeführt
  • Die Umsetzung in die Praxis funktionierte nicht, die Lernende war unkonzentriert, nicht krank­heitseinsichtig, nicht ehrlich
  • Konnte nicht zu eigenen Fehlern stehen, grosse Konzentrationsschwächen am Arbeits­platz
Bei der genauen Analyse der 15 Lehrvertragsauflösungen zeigt sich, dass es in 10 Fällen effektiv zu einem Lehrabbruch ohne direkte Anschlusslösung innerhalb des Lehrbetriebs oder in einem anderen Lehrbetrieb gekommen ist. 3 Lehrverhältnisse wurden innerhalb vom Lehrbetrieb in ein angepasstes Niveau umgewandelt (vom Logistiker EFZ in EBA, vom KV E-Profil ins B-Profil und vom Elektroinstalla­teur zum Montageelektriker). Ein Lernender in der Ausbildung zum Koch EFZ wurde von einem ande­ren Betrieb nahtlos übernommen. Ein Jugendlicher in Ausbildung zum Informatiker wurde von der Berufsschule verwiesen. Der Lehrbetrieb beschäftigte den Jugendlichen aber weiterhin als Praktikan­ten, bis eine Anschlusslösung (KV B-Profil) mit Unterstützung der Invalidenversicherung gefunden werden konnte.
Kommt es während der Ausbildung zu Problemen/Schwierigkeiten, sollte wie bei allen Lernenden dif­fe­renziert werden, wo die Ursache liegt und was genau Schwierigkeiten bereitet. Kristallisiert sich im Laufe der Zeit heraus, dass die sogenannte «Chemie» zwischen Lehrbetrieb und Lernenden nicht stimmt, der Beruf aber der Richtige ist, dann kann ein Wechsel in einen anderen Lehrbetrieb für alle Beteiligten eine Entlastung sein.
 
Die Frage: «Würden Sie Jugendlichen mit ADHS eine berufliche Grundausbildung in Ihrem Betrieb ermöglichen?» wurde folgendermassen beantwortet:
 
 
76% der 506 teilnehmenden Lehrbetriebe sind bereit, einen Lernenden mit ADHS auszubilden. Dies ist eine erfreuliche Zahl und verdeutlicht auch das Engagement der Lehrbetriebe. Welche Gründe 121 Lehrbetriebe dazu veranlasst hat, keine Lernenden mit ADHS auszubilden, kann anhand dieser Um­fra­ge nicht abschliessend evaluiert werden. Genannte relevante Gründe können die Arbeitssicher­heit, ein hektisches Arbeitsumfeld sowie Grossraumbüros sein.
 
Die Lehrbetriebe schätzen an «ihren» Lernenden mit ADHS die offene und aufgestellte Wesensart, die Begeisterungsfähigkeit und Motivation sowie ihre Dankbarkeit (dies ist lediglich ein Auszug der indivi­duellen Rückmeldungen der Lehrbetriebe).
 
Fazit
Es ist empfehlenswert und sinnvoll, den Lehrbetrieb über die ADHS zu informieren. Die Aufmerksam­keits­de­fizit­störung mit oder ohne Hyperaktivität/Hypoaktivität soll aber nicht den ganzen Bewer­bungs­prozess überschatten!
Die Lernenden mit ADHS müssen die Möglichkeit haben, sich wie alle Lehrstellensuchenden zu em­pfehlen, indem sie sich bewerben, am Vorstellungsgespräch präsentieren und ihre Fähigkeiten wäh­rend der Schnupperlehre unter Beweis stellen können. Sind diese «Hürden» genommen und der Lehrbetrieb signalisiert weiterhin Interesse an einem Lehrverhältnis, dann ist ein idealer Zeitpunkt, die ADHS zu kommunizieren. Die Jugendlichen haben ihre Chance genutzt und den Lehrbetrieb aus eigener Kraft von ihrer Eignung überzeugt. Ein Erfolgserlebnis, auf das sie stolz sein können und das sich positiv auf das Selbstwertgefühl auswirkt!
Kommt es aufgrund der ADHS zu keinem Lehrverhältnis, muss geklärt werden, welche Gründe den Lehrbetrieb dazu veranlasst haben, sich gegen einen Lehrvertrag zu entscheiden. Kommen zum Bei­spiel Bedenken in Bezug auf die Arbeitssicherheit auf, besteht allenfalls die Möglichkeit, während eines erneuten Schnuppereinsatzes den zukünftigen Lehrmeister vom Gegenteil zu überzeugen und die Bedenken zu überprüfen. Blockt der Lehrbetrieb ab, weil er nicht bereit ist, sich auf einen Lernen­den mit ADHS einzulassen, stellt sich grundsätzlich die Frage, ob dieser Betrieb der geeignete Ausbil­dungsplatz ist. Klar ist es frustrierend, die Lehrstelle kurz vor dem Ziel nicht erhalten zu haben. Be­denkt man aber, dass die Lernenden die nächsten zwei bis vier Jahre auf einen Lehrbetrieb angewie­sen sind, der aus irgendwelchen Gründen keine Lernende mit ADHS ausbilden möchte, ist es besser, dass auch der Lehrbetrieb mit offenen Karten spielt. Eine Lehrvertragsauflösung sollte, wann immer möglich, vermieden werden.
Welche Entscheidung letztlich die Richtige ist, muss individuell jeder für sich beantworten. Idealer­weise können die Erkenntnisse aus dieser Umfrage für die Entscheidungsfindung genutzt werden.
 
Links und weitere Merkblätter zum Thema:
 
ADHS bei Lernenden
 
Nachteilsausgleich
 
 
 

ADHS Analog (2): Die Arbeit mit dem IST-SOLL-Tier

Ursula Ammann, MAS ZHAW Supervison, Coaching und OE, ADHS-Coach
 
In einer regelmässigen Serie schreibt Ursula Ammann über analoge Methoden, die sich im Therapie- und Coaching-Bereich bewährt haben. Heute das IST-SOLL-Tier.
Tierassoziationen haben wir alle immer mal wieder: „Der ist langsam wie eine Schnecke“, „Sie hat einen Adlerblick“, „der macht sich zum Affen“ - um nur einige wenige zu nennen.
Das haben sich verschiedene Therapierichtungen immer wieder zunutze gemacht. Fast jeder kennt das System der Kinderzeichnungen „Familie in Tieren“1, die ursprünglich aus der Psychoanalyse kommt. Auch Gestalt-, systemische und andere Therapieformen setzen auf Tierfiguren, wenn es um freies Assoziieren geht oder um das Bewusstmachen von Verhaltensmustern, Stellungen in Systemen etc.2
Die Arbeit mit Tierfiguren verleiht schwierigen Themen etwas Spielerisches und ermöglicht es dem Klienten und Coach/Therapeuten, auf eine Metaebene zu gehen.
Heute möchte ich Sie mitnehmen in das Arbeiten mit IST-SOLL-Tieren. Vorausschicken möchte ich einige «technische» Vorbemerkungen:
  • ich arbeite fast ausschliesslich mit Schleichtieren, da diese in jedem gut sortierten Warenhaus erhältlich sind und die Klienten sich dann diese bei Bedarf auch selbst kaufen können
  • Bei Kindern kann es Sinn machen, vorweg zu klären, welches ihre Lieblingstiere sind, und diese sind dann eventuell aus der Auswahl zu entfernen. Dies ist beim IST-SOLL Tier nicht so wichtig, bei einer Geno- oder Systemogrammaufstellung jedoch schon, da sich sonst das Resultat verfälscht
  • Alle analogen Arbeiten sind immer nur Momentaufnahmen, können an einem anderen Tag anders ausfallen. Das macht nichts und kann den Klienten auch entlasten.
  • Bitte nicht zu viel Zeit für die Auswahl der Tiere geben und diese auch nicht kommentieren. Es geht darum, Gedanken und Gefühle von der kognitiven Ebene wegzuholen und einen intuitiven Ansatz zu verfolgen. Wenn zu viel Zeit gegeben wird, überlegen sich die Klienten oftmals die Eigenschaften, die dem Tier zugeschrieben werden.
  • Und besonders wichtig: Die Interpretationshoheit liegt immer beim Klienten!
 
Mit dem IST-SOLL-Tier arbeite ich vor allem in Situationen, in denen sich der Klient, die Klientin wünscht, anders zu sein, sich anders zu verhalten oder eine neue Stellung beispielsweise in einem Team einzunehmen.
Mein Gegenüber sucht sich in der Folge aus einer gut präsentierten Tier-Auswahl zwei Tiere aus. Eines für das momentane IST-Empfinden, eines für das gewünschte SOLL-Sein.
Ich lasse mir erzählen, welche Gedanken zur Tierauswahl geführt haben und was sonst noch so durch den Kopf huscht. Dann arbeiten wir daran, was vom SOLL Tier schon vorhanden ist und auch, was vom IST-Tier unbedingt erhalten bleiben sollte.
Manchmal ist das SOLL-Tier utopisch. Das kann verschiedene Ursachen haben und muss sorgfältig angesprochen werden:
 
1.      Würdigen der „Sehnsuchtsziele“
2.      Würdigen der Frustration darüber, dass sie nicht erreichbar sind
3.      Würdigen der Ambivalenz gegen Alternativen
4.      Muster suchen, welche Wahrscheinlichkeit erhöhen, Gewünschtes zu erreichen
5.      Angebot vom „Zweitbesten“  (Nach Gunter Schmidt)
 
Unter Umständen kann man zwei SOLL-Tiere auswählen lassen, was in meiner Praxis jedoch eher selten vorkommt. Eines als „Identifikationsfigur“ und eines als „Differenzierungsfigur“ mit der Bedeutung «das ganz bestimmt nicht».
In der Folge sprechen wir darüber, wie es sich anfühlen würde, als SOLL-Tier zu agieren. Was hinderlich sein könnte und was man noch zur Umsetzung braucht.
 
Im hier gezeigten Beispiel3 hat sich eine Frau Mitte dreissig als Faultier im IST aufgestellt und als sich aufbäumendes Pferd im SOLL. Sie leidet an einer ausgeprägten Prokrastination und wünscht sich sehnlichst Veränderung - ohne etwas dafür tun zu müssen. Im Laufe der Arbeit kam sie zur
Erkenntnis, dass es für sie auch Vorteile hat, wenn man als Faultier wahrgenommen wird, da dann die Erwartungen von aussen automatisch tiefer sind. Ihr ursprüngliches Ziel des sich aufbäumenden Pferdes erschien ihr zwar verlockend, aber doch sehr anstrengend. So entschloss sie sich, lieber in der aktuellen Arbeitssituation zu bleiben und das Pferd nur in der Freizeit zu zeigen. Auf die Arbeit, das Pferd in ihr zu trainieren, wollte sie sich nicht einlassen, da ihr dies zu viel war. Es ging dann in der Folge darum, dass das Faultier sich arbeitstechnisch so positioniert, dass es sich Struktur gibt, die geforderten Aufgaben zu erledigen.
 
 
Das Beispiel zeigt auch, wie wichtig es ist, eigene Interpretationen zu meiden und den Klienten/die Klientin einfach im selbstgewählten Weg zu unterstützen und miteinander zu erarbeiten, welche Konsequenzen welches Verhalten haben kann.
Man kann auch hier, wie bereits im Baustellen-Beispiel, mit einer Skalierung arbeiten. Im oben erwähnten Fall sah diese dann so aus:
Oftmals wird vom Klienten aber das SOLL Tier als Zielelement angestrebt, wie im folgenden Beispiel:
 
 
 
 
 
Hier handelte es sich um eine 40 jährige Mutter, die sowohl den Schwan wie auch den Occtopus als IST-Tier gewählt hatte. Letzteren übrigens erst nach einem weiteren Gespräch – mit Scham und der Aussage „dass sie so sehr klammere und nichts loslassen könne“. Ihr Wunsch war, Züge eines Tigers zeigen zu können und sich nicht mehr für alles verantwortlich zu fühlen. Insbesondere nicht für ihre inzwischen erwachsenen Kinder. Schritt für Schritt überprüfte sie ihre Handlungen am Ziel des „Mini-Tiger-Seins“ und kaufte sich diesen auch um ihn in der Hosentasche mitzuführen als Erinnerungshilfe.
In meiner Erfahrung macht die Arbeit mit Tierfiguren allen Klienten Spass und bringt einen spielerischen Zugang in eine manchmal schwere Thematik. Viel Spass beim Ausprobieren. Wie immer stehe ich für Fragen oder entsprechende Methoden-Supervisionen gerne zur Verfügung!
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Ursula Ammann, MAS ZHAW Supervison, Coaching und OE. Eigene Coachingpraxis www.amteam.ch, Dozentin und Studienleiterin am www.icptp.ch
 
1 Brem Luitgard Familie in Tieren (Kinderzeichnungen)  Reinhardt, Basel, 2011 – 10 Auflage
2 Natho, Frank    Gespräche mit dem inneren Schweinehund Vandenhoeck & Rupprecht, Göttingen, 2010 – 2. Auflage
3 Alle Beispiele Anonymisiert
 
 
 
 

Mitglieder-Tagung «ADHS und Versicherungsmedizin» vom 22. März 2018

Isolde Schaffter-Wieland, Vorstandsmitglied SFG ADHS
 
Die SFG ADHS hat es sehr gefreut: 65 Interessierte fanden an diesem sonnigen Frühlingstag den Weg nach Olten, um an der Tagung mit anschliessender Mitgliederversammlung teilzunehmen. Die Refe­renten sind renommierte Fachpersonen und fanden entsprechend Aufmerksamkeit im Publikum.
 
Dr. med. Detlev Blocher, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, stellte die ADHS-Begutach­tung einerseits vom strafrechtlichen Gesichtspunkt und andererseits vom versicherungsrechtlichen Aspekt her in den Fokus. Seine Ausführungen über den Risikofaktor ADHS in Bezug auf ein delinquen­tes Verhalten zeichnen ein ernüchterndes Bild. Eine Realität, die in der Gesellschaft in diesem Aus­mass noch nicht wahrgenommen, jedoch in Fachkreisen sehr wohl thematisiert wird. Kinder mit einer ADHS entwickeln in bis zu 50 Prozent der Fälle Störungen im Sozialverhalten. Die Wahrschein­lichkeit, Gewalt- oder Eigentumsdelikte zu begehen, ist bei ihnen erhöht. Umso wichtiger ist es, dass Eltern für eine multimodale Behandlung sensibilisiert werden, um dem betroffenen Kind einen mög­lichst deliktfreien Weg ins Erwachsenenalter zu ermöglichen. Studien belegen, dass die Prävalenz von ADHS in Gefängnispopulationen bis zu 50% beträgt! Im Vergleich zu anderen Straftätern beginnt bei ihnen die Delinquenz durchschnittlich 10 Jahre früher.
 
So ist die ADHS ein Risikofaktor für:
  • Antisoziale Persönlichkeitsstörung > Gewalttätigkeit und Aggressivität
  • Suchterkrankungen > Betäubungsmittel- und Eigentumsdelikte
  • Stimmungs- und Impulskontrollstörungen > Sexualdelikte
Die ADHS-Anamnese erhöht das Risiko einer späteren Delinquenz um die Faktoren 6 bis 8.
Moderierender Faktor ist meist die Störung des Sozialverhaltens bzw. die dissoziale Persönlich­keitsstörung. (Blocher & Rösler 2001, Ziegler et. al 2003, Blocher 2009, 2013)
An erster Stelle der Delikte stehen Drogen- (80,3 %), gefolgt von Sexualdelikten (77,8 %), Gewalttätig­keit (77,4%) und Eigentumsdelikten (75,1%). Die Betroffenen zeigen oft auch während des Strafvoll­zugs ein auffälliges Verhalten, vor allem, wenn die Hyperaktivität nicht ausgelebt werden kann. Wie können Delinquente mit einer ausgeprägten ADHS vor einer weiteren Straffälligkeit präventiv be­handelt werden? Denn die Erfahrung zeigt gemäss Studien: Ohne Behandlung mit Stimulanzien oder einem späteren Abbruch der Medikation droht auch eine schnellere Rückfälligkeit.
 
ADHS und Delinquenz - Was ist zu tun?
  • Pharmakologische Interventionen als Primärbehandlung für Kinder und Erwachsene mit ADHS (Fredriksen et al., 2013): Methylphenidat
  •  Geringere Kriminalitätsraten bei ADHS Patienten innerhalb Perioden mit Medikamentenbehand­lung: Reduktion der Kriminalitätsrate um 32% bei Männern und 41% bei Frauen (Lichtenstein et al., 2012)
  • Stimulanzientherapie geht nicht mit einem erhöhten Risiko für Substanzmissbrauch einher (Chang et al., 2013; Ginsberg et al. 2015).
Zum Abschluss erläuterte Dr. Blocher, der seit 2017 im RAD der IV-Stelle des Kantons Bern arbeitet, das Versicherungsrecht und wie die IV im Falle einer adulten ADHS vorgeht. Hier die wichtigsten Punkte im Überblick.
 
Allgemeine Aspekte der IV
  • Zusprache einer Rente bei Personen im Alter zwischen 18 und 24 Jahren hat zwischen 2008 – 2012 um 11 Prozent (BSV) zugenommen
  • Klar gilt die Regel: Eingliederung vor Rente
  • In Bern werden die Anträge der jungen Versicherten zukünftig gleich durch die Eingliederungsfachpersonen bearbeitet
 
Für die Versicherungsmedizinische Beurteilung sind relevante Faktoren:
  • die Diagnostik
  • der Verlauf der Störung
  • die Funktionsbeeinträchtigungen
  • Therapiemöglichkeiten
 
Für die Diagnostik der adulten Form des ADHS sind massgebend:
  • Der Nachweis der ADHS-Symptomatik im Kindes- und Jugendalter
  •  retrospektive Erfassung mit testpsychologischen Instrumenten
  •  fremdanamnestische Angaben
  • Die Befunde über frühere Anmeldungen bei der IV als GG
  • Zeugnisse für die relevanten Lebensabschnitte
  • Erfassung der klinischen Symptomatik seit der Jugend und dem frühen Erwachsenenalter bis zum Anmeldezeitpunkt
  • Testpsychologische bzw. neuropsychologische Abklärung
  • Festlegung auf einen Subtypus
  • Keine andere Störung kann die Symptomatik besser erklären
 
Und letztlich zählen als relevante Faktoren für die IV-Anmeldung:
  • ADHS-Diagnose lege artis
  • Nachweis einer ADHS-Symptomatik im Kindes- und Jugendalter
  • • umfangreiche Abklärung möglicher komorbider Störungen (psychisch und somatisch)
  • Standardisierte Erfassung der Funktionsbeeinträchtigungen
  • Darlegung des therapeutischen Verlaufs
  • umfangreiche Informationen zum sozialen Umfeld
 
Das aufschlussreiche Referat von Dr. Blocher legte eine optimale Basis zum nachfolgenden dynami­schen Fachgespräch zwischen Dr. Oliver Bilke-Hentsch, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie FMH, FA Vertrauensarzt (SGV) und Markus Bonelli, Sekretär der Schweizerischen Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte SGV. Die beiden tauschten sich in einem angeregten Frage- und Antwortmodus über Mythen und Fakten im Kontext von ADHS und (Kranken-)-Versicherungsmedi­zin aus. „In Bezug auf ADHS gibt es unterschiedliche Blickwinkel“, hielt Dr. Bilke-Hentsch gleich zu Be­ginn fest. Er sprach dabei die Positionen von Medizin, Recht, Politik und Gesellschaft an, die sich kontro­vers gegenüber­­stehen würden. Die beiden Experten versuchten die vertrauensärztlichen Rahmen­bedingungen zu beleuchten und Lösungsansätze für Spannungsfelder zwischen behandeln­den ÄrztInnen und VertrauensärztInnen zu entwickeln. Der Interpretations­spielraum mache es oft schwierig und die „Juristerei“ hinke der Medizin leider hinterher. Die Rolle des Vertrauensarztes umschrieb Dr. Bilke-Hentsch mit folgenden Worten: „Bei ihm landet, was von Gesetzes wegen sein muss.“ In der Diskussion ging es hauptsächlich um die Verweigerung der Kostenübernahme gewisser ADHS-Medikamente. Die Preise würden dabei keine Rolle spielen, sondern die Limitation, betonte Markus Bonelli. Ein Tagungsteilnehmer fragte: „Was haben unsere ADHS-Patienten unseren Ver­siche­rern angetan, wenn es um die Akzeptanz von Stimulanzien geht?“ Der Vertrauensarzt war der Auffassung, dass die gesellschaftspolitische Haltung dabei sicher auch einen Einfluss hat.
Im Anschluss an diesen spannenden Austausch fand die Mitgliederversammlung mit 30 Anwesenden (inklusive Vorstand) statt. Co-Präsident, Prof. Dr. Thomas Müller bedankte sich bei den Mitgliedern für das Vertrauen und wies darauf hin, dass die SFG ADHS ihre Dienstleistungen weiter ausbaue und die Weiterbildung für Hausärzte in den Qualitätszirkeln aktiv gefördert würde. In Erarbeitung befin­det sich für unsere Mitglieder ein spezieller Medikamentenpass (Dokument für Auto und Ausland­reisen). Die SFG ADHS ist weiter bestrebt, sich mit medizinischen und wissenschaftlichen Stellung­nah­men anlässlich politischer Interventionen zu positionieren. Froh wäre der Vorstand über Feed­backs und Anregungen zur neuen Webseite, damit sie optimal auf die Bedürfnisse der Mitglieder ab­gestimmt werden kann.