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ADHS Aktuell

 
Editorial
 
Der aktuelle Newsletter legt den Schwerpunkt auf das Thema ADHS und Autofahren:
  • Felicitas Furrer stellt den Patientenausweise für den Strassenverkehr vor. Dieser erlaubt es ADHS-Betroffenen zu belegen, dass sie ihre Medikamente aus gesundheitlichen Gründen einnehmen.
  • Dr. med. Anna Buadze und Prof. Dr. med. Michael Liebrenz geben eine Übersicht zum Forschungsstand bezüglich ADHS und Autofahren. Sie zeigen, dass ADHS-Betroffene ein höheres Risiko für Verkehrsunfälle aufweisen als Nichtbetroffene, wobei nach neueren Metaanalysen das Risiko weniger stark erhöht ist, als ältere Studien vermuten liessen. Gleichzeitig zeigen die neueren Studien positive Effekte der Medikation auf das Unfallrisiko.
  • Isolde Schaffter-Wieland verdeutlicht, inwiefern die Symptome ADHS-Betroffener das Unfallrisiko erhöhen.
  • Ursula Ammann stellt in ihrer Serie ADHS Analog eine spielerische Variante vor, um sich in Coaching und Therapie schwierigen Fragen anzunähern.
  • Isolde Schaffter-Wieland bespricht zum Schluss das Buch „Verkörperter Schrecken – Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann“ von Dr. Bessel van der Kolk.
  • Ganz an Ende finden Sie wie immer Veranstaltungshinweise.
Herzliche Grüsse,
Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund
 
 

Neues aus dem Vorstand

Felicitas Furrer, Geschäftsleiterin SFG ADHS
 
Patientenausweis für den Strassenverkehr
 
Der Vorstand hat einen speziellen Patientenausweis für den Strassenverkehr entworfen. Damit können die ADHS-Patientinnen und Patienten belegen, dass sie ihre (ADHS)-Medi­kamente aus gesundheitlichen Gründen einnehmen müssen.
Der Ausweis ist als PDF-Dokument zum online Ausfüllen konzipiert und umfasst einen kurzen erläuterndem Text sowie den eigentlichen Ausweis als Talon zum Abtrennen (im Kreditkarten­format). 
Zurzeit wird der Ausweis von der Schweizerischen Gesellschaft für Rechtsme­dizin (SGRM) geprüft. Sobald der Text definitiv ist, wird er den Mitgliedern auf der SFG Website im internen Bereich zum Download zur Verfügung gestellt. Die SFG-Mitglieder werden selbstverständlich informiert, sobald der Patentenausweis verfügbar ist. 
 
Informationen und Formular für Reisen mit ADHS-Medikamenten ins Ausland
 
Die SFG hat wiederholt Anfragen zu Auslandreisen mit ADHS-Medikamenten erhalten und deshalb für unsere Mitglieder Informationen zu diesem Thema erarbeitet. Diese werden den SFG-Mitgliedern demnächst zusammen mit Dokumenten und Links auf der SFG-Website zur Verfügung gestellt.
 
Der SFG-Vorstand und die SFG-Geschäftsstelle wünschen Ihnen und Ihren Familien frohe Festtage und alles Gute für das neue Jahr 2019.
 

ADHS im Strassenverkehr

Dr. med. Anna Buadze, Leiterin ADHS Spezialambulanz der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Prof. Dr. med. Michael Liebrenz, Chefarzt des Forensisch Psychiatrischen Dienstes des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Bern, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
 
Einleitung
 
In den Medien wird häufig vor der Einnahme von Stimulantien, insbesondere vor dem Gebrauch von Ritalin® durch Fahrzeuglenker gewarnt. Dabei wird auf einen Personenkreis abgezielt, der diese Substanzen zu rekreationalen Zwecken zum Beispiel im Ausgang missbraucht und anschliessend am Strassenverkehr teilnimmt. Vereinzelt wird auch von Ausweisentzügen berichtet, die wegen der Einnahme von Ritalin® am Steuer vorgenommen wurden (Tagesanzeiger 27.10.2017). Bei PatientInnen die an einer „lege artis“ diagnostizierten ADHS des Erwachsenenalters leiden und sich einer Pharmakotherapie unterziehen, lösen diese Berichte regelmässig grosse Verunsicherung aus. Im klinischen Alltag kann dies bis zum Abbruch einer an sich indizierten Stimulantientherapie führen, da die Betroffenen befürchten, im Rahmen von polizeilichen Strassenverkehrskontrollen in einen Erklärungsnotstand zu geraten, und davor Angst haben, dass ihr Führerausweis „an Ort und Stelle“ eingezogen wird. Häufig ist zudem zu beobachten, dass die individuelle Mobilität einen so hohen Stellenwert besitzt, dass die blosse Möglichkeit einer derartigen Sanktionierung die PatientInnen dazu bewegt, die Medikamenteneinnahme zu hinterfragen. Die Aufklärung über die Risiken der Teilnahme am automobilen Strassenverkehr für PatientInnen mit ADHS, die Psychoedukation der Betroffenen u.a. bezogen auf die Fahrfähigkeit unter dem Einfluss von Stimulantien und die rechtlichen Rahmenbedingungen des Strassenverkehrsgesetzes (SVG) sind daher im klinischen Alltag von unterschätzter, aber grosser Relevanz auch in Hinblick auf die Therapietreue.
 
Fall
 
Eine 32 jährige Ärztin, ehemalige Leistungssportlerin, kam 06/2017 ins Spezialambulatorium für ADHS der PUK Zürich wegen mehrerer Strafbefehle und Führerausweisentzüge aufgrund von Widerhandlungen gegen das SVG (Geschwindigkeitsüberschreitungen aber auch das Überfahren des Rotlichtes). Sie befürchtete, dass deswegen unter anderem die ärztliche Approbation auf dem Spiel stehe. Anamnestisch habe sie während der gesamten Schulzeit, der Aus- und Weiterbildung (Medizinstudium und anschliessende Facharztausbildung) 4-6 Stunden Sport täglich getrieben. Auch heute noch sei sie an den meisten Tagen der Woche sportlich aktiv. Sie verfüge über gute Kompensationsmechanismen im Bereich Organisation „nur noch das Verlieren/Verlegen“ sei „ein wenig problematisch“. Sie habe sich als Beruf ein „absolutes Interessengebiet“ ausgesucht - hier passierten allerdings häufige Fehler im Berichtswesen. Die Einnahme von Noxen oder Medikamenten verneinte sie glaubhaft.
 
Leidensdruck
 
Subjektiv vor allem im oben genannten Bereich. Frau X.Y. berichtet davon, sich trotz jahrelanger Fahrpraxis beim Autofahren nicht unterhalten zu können und Fehler insbesondere dann zu machen, wenn Beifahrer dabei seien und versuchen würden mit ihr zu reden. Ausserdem könne Sie beim Autofahren weder Musik noch Radio hören.
 
Die Neuropsychologische Testung ergab - Auszug aus der Beurteilung: „In den TAP-Untertests geteilte Aufmerksamkeit, Flexibilität und verdeckte Aufmerksamkeitsverschiebung unterlaufen der Probandin überdurchschnittlich viele Fehler. Es bereitet Frau X.Y. Schwierigkeiten zwei unterschiedliche Reize gleichzeitig zu bearbeiten bzw. sich von einem Reiz auf den anderen umzustellen.“
 
E-Mail von Frau X.Y.
 
„Liebe Frau Dr. Buadze, Anbei sende ich Ihnen den Strafbefehl. Mit diesem Strafbefehl wurde natürlich ein bedingter Strafbefehl aktiv, wo ich auch noch 1800 Franken zahlen musste. Ich hatte innerhalb 1.5 Jahren 3 Strafbefehle aufgrund Unachtsamkeit beim Autofahren, d.h. total 10`000 CHF reiner Strafbetrag und dann kamen noch die Anwaltskosten als auch kleinere Bussen hinzu. Retrospektiv erschreckend. Diesen Strafbefehl dürfen Sie gerne anonym weiterverwenden.....“
 
Procedere
 
Psychoedukation, die Einleitung der multimodalen Therapie der ADHS. Pharmakotherapie mit retardiertem Methylphenidat. Seither keine weiteren Verstösse gegen das SVG.
 
Wichtige Aspekte
Begriffe
Fahreignung
 
Allgemeine, zeitlich nicht umschriebene und nicht ereignisbezogene psychisch und physisch genügende Voraussetzung des Individuums zum sicheren Lenken eines Motofahrzeuges im Strassenverkehr. Diese muss stabil vorliegen.  (Handbuch der verkehrsmedizinischen Begutachtung, Haag und Dittmann 2005)
 
Fahrfähigkeit
 
Momentane psychische und physische Befähigung des Individuums zum sicheren Lenken eines Motorfahrzeuges im Strassenverkehr. (Handbuch der verkehrsmedizinischen Begutachtung, Haag und Dittmann 2005)
 
Rechtliche Grundlagen
Melderecht des Arztes
 
Art. 14 Abs. 4 SVG: Jeder Arzt kann Personen, die wegen körperlicher oder geistiger Krankheiten oder Gebrechen oder wegen Süchten zu sicheren Führung von Motorfahrzeugen nicht fähig sind, der Aufsichtsbehörde für Ärzte und der für Erteilung und Entzug des Führerausweises zuständigen Behörde melden
 
Vertrauensärztliche Kontrolluntersuchung (Art. 27 Abs. 1 VZV (Verkehrszulassungsverordnung)
 
 1 Die Pflicht, sich einer vertrauensärztlichen Kontrolluntersuchung zu unterziehen, besteht für:
• a. die folgenden Fahrzeugführer bis zum 50. Altersjahr alle fünf Jahre, danach alle drei Jahre:
– 1. Inhaber eines Führerausweises der Kategorien C und D sowie der Unterkategorien C1 und D1,
– 2. Inhaber der Bewilligung zum berufsmässigen Personentransport nach Artikel 25,
• b. über 70-jährige Ausweisinhaber alle zwei Jahre;
• c. Ausweisinhaber während oder nach schweren körperlichen Beeinträchtigungen durch Unfallverletzungen oder schweren Krankheiten. (www.admin.ch)
 
Störungsspezifische Probleme und aktuelle Erkenntnisse aus der Literatur
 
Als einen der häufigsten Gründe für Verkehrsunfälle in den D-A-CH Ländern wird allgemein die Unaufmerksamkeit des Fahrzeugführers genannt. Verkehrsunfälle und die mit ihnen assoziierte hohe Morbidität und Mortalität, stellen dabei für Gesundheitssysteme im Generellen eine grosse Herausforderung dar. Einige, bereits ältere Studien konnten aufzeigen, dass ADHS-Betroffene ein höheres Risiko aufweisen, in Verkehrsun­fälle verwickelt zu werden. Dieses lässt sich vor allem durch die Kernsymptome der Störung: erhöhte Ablenk­bar­keit und Impulsivität sowie gestörte Aufmerksamkeitsleistung erklären. Von einigen Autoren wurde in diesem Kontext von einem bis zu 2-4 fach erhöhten Risiko im Vergleich zu gesunden Kontrollgruppen berichtet (Barkley,1993; Weiss, 1993; Murpy & Barkley, 1996, 2004; Barkley & Cox, 2007;), allerdings wiesen diese Studien aufgrund von kleinen Teilnehmerzahlen, dem Ausschluss weiblicher Probanden etc. doch einige erhebliche Limitationen auf.
Eine Forschungsgruppe um Zheng Chang veröffentlichte dann 2014 eine auf Daten des schwedischen National­registers basierende Studie mit Angaben von 17‘408 ADHS betroffenen Personen. Diese konnten das höhere Risiko sowohl für männliche (HR=1.47) als auch für weibliche Probanden (HR=1.45) zwar bestätigen, wiesen gleichzeitig aber auf signifikante Effekte der Medikation in Hinblick auf die Reduktion der Unfallhäufigkeit bei männlichen Patienten hin (Chang et al; 2014 Serious transport accidents in adults with attention-deficit/hyper­activity disorder and the effect of medication: a population-based study).
Eine neuere Untersuchung aus dem Jahr 2017, welche die Daten von 2'319’450 ADHS-Patienten analysierte, konnte die positiven Effekte der Pharmakotherapie auf einen Rückgang der Unfallhäufigkeit beider Geschlechter noch klarer aufzeigen: Männliche Patienten hatten in den Monaten der Medikamenteneinnahme ein um 38% tieferes Risiko an Verkehrsunfällen beteiligt zu sein verglichen mit den Monaten in denen keine Medikation erfolgte,  weibliche Patienten wiesen in derselben Konstellation sogar ein um 42% tieferes Risiko auf. (Chang et al; 2017 Association between medication use for attention-deficit/hyperactivity disorder and risk of motor vehicle crashes).
Letztlich soll an dieser Stelle noch eine dritte Publikation Erwähnung finden: Im Rahmen einer retrospektiven Kohortenstudie basierend auf den Daten von 2‘479 ADHS betroffenen Adoleszenten und jungen Erwachsenen und 15‘865 Personen ohne ADHS Diagnose konnte gezeigt werden, dass 6 Monate nach Erreichen des Mindest­alters für den Führerausweis ADHS-Patienten zu 35 % seltener im Besitz eines solchen waren. Bei Personen mit Führerschein verunfallten 764 von 1785 mit ADHS (42,8%) und 4715 von 13‘221 ohne ADHS (35,7%) während des Studienzeitraums. Das adjustierte Risiko für den ersten Unfall bei ADHS-Fahrern war damit 1,36-mal höher als bei Patienten ohne ADHS (95% CI, 1,25-1,48) und variierte nicht nach Geschlecht, Alter beim Erwerb des Führerausweis oder nach Dauer des Besitzes der Fahrerlaubnis (Curry et al; 2017 Motor vehicle crash risk among adolescents and young adults with attention-deficit/hyperactivity disorder).
 
Schlussfolgerungen und klinische Relevanz
 
Patienten, welche von ADHS betroffen sind, erlangen später den Führerschein (häufig sind mehr Fahrstunden und Prüfungsanläufe notwendig) und weisen ein höheres Risiko für die Verwicklung in Verkehrsunfälle auf. Frühere Studien, nach denen von einem bis zu 2-4 fach erhöhten Risiko im Vergleich zu gesunden Kontroll­gruppen berichtet worden waren, erhärteten sich zwar nicht, dennoch ist das HR zwischen 1.45 und 1.47 ange­siedelt. Der Sensibilisierung, Aufklärung und Psychoedukation kommt deshalb im klinischen Alltag eine grosse Bedeutung zu.
Patienten sollten darüber informiert werden, dass eine Pharmakotherapie das Risiko für Verkehrsunfälle signifi­kant senkt, wobei retardierte Präparate vorteilhafter sind, um während der Fahrt auftretenden „Reboundeffek­ten“ vorzubeugen. Insbesondere, wenn Betroffene am Individualverkehr in Zeiten mit hohem oder sehr hohem Verkehrsaufkommen teilnehmen, sollte Patienten zur Medikamenteneinnahme geraten werden, da diese erwie­senermassen zu einer Leistungsverbesserung („impoving driving skills“) führt. Auf langen Reisen sollten genügend Pausen mit Übungen (kurze intensive Bewegungen an der frischen Luft) eingeplant werden. In moder­nen Fahrzeugen stehen hier zur Unterstützung auch elektronische Hilfen, wie z.B. Aufmerksamkeits-Assistenten zur Verfügung, die eine nachlassende Konzentration detektieren können und für deren Warnungen PatientInnen sensibilisiert werden sollten. Im Weiteren wird in der Literatur eine maximale Reduktion der Ablenkung (Distraktoren) empfohlen: So sollen Betroffene z.B. ihre Beifahrer um Ruhe bitten, keine laute Musik hören und das Telefon am Steuer gar nicht – auch nicht mit der Freisprecheinrichtung – nutzen. Zudem sollten die betroffe­nen Fahrer die Augen nicht von der Strasse nehmen, auch dann nicht, wenn sie direkt von jemanden ange­sprochen werden. (Barkley et al. 2004; Cox et al. 2000 (Effect of stimulant medication on driving performance of yound adults with ADHS: db pl.controlled trial), R.A. Barkley, ADHD in Adults, 2010)).
Bezüglich der rechtlichen Rahmenbedingungen des SVG ist festzuhalten, dass Artikel 16d den Entzug des Führerausweis auf unbestimmte Zeit regelt und unter Ziffer 1 Buchstabe a ausführt «Der Lernfahr- oder Führerausweis wird einer Person auf unbestimmte Zeit entzogen, wenn: ihre körperliche und geistige Leistungsfähigkeit nicht oder nicht mehr ausreicht, ein Motorfahrzeug sicher zu führen.» Im klinischen Alltag ist eine generelle Verneinung der Fahreignung durch die Behörden bei Betroffenen mit ADHS ohne Komorbidität nie Diskussionsgegenstand geworden. Bezüglich der Fahrfähigkeit können Betroffene darauf hingewiesen werden, dass die bestimmungsgemässe Einnahme eines für einen konkreten Krankheitsfall verschriebenen Arzneimittels am besten ausgewiesen wird, indem die PatientInnen ein Begleitschreiben der Behandlerin oder des Behandlers mitführen. 
 

ADHS und Autofahren – ein Risiko?

Isolde Schaffter-Wieland
 
Der renommierte amerikanische Professor für Psychiatrie Russell A. Barkley gilt international als führender ADHS-Experte. In seinem Werk „Das grosse Handbuch für Erwachsene mit ADHS“ widmet er ein ganzes Kapital dem Thema Autofahren, Gesundheit und Lebensweise. Dabei geht es ihm darum, Risiken zu erkennen und auszuschalten. Seine Ausführungen sind nicht nur aufklärend, sondern auch sehr authentisch, weil er darin eindrücklich den tödlichen Selbstunfall seines betroffenen Zwillingsbruder Ronald beschreibt. „Vielleicht bekommt sein tragischer Tod einen Sinn, wenn Sie und andere Menschen mit ADHS eine Lehre daraus ziehen können.“ Die beiden waren zweieiige Zwillinge und Ron hatte seit seiner frühen Kindheit eine mittlere bis schwere ADHS, die bis zu seinem plötzlichen Tod mit 56 Jahren fortbestand. „Rons Verkehrssündenregister war beachtlich, und sein Fahrverhalten wies nahezu alle Risikofaktoren auf, die ich und andere Forscher im Zusammenhang mit ADHS identifiziert haben.“ Verschiedene US-Studien zeigen die Problematik einer ADHS im Zusammenhang mit dem Autofahren auf. Es ist erwiesen, dass Betroffene im Strassenverkehr im Gegensatz zu Nichtbetroffenen
  • oft viel unaufmerksamer und leichter ablenkbar sind
  • häufiger keine Gurten tragen
  • ohne Freisprechanlage telefonieren oder während des Fahrens ihre SMS/Mails checken
  • einen aggressiven oder unberechenbaren Fahrstil pflegen und gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern ausfällig reagieren.
 
Daraus resultieren im Vergleich zu Menschen ohne ADHS mehr Unfälle, Geschwindigkeitsübertretungen, Fahrausweisentzüge oder hohe Bussen. Russell A. Barkley vermittelte im Ratgeber viele Tipps. Er betont jedoch auch ausdrücklich, dass ADHS-bedingte Fahrprobleme medikamentös gut behandelbar sind und bedauert, dass sein Bruder diesbezüglich zu unbekümmert und desorganisiert war und seine Medikamente nie regelmässig oder lange genug genommen hatte. 
 
Erschienen ist Das grosse Handbuch für Erwachsene mit ADHS, bei Hogrefe CHF 39.90

ADHS Analog

Ursula Ammann
 
In einer regelmässigen Serie schreibt Ursula Ammann über analoge Methoden, die sich im Therapie und Coaching-Bereich bewährt haben. Heute zum Thema:
 
Uno Spielen als Psychoedukation und Co
 
Ich gebe es zu: die Idee stammt nicht von mir. Ein junger Mann aus der Transgender Community war bei mir. Er sprach noch nicht so viel und wir hatten noch eine halbe Stunde Zeit. Spontan fragte ich ihn, was er denn gerne machen würde. Da richtete er sich mit leuchtenden Augen auf und fragte, ob ich ein Uno-Spiel da hätte. Sie würden das an ihren Treffen oft spielen und hätten Zusatzregeln. Jeder Farbe sei eine Bedeutung zugeteilt.
 
Rot       Das mache ich gar nicht gerne
Grün    Das mache ich richtig gerne
Gelb     Stelle deinem Gegenüber eine Frage
Blau     Erzähle eine Kindheitserinnerung
 
Wir hatten eine sehr vergnügte halbe Stunde zusammen und erfuhren viel voneinander.
 
Ich schnappte die Idee auf und adaptierte sie für meine Klienten, für die Supervision und für meine Studierenden. Überall waren alle begeistert dabei und wir hatten innert kürzester Zeit gute Lern-Verknüpfungen.
 
Besonders bewährt haben sich die beiden folgenden Vorlagen:
 
Für Einzel- oder Gruppensettings
 
 
 
 
Für Gruppen ab drei Personen
 
                  
Man kann die Fragen fast unendlich variieren. Z.B. «tolle Ideen um leichter zu lernen»; «das fällt mir besonders schwer»; «da war ich mal richtig gut» etc.
 
Spielerisch wird der Zugang zu ev. schwierigen Fragen erleichtert und das Selbstwertgefühl gestärkt.  Nebenbei wird die Vernetzung und Verknüpfung von Lerninhalten spielerisch möglich. Mit einem Klienten, der sich in Französisch verbessern musste, habe ich eine Farbe mit Fragen in der Fremdsprache versehen. Die Fragen können auch auf die Stärken und Interessen der Klienten abgestimmt werden, so stand die Farbe Blau bei einem Buchhändler für die Aufforderung «erzähle mir von einem Buch, das Du gelesen hast». Von uns auf der Therapeuten/Coach-Seite braucht es allerdings Offenheit, die Fragen auch zu beantworten, die unter Gelb dann jeweils kommen ;-)
 
Ich wünsche Ihnen/Dir fröhliches Spielen. Wie immer stehe ich für Fragen gerne zur Verfügung Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
 

Ein Meisterwerk über das sprachlose Entsetzen

Buchvorstellung Isolde Schaffter-Wieland, Vorstandmitglied SFG ADHS
 
Die Anfrage einer Institution sozialpädagogisch geführter Pflegefamilien zum Thema ADHS und Trauma hat mich bei Recherchen zu diesem Thema zum spannenden und enorm info­r­mativen Grundlagenwerk „Verkörperter Schrecken – Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann“ von Dr. Bessel van der Kolk geführt. Der renommier­te Professor der Psychiatrie an der Boston University ist Leiter des National Complex Trau­ma Treatment Networks. Er befasst sich seit Jahrzehnten mit der Entstehung, den Hinter­grün­den und der Heilung von Traumata. Dies unter Einbezug der Neurowissen­schaft, Ent­wick­lungspsychopathologie sowie der interpersonalen Neurobiologie.
Die ADHS-Veranlagung erhöht bei gegebenen Umständen das Risiko eine PTBS zu entwickeln. Dazu hält der Mediziner und selbst betroffene Walter Beerwerth in seiner Rezension fest: „Eine PTBS wegen Vernachlässigung oder Misshandlung im frühen Kindesalter führt zu dauernden Veränderungen im Gehirn, die denen bei einem ADHS weitgehend gleichen oder ein vorhandenes verstärken...“
Van der Kolk bestätigt in seinem Buch die Erkenntnisse, dass das Einkommen, die Familien­struktur, die Wohnsituation, die berufliche Position und die Ausbildungschancen nicht nur aus­schlaggebend dafür sind, in welchem Masse Menschen Gefahr laufen, trau­matische Belastungszustände zu entwickeln, sondern auch dafür, ob und in welchem Masse sie in den Genuss effektiver Hilfe bei der Überwindung ihrer Probleme gelangen.
Untersuchungen in den drei neuen Wissenschaftsbereichen (Neurowissenschaft, Entwick­lungs­psychopathologie und interpersonale Neurobiologie) haben ergeben, dass Traumata zu physiologischen Veränderungen führen – unter anderem des Alarmsystems des Ge­hirns, was zu einer verstärkten Ausschüttung von Stresshormonen und zu Veränderungen im System führt, welches relevante Informationen von irrelevanten trennt. Van der Kalk: „Wir wissen heute, dass Traumata sich negativ auf den Gehirnbereich auswirken, der das physische, verkörperte Empfinden des Lebendigseins vermittelt. Diese Veränderungen erklären, warum Traumatisierte auf Gefahren mit Hypervigilanz reagieren und warum dies ihre Fähigkeit zu spontanem Verhalten im Alltagsleben beeinträchtigt. Außerdem helfen sie uns zu verstehen, weshalb Traumatisierte so oft die immer wieder gleichen Probleme be­kommen und weshalb es ihnen so schwer fällt, aus Erfahrung zu lernen. Wir wissen heute, dass ihr Verhalten keine Folge eines moralischen Mangels, unzureichender Willenskraft oder einer Charakterschwäche ist, sondern dass es durch reale physische Veränderungen in ihrem Gehirn verursacht wird.“
Im Epilog hält Bessel van der Kolk fest, dass es mit Hilfe komplizierter Imaging-Verfahren gelungen ist herauszufinden, wie und wo PTBS im Gehirn entsteht, so dass wir jetzt ver­stehen, warum Traumatisierte sich durch Geräusche und Lichter gestört fühlen und weshalb sie manchmal Wutanfälle bekommen oder sich bei der kleinsten Provokation aus dem Kontakt zurückziehen. Wir wissen heute, wie Ereignisse im Laufe des ganzen Lebens eines Menschen Struktur und Funktion seines Gehirns und sogar die Gene verändern, die er an seine Kinder weitergibt. Und wenn wir viele der Prozesse verstehen, die traumatischen Be­lastungszuständen zugrunde liegen, so ermöglicht uns dies, die Entwicklung der verschie­densten Interventionen, die jene Gehirnbereiche, die bei der Selbstregulation, Selbstwahr­neh­mung und Aufmerksamkeit eine Rolle spielen, wieder funktionsfähig machen. Wir wissen inzwischen nicht nur viel über Möglichkeiten, Traumata zu behandeln, sondern auch darüber, wie wir ihre Entstehung von vornherein verhindern können.
 
 
 
Van der Kolk beschreibt in seinem Werk nebst eindrücklichen Fallbeispielen auch ausführlich die von ihm jahrzehntelang im Trauma-Center erprobten Heil- und Therapiemethoden wie EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), Neurofeedback, IFS (Self-Leader­­ship) und Achtsamkeitstraining und verweist auch auf die heilsame Wirkung des Schreibens. „Verkörperter Schrecken“ vermittelt ein faszinierendes und neuartiges Verständnis für die Ursachen und Folgen von Traumata und schenkt Hoffnung und Klarheit. Um es mit Dr. Walter Beerwerth’s Worten zu bestätigen: „Endlich ein fundiertes, lesbares, umfassendes und mitfühlend verfasstes Buch aus der Mitte der Forschung, was unter Nutzung der Neurobiologie hilft, den einzelnen Kranken zu verstehen und zu schätzen. So sollte Psychiatrie sein."
 
G.P. Probst Verlag GmbH
4. Auflage 2017, 496 Seiten, Klappenbroschur, ISBN 978-3-944476-13-1  l
36 EUR (D)
 

Hinweise auf Veranstaltungen 2019

Felicitas Furrer, Geschäftsleiterin SFG ADHS
 
  • Donnerstag, 21. März 2019:14.00 – ca. 17.30 Uhr: Mitgliederversammlung der SFG ADHS, mit Referaten zum Thema «ADHS und Autismus bei Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen» von Dr. med. Peter Eisler und Dr. med. Ronnie Gundelfinger, Bahnhofbuffet Olten
Weitere Informationen folgen auf www.sfg-adhs.ch.
 
  • Samstag, 22. Juni 2019, 08.15 – ca. 15.45 Uhr:6. Nationale ADHS Tagung für Betroffene und Fachpersonen, Universität Zürich, Rämistrasse 71, Zürich
Tagungsthema: ADHS - (K)ein Thema mehr? .
Weitere Informationen folgen auf www.sfg-adhs.ch oder https://befa-adhs.ch/
 
  • Freitag 13.- Sonntag 15. September 2019: 1. Internationaler deutschsprachiger ADHS-Kongress über Landes-, Alters- und Berufsgrenzen hinaus.
Weitere Informationen folgen auf www.sfg-adhs.ch
 

ADHS Aktuell

 
Editorial
 
Der aktuelle Newsletter ist der BEFA gewidmet. Die 6. Nationale ADHS-Tagung für Betroffene und Fachpersonen widmete sich dem Thema Digitalisierung und den damit verbundenen Chancen und Risiken für ADHS-Betroffene. Es berichtet Isolde Schaffter-Wieland.Stefanie Rietzler widmet sich in Form eines Videos dem Thema «Arbeitstempo».Am Schluss folgt ein Hinweis auf die Mitgliedertagung der SFG ADHS.
 
Herzliche Grüsse,
 
Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler
 

ADHS – (K)Ein Thema mehr?

Isolde Schaffter-Wieland, Beraterin elpos Zürich, VS-Mitglied SFG ADHS

 

Auswirkungen der Digitalisierung

 

Die 6. Nationale ADHS-Tagung für Betroffene und Fachpersonen fand dieses Jahr in der ehrwürdigen alten Universität an der Rämistrasse 71 in Zürich statt. Einmal mehr konnten die Schweizerische Fachgesellschaft ADHS und elpos Schweiz für den Anlass hochkarätige Referentinnen und Referenten wie Prof. Dr. Susanne Walitza, Prof. Dr. Allan Guggenbühl und Prof. Dr. Edna Grünblatt gewinnen.

Eingeführt in die spannende Tagung hat der Informatiker Daniel Ammann mit dem Kurzreferat «Digitalisierung und jetzt?». Mit seiner Feststellung: «Wäre ich digital, so wäre ich ein iPhone oder Google…» gewann der junge Mann die 221 Teilnehmenden auf Anhieb als aufmerksame Zuhörer. Seine wichtigsten Apps seien One Drive, die Cloud-Dienste und Wonderlist. Mit klaren Worten beschrieb er Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung. Sein Ausblick in die digitalisierte Zukunft hinterliess gemischte Gefühle. Daniel Ammann zog das Fazit: «Digital ist gut und recht – man muss lernen, damit umzugehen. Selbst finde ich es beängstigend, dass sie so schnell vorangeht.» Nach der anschliessenden Fragerunde sorgte «Stegreif-Comedian» Christian Käser alias Pumpernickel für eine unterhaltsame Atmosphäre in der Aula.

Sympathisch und humorvoll bestritt Prof. Dr. Susanne Walitza das erste Hauptreferat «ADHS und pathologischer Internetgebrauch». Sie hielt fest, dass ADHS ein Risikofaktor für eine problematische Internetznutzung und Internetabhängigkeit sei (Barth + Renner, 2015). In der Schweiz sind 7,4 % von einem problematischen Medienkonsum betroffen, in asiatischen Ländern liegt die Zahl bei 20,7 %! «Medienkompetenz sollte zuhause und in der Schule vermittelt werden.»

Als positiven Aspekt der Digitalisierung betrachtet die Professorin für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Zürich:

  • Einfache und jederzeit abrufbare Informationen, die das Wissen erweitern
  • Hohe Flexibilität
  • Lernmöglichkeiten
  • Schneller, billiger und einfacher soziale Austausch, erleichterte Kommunikation

Negative Auswirkung hingegen sind:

  • Schlechter Schlaf
  • Herz-Kreislauf-Erkrankungen
  • Adipositas
  • Einfluss auf die Psyche, internalisierendes und externalisierendes Verhalten, depressive Symptome
  • Tagesschläfrigkeit (Lehrer beobachten dies häufig bei ADHS-betroffenen Schülern)
  • Spiele mit suchtinduzierenden Eigenschaften!
  • Schneller Erfolg = Belohnung

Ihr Referat beschliesst Dr. Walitza mit dem Wunsch eines verstärkten Dialogs mit der Game-Industrie, um sie in die Verantwortung gegenüber dem Konsumenten zu nehmen.

Der Unternehmer, Blogger und Influencer Ralph Widmer sprach authentisch und mitreissend wie er trotz oder vielmehr dank ADHS zum erfolgreichen Online-Unternehmer wurde. Er sieht in der Digitalisierung durchaus eine Chance für Betroffene. Und es sei ein Potential vorhanden, das unbedingt genutzt werden sollte. Er beruft sich dabei auf die eigene Erfahrung. So hatte er bereits als Kind grosses Interesse für Computer und Software und baute PCs. Mit 23 nutzte er seine Fähigkeiten und stieg in den IT-Bereich ein, wo er schon kurz darauf als Projektführer im Ausland eingesetzt wurde. «Mein Vater wollte zwar stets, dass ich studiere. Jetzt bin ich 33 und erstmals an einer Universität – als Referent», witzelte der Marketingprofi. Vom Enfant terrible entwickelte er sich zum erfolgreichen, selbständigen Unternehmer. Inzwischen kennt er Strategien, wie er mit der hyperaktiven Veranlagung umgehen kann, und erkennt, wann es Zeit für eine Pause ist. Meditation und Sport «erden» ihn, Auszeiten vom Smartphone (digitaler Detox nach Tim Ferriss) verschaffen ihm auch mentale Verschnaufpausen. Wichtig sei, auch das Wording sich selbst gegenüber anzupassen. «Statt ich kann das nicht, ich versuch’s…»

In diesem Sinne bittet er die anwesenden Eltern, ihre Kinder nicht als Kranke zu behandeln, sondern ihnen die Freiheit zur Entfaltung zu ermöglichen, sie in ihren Stärken zu fördern und nicht in das eigene Schema zu lenken. Ihm habe eine klare, konsequente Linie geholfen. «Hart, aber fair!» Children aren’t worried about the future. Young people arent’t worried about the future; they’re worried about us: us leading them into the future we envision. (Jack Ma) Das Fazit von Ralph Widmer zu Digitalisierung, künstlicher Intelligenz und darin enthaltenen Chancen: «Die Technologie lässt sich nicht aufhalten. Was wir bewahren müssen, ist unser Menschsein.»

Nach der Mittagspause standen verschiedene Kurzreferate oder Workshops auf dem Programm, die sich hauptsächlich ums Tagungsthema drehten. «Gamen, chatten & Eltern, die nur noch hypern», lautete der Titel des Referats von Prof. Dr. Allan Guggenbühl, Dozent für Psychologie und Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule des Kantons Zürich. In seinen spannenden und lebendigen Ausführungen visualisierte er deutlich die beiden Welten, in denen sich Kinder, Jugendliche und Erziehungspersonen bewegen. Während bei Erwachsenen neue Techniken oft Ängste auslösen, bietet das Internet den Kindern die Gelegenheit sich eine Gegenwelt zu den Erwachsenen zu generieren», erklärt der Leiter des Instituts für Konfliktmanagement und Mythodrama (IKM). Beim Gamen, Chatten haben sie das Gefühl, dass sie sich von den Erwachsenen abgrenzen können. «Sie leben in einer Blase.»

Ein angepasster Medienkonsum funktioniere nur über Massnahmen, Regeln und Konsequenzen – nicht über Einsicht.  Mehr als täglich 1 ½ bis 2 h sollte die digitale Zeit für einen Teenager nicht überschreiten. Bereits ab 9/10 Jahren kann der Medienkonsum problematisch werden. Warnzeichen sind Übermüdung oder der Kontaktentzug. Dabei sei es besonders wichtig, mit dem Jugendlichen in Kontakt zu bleiben, Themen anzusprechen, die ihn interessieren wie beispielsweise ein Gespräch über Gott und die Liebe. Dies seien Themen, die von den Eltern kaum mehr angesprochen würden. Prof. Allan Guggenbühl veröffentlichte unlängst sein Buch «Für mein Kind nur das Beste. Wie wir unseren Kindern die Kindheit rauben». Es ist ein Plädoyer für die Bewahrung der Kindheit. «Kinder sind nicht unfertige Erwachsene, sondern Menschen mit eigenem Profil, eigenen Bedürfnissen und dem Recht auf eine Kindheit.»

Einen für Fachpersonen interessanten Abstecher in die Forschung ermöglichte Prof. Dr. Edna Grünblatt, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Universität Zürich, Laborleitung. Sie widmete ihr Referat der Frage: «Was können wir aus personalisierten ADHS-Modellen lernen? Neuronen in der Petrischale». Die engagierte Spezialistin interessiert sich als Mutter eines betroffenen Sohnes seit längerem für die ADHS-Forschung und wie Methylphenidat auf das Gehirn wirkt. Als ausschlaggebende Risikofaktoren für eine ADHS führte sie auf:

Genetik 75%:

  • Eltern
  • Geschlecht

Umwelt 25%:

  • Stress in der Schwangerschaft
  • Niedriges Geburtsgewicht
  • Pränataler Stress
  • Rauchen u.a.

Ein Gen allein führe nicht zu ADHS – es brauche eine Kombination (nicht monogenetisch, sondern polygenetisch). So beeinflussen pränatale und postnatale Stressfaktoren die Gehirnreifung des Kindes signifikant. Zu einem nichtbetroffenen Kind betrage diese Differenz bei ADHS fast 4 Jahre. Erkenntnis der Wissenschaft: Methylphenidat scheint bei längerer Einnahme auch die Hirnreifung positiv zu beeinflussen.

Prof. Grünblatt hielt fest, dass über ADHS viel bekannt ist, aber die zellulären und molekularen Prozesse noch im Dunkeln liegen. Sie stellte neue Forschungsprojekte und erste Ergebnisse von Verfahren vor, bei denen aus Haarwurzeln von Menschen mit ADHS und von Kontrollprobanden Stammzellen hergestellt werden, die zwei oder mehrere verschiedene, unterschiedlich differenzierte Zellen bilden können. Diese Stammzellen werden schliesslich zu naturierten Neuronen entwickelt, um die Differenzierung und Reifung der Neuronen zu beobachten und daraus zu lernen, weshalb manche Patienten mit ADHS auf bestimmte Therapien ansprechen und andere nicht.

«Digitalisierung in der Berufswelt – Chancen oder Risiko?», dieser spannenden Frage widmete sich Dr. Liliane Müller, Psychologin und Berufs-, Studien- und Laufbahnberaterin, Laufbahnzentrum Stadt Zürich. Wie der Unternehmer Ralph Widmer bereits betonte, eröffnen sich mit der Digitalisierung auch neue Wege. Zwar verschwinden dadurch auch Berufe und Jobs für Niedrigqualifizierte, aber gleichzeitig entstehen neue Berufsbilder. Gemäss Liliane Müller ermöglichen neue Technologien auch mehr Kreativität. Roboter als «Arbeitskollegen» übernehmen eintönige Routinetätigkeiten und vereinfachen, respektive beschleunigen eine Arbeit. Gefragt ist in der digitalen Welt eine neue Denkweise. Fähigkeiten, die oft auch Benefits von ADHS-Betroffenen sind: kreativ, offen, neugierig, agil, teamfähig. Programmierkenntnisse, technische und soziale Skills sind weitere Ressourcen für die VUCA-Welt (Volatil, Uncertain, Complex, Agil). Neue Berufsbilder sind beispielsweise: BIM Koordinator/Koordinatorin (Baubranche), Mediamatiker, HörsystemakustikerIn, Interactiv Media DesignerIn, Medientechnologin/loge, Veranstaltungsfachleute. Die Herausforderungen für Menschen mit ADHS sind:

  • Struktur
  • Arbeitstempo
  • Schnell im Stress
  • Ablenkungsgefahr
  • Selbstwert

Fazit der Fachfrau:

In Zukunft sind die Fähigkeiten von ADHS-Betroffenen gefragt! Aber: Die Welt wird schneller und weniger fassbar, was überfordern könnte.

Deshalb bei der Berufswahl und Lehrstellensuche:

  • Interessen gut abklären
  • Stärken und Herausforderungen genau anschauen
  • Sich durch gezielte Therapie helfen lassen
  • Mit offenen Karten spielen
  • Ein Jobcoaching in Anspruch nehmen

Einmal mehr stiess das Referat von Psychologe Fabian Grolimund von der Akademie für Lerncoaching, Zürich, auf grosses Interesse. Sein Workshop zum gleichnamigen Buch «Vom Aufschieber zum Lernprofi» war zweimal voll besetzt.

Wie die PäPKi-Therapie bei ADHS und der Flucht in die digitale Welt helfen kann, vermittelte Susanne Biasio von der Praxis für Entwicklungsförderung in Uster. Sie warf zu Beginn ihres Referats die Frage auf: Öffnet Bill Gates ADHS die Tore? Tatsächlich können aufgrund gewisser Defizite Betroffene ihre Genialität und Fähigkeiten oft nicht zur Geltung bringen – aber im Netz sind sie unschlagbar: Sie «graben» (englisch: to dig) das aus, was sie brauchen. Umgangssprachlich bedeutet to dig aber auch «verstehen, mögen». Betroffene fühlen sich im Netz verstanden – und sie mögen es.

Ralph Widmer wiederum lud die jungen Teilnehmer zum interaktiven-Live-Digital Workshop mit dem Tool Poll Everywhere ein. Über eine APP konnten sie live und interaktiv Fragen zum Thema ADHS & Digitalisierung, Zukunft, Probleme, Herausforderungen und anderes mehr stellen. Live erlebten sie, wie die Digitalisierung informativ helfen kann, wie man Umfragen generiert oder Statistiken zeigt.

Immer wieder fragen Eltern an, ob sie ihr ADHS-betroffenes Kind mit einer gezielten Ernährung unterstützen können. Dieser Frage kamen die drei Ernährungsberaterinnen Iris Schrepfer, Gaby Stampfli und Susanne Friedli mit ihrem Workshop «Essen wirkt! Schlau durch das digitale Zeitalter» nach. Die Bedarfsorientierte Ernährung (BoE) offenbart, wie Essen auf den Körper wirkt und sogar unser Denken beeinflussen kann. Das Ziel der BoE ist es, körperliche Mängel mit einer natürlichen, alltagstauglichen Ernährung auszugleichen. Nachstehend einige Tipps, was bei ADHS wirksam sein kann.

  1. Tagesrhythmus umstellen
    Durch ein salziges Frühstück mit tierischem Eiweiss (ohne Zucker, Früchte, Müesli) und abends Gemüse und Getreide, verschwindet die Lust auf Süssigkeiten.
  2. Weglassen von Zucker in jeglicher Form
    und anderen rasch resorbierbaren Kohlenhydraten beugt Unterzuckerungen vor. Unterzuckerung hat viele Symptome mit ADHS gemeinsam: Vergesslichkeit, Konzentrationsmangel, Leistungsabfall, innere Unruhe, Gereiztheit, Müdigkeit.
  3. Keine Früchte morgens
    Ein Kaliumüberschuss morgens durch kaliumreiche Früchte führt zu Salzmangel. Symptome: benommener Kopf bis zu Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen. Früchte nachmittags essen.
  4. Phosphate/Phosphor aus künstlichen Zusätzen meiden
    Natürlicher Phosphor im Lebensmittel selber aber wird benötigt für den Antrieb, den körpereigenen Eiweissaufbau und für die Wirksamkeit der Vitamine.
  5. Fertig- und Light-Produkte meiden
    E-Nummern, Geschmacksverstärker, Zuckerersatzstoffe, Farbstoffe, Konservierungsstoffe meiden. Sie irritieren den Körper, da sie falsche Signale aussenden. Ein jodiertes Salz ohne Rieselhilfe verwenden.
  6. Sich möglichst mit frischen, unverarbeiteten und saisonalen Lebensmitteln ernähren.

Damit erhält der Körper am meisten Energie.

  1. Vitalststoffmängel spielen in Zusammenhang mit ADHS eine wichtige Rolle.

Ein Mangel an Zink, Eisen, Vitamin D und Tryptophan führt laut einer Studie der Uni Aachen zu:

  • • Erhöhter Hyperaktivität
  • • Ängstlichkeits- und Verhaltensproblemen
  • • Konzentrationsmangel
  • • aggressivem Verhalten

Zink ist enthalten in weissen Bohnen, Rollgerste, Kürbiskernen, Rindfleisch

Tryptophan ist in Poulet und hellem Fleisch vorhanden. Aus Tryptophan werden unsere Wohlfühl- und Einschlafhormone gebildet (Serotonin & Melatonin).

Eisen und Vitamin D wird morgens am besten aufgenommen.

Wenn möglich vermeiden:  Tomaten, Äpfel, Orangen, rote Peperoni, zu viel rote Rüebli, diese blockieren die Zinkaufnahme.

Informationen zu dieser Ernährungsweise gibt es auf: www.boeverein.ch

Bei den anwesenden Fachpersonen fand der Qualitätszirkel mit Prof. Dr. med. Dominique Eich-Höchli, Co-Präsidentin der SFG ADHS grosse Aufmerksamkeit. Sie übernahm diesen Workshop spontan im Alleingang und unter ihrer kompetenten Leitung wurde über die aktuellen Herausforderungen in der Diagnostik und Therapie diskutiert sowie analysiert, ob und wie sich die Digitalisierung in der Arbeit mit Menschen mit ADHS auswirkt.

Christian Johannes Käser war der Shooting Star an der BeFa 2019! Der Schauspieler, Musiker, Moderator und Trainer begeisterte das Publikum mit seinem genialen Wortwitz und bemerkenswerten Improvisationstalent. So schaffte er es, Leichtigkeit in ein ernstes Thema zu bringen und «versüsste» der scheidenden Präsidentin des Regionalvereins Zürich Glarus Schaffhausen, Judith Landes, den Abschied mit einer berührenden, musikalischen Hommage an ihr jahrzehntelanges Wirken für die ADHS-Organisation und ihren enormen Einsatz für die Tagung.

Wir danken an dieser Stelle allen mitwirkenden Fachpersonen für ihre spannenden und interessanten Referate und Workshops, die sie ohne Honorar bestritten haben sowie allen freiwilligen Helferinnen und Helferin, die zum erfolgreichen Gelingen dieses wichtigen Anlasses beigetragen haben. Zurück bleibt allerdings die Ernüchterung, dass nur gerade 19 Mitglieder der SFG ADHS an der Tagung teilgenommen haben. Erfreulicherweise fanden doch 90 Mitglieder von elpos und 52 Nichtmitglieder der beiden ADHS-Organisationen den Weg nach Zürich. Eine Teilnehmerzahl, die leider nicht ausreicht, um die Kosten zu decken. Demgegenüber stehen allerdings rundum positive Feedbacks auf den aufwändigen Anlass, was die beiden Organisatorinnen der BeFa 2019 Felicitas Furrer, Geschäftsführerin der SFG ADHS und Judith Landes für den enormen Aufwand und vielen freiwillig geleisteten Arbeitsstunden entschädigt. Danke deshalb auch allen Teilnehmenden für ihre wertvolle Präsenz an der BeFa!

 

Warum ist mein Kind so langsam?

Stefanie Rietzler, Psychologin, Autorin von «Erfolgreich lernen mit ADHS»

 
Bist du immer noch nicht weiter?», «Mach jetzt vorwärts!», «Die Hausaufgaben dauern ja Stunden!» - wer mit Eltern ADHS-betroffener Kinder arbeitet, wird immer wieder auf das Thema «Arbeitstempo» angesprochen.Dabei machen Eltern oft die frustrierende Erfahrung, dass gerade Kinder vom vorwiegend unaufmerksamen Typus noch langsamer werden, je mehr man sie zur Eile antreibt.Doch warum sind einige Kinder langsamer als andere? Und lässt sich das Arbeitstempo steigern?Stefanie Rietzler zeigt im Video anhand des Konzeptes der Verarbeitungsgeschwindigkeit auf, dass dem Arbeitstempo genetische und entwicklungsbedingte Komponenten zugrunde liegen und es daher nichts nützt, Kinder ständig zu mehr Eile anzutreiben.Über Umwege lässt sich das Tempo jedoch in einzelnen Bereichen steigern, indem grundlegende Kompetenzen automatisiert werden, auf genügend Pausen geachtet wird und Abläufe wie die Morgenroutine klar strukturiert werden. Vielen Kindern hilft es auch, wenn für die Hausaufgaben und das Lernen ein maximales Zeitlimit vereinbart wird, nach dem – in Absprache mit der Lehrperson - das Lernen abgebrochen werden darf.
 
Hier geht es zum Film:
 
https://www.youtube.com/watch?v=2R9Y0sDY9ts&t=1s 

Veranstaltungshinweis

Mitgliedertagung der SFG ADHS mit Referaten zu den Themen:

  • ADHS - Wegbereiter für die Entwicklung von Essstörungen: med. pract. Katja Meier-Müller, Chefärztin Privatklinik Aadorf
  • ADHS Medikation und Nebenwirkungen: Prof. Dr. med. Thomas Müller, Chefarzt und ärztlicher Direktor Privatklinik Meiringen
  • Ort / Datum: Bahnhofbuffet Olten, Seminarraum, 19.März 2020, 14:00 - 17:30 Uhr
Weitere Informationen folgen auf: https://www.sfg-adhs.ch/veranstaltugen/eigene-veranstaltungen/31.html

ADHS Aktuell

 
Editorial
 

Der aktuelle Newsletter ist der Komorbidität von ADHS und Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen sowie bei Erwachsenen gewidmet – ein Thema, das sehr gut in die gegenwärtig unsichere Zeit passt.

Dr. Monika Brunsting beleuchtet entwicklungspsychologische, neurowissenschaftliche und psychotherapeutische Aspekte der Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen und zeigt auf, was und weshalb die ADHS die Entwicklung von Angststörungen fördern kann. Anhand eines praktischen Beispiels schildert sie, wie Betroffene in der achtsamkeitsbasierten Psychotherapie lernen können, mit ihren Ängsten besser umzugehen.

Wie verbreitet Angststörungen bei Erwachsenen mit ADHS sind, welche möglichen Zusammenhänge zwischen ADHS und Angststörungen bestehen und wie eine Angststörung bei Erwachsenen mit ADHS am besten therapiert werden kann, legt der Psychologe Fabian Eberle in seinem Artikel «Vom Zappelphilipp und Träumer zum Angsthasen und Katastrophisierer» dar.

Ursula Ammann zeigt in ihrem neuesten Beitrag «ADHS Analog», wie analoge Methoden Menschen mit ADHS helfen können, die in ihrer Freiheit und ihrem Radius zunehmend eingeschränkt werden, weil sie die Angst vermeiden wollen.

Zum Schluss finden Sie Hinweise auf Veranstaltungen und Weiterbildungsmöglichkeiten

 

Herzliche Grüsse,
 

Isolde Schaffter-Wieland und Felicitas Furrer

 

AD(H)S und Ängste bei Kindern und Jugendlichen - entwicklungspsychologische, neurowissenschaftliche und psychotherapeutische Aspekte

Monika Brunsting, Dr. phil. Fachpsychologin für Psychotherapie, Sonderpädagogin

 

Einführung

Man geht heute davon aus, dass weit über die Hälfte der AD(H)S-betroffenen Kinder eine Komor­bidität haben, dabei gehören Ängste und Angststörungen zu den vier häufigsten. Zu beobachten ist das ganze Spektrum der Angststörungen – von Trennungsangst, Phobien, Panikattacken bis hin zur generalisierten Angststörung. ADHS und Ängste sind eng miteinander verwoben und es ist nicht immer einfach zu entscheiden, ob therapeutisch mit der ADHS oder der Angststörung begonnen werden soll.

 

Entwicklungspsychologische Aspekte

Kinder und Jugendliche haben viele und unterschiedliche alterstypische Ängste, die in Erziehung und Therapie berücksichtigt werden wollen. Eine Trennungsangst ist bei einem kleineren Kind normal, bei einem Jugendlichen dagegen nicht mehr. Manche Ängste bleiben bei betroffenen Kindern sehr lange bestehen und können sich zu eigentlichen Angststörungen ausbilden. Andere wiederum sind ent­wick­lungs­geschichtlich bedingt und verschwinden von allein ohne je das Ausmass einer Angststörung zu erreichen.

Es ist normal, Ängste zu haben und nicht immer führen sie zu Angststörungen. Solange sie dem Entwicklungsalter angemessen sind und das Leben nicht allzu sehr beeinträchtigen, genügen oft erzieherisch geschickte Massnahmen. Es braucht nicht in jedem Fall eine Therapie ins Auge gefasst zu werden.

Die grosse Lebhaftigkeit vieler ADHS-Familien ­– die Kinder immer wieder in unerwartete Situationen bringt und sie damit verunsichert – ist wenig geeignet, innere Sicherheit aufzubauen oder Ruhe zu finden. Sie kann deshalb zum idealen Nährboden für die Entwicklung von Angststörungen werden.

 

Neurowissenschaftliche Aspekte

Roth & Stüber (2014) zeigen, dass Menschen sich in ihrer Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen von Anfang an unterscheiden. Dies erschwert es vielen Kindern, sich zu steuern und sich selbst zu be­ruhigen. Innere Unruhe hilft, Ängste nicht nur zu haben, sondern auch zu behalten.

Bei manchen Kindern mit einer ADHS sind typische, entwicklungsbedingte Ängste stärker ausgeprägt oder dauern länger als bei Nichtbetroffenen. Die Hirnentwicklung spielt dabei eine grosse Rolle: Viel Energie in den Systemen, die Ängste produzieren (Amygdala) und wenig Power zur Kontrolle der Emotionen (Frontallappen). Zur Regulation der Ängste sind Kinder damit stärker auf ihre Bezugspersonen angewiesen und ein guter «Elternfrontallappen» ist ein grosses Glück. Gelingt es Eltern, ihrem Kind die Gelassenheit zu vermitteln, es komme schon gut, die Angst ziehe vorüber wie ein Gewitter, ist viel gewonnen. Wenn sie über Handlungsmöglichkeiten verfügen, um für sich selber und ihre Kinder Ruhe zu finden, können diese von ihnen lernen, wie man wieder zur Ruhe kommt. Hier liegt eine besondere Schwierigkeit für Kinder mit einer ADHS: Ruhige, gelassene Eltern sind nicht so häufig in betroffenen Familien anzutreffen. Manche reagieren ausgesprochen impulsiv: Die Ängste des Kindes bleiben bestehen, schaukeln sich auf und werden zu Angststörungen.

 

Sich selbst beruhigen oder mein Autopilot und ich

Man kann Ängste als Problem der Selbstregulation betrachten: Sie erschweren den Versuch, sich zu beruhigen. Viele Ängste ADHS-Betroffener haben zudem mit ihrer Impulsivität zu tun. Das Gefühl, seinen Impulsen ausgeliefert zu sein, kann Angst auslösen.

Die Neurowissenschaftler sprechen gern vom «Autopiloten» und meinen damit die Instanz im limbischen System, die Entscheidungen impulsiv trifft, ohne sie mit dem Frontallappen zu über­prüfen. Je jünger die Kinder, desto weniger fähig sind sie aufgrund der verzögerten Entwicklung ihres Frontallappens, ihre Impulse zu steuern. Häufig scheint dies bei ADHS-betroffenen Menschen ein lebenslanges Problem zu sein.

Es ist keineswegs so, dass der Autopilot stets Unrecht hätte, aber es braucht eine Art Gegengewicht, um die impulsive Entscheidung zu überprüfen (das «Ich»). Wenn der berühmte Säbelzahntiger hinter dem Gebüsch brüllt, ist es Zeit, sich kurz zu fragen, ob Flucht oder Kampf die bessere Lösung sind und dies auch sofort umzusetzen. Mit seinem Autopiloten verhandeln zu können, heisst, ihm nicht aus­geliefert zu sein und das letztlich bedeutet Freiheit der Entscheidung. Beide sind wichtig, der Auto­pilot und mein Ich (Brunsting, 2019) – je besser die beiden miteinander auskommen, desto besser für mich.

 

Wie umgehen mit Ängsten und Angststörungen?

Ängste gehören also zum Leben und können sehr hilfreich sein, indem sie Wege aufzeigen oder vor anderen warnen.  Man kann lernen, sie zu meistern und mit ihnen sinnvoll umzugehen: Man kann sozusagen ihr Dompteur zu werden. Gelingt dies nicht, nehmen sie überhand und wir sind ihre Sklaven statt ihr Dompteure… Dann ist der Zeitpunkt gekommen, einen therapeutischen Weg zu beschreiten.

Die Selbstregulation und die Selbstberuhigungsfähigkeit lassen sich auf verschiedene Weisen entwickeln. In Brunsting (2019) sind viele verschiedene Wege aufgezeigt. Allerdings ist dies in einer typischen ADHS-Familie weniger einfach als in anderen Familien.

Wie man Eltern in ihrer Erziehungsaufgabe stärken kann, zeigen der Neurowissenschaftler und Psychiater Dan Siegel und Tina Payne Bryson in ihrem sehr lesenswerten Buch «Achtsame Kommunikation mit Kindern» (2013, S.197-201). In fünf «Kühlschranknotizen» fassen sie die wichtigsten Punkte ihrer Botschaft kurz zusammen:

  1. «Die linke und rechte Hirnhälfte integrieren» -> Klarheit und Verstehen. In einer kritischen Situation sich zuerst emotional mit dem Kind zu verbinden und erst dann zu verstehen suchen, scheint ein guter Weg zu sein. Die Devise: Starke oder schwierige Emotionen benennen, um sie zu zähmen («Name it to tame it»).
  2. «Das obere und das untere Gehirn integrieren» -> Begegnen und beispielsweise fragen Was könnte dir helfen das zu tun?» statt befehlen Tu das sofort! Wird die Situation sehr schwierig, hilft es oft, sich körperlich zu bewegen, um das emotionale Gleichgewicht eher zu finden.
  3. «Die Erinnerung integrieren» -> viele ADHS-Betroffene erinnern sich schlecht an Erlebtes und lernen auf diese Weise wenig daraus. Die Autoren empfehlen, die «Fernbedienung des Geistes zu nutzen» und sich zusammen mit dem Kind vorzustellen, wie es anders hätte sein können. Auch die «Pause-Taste» zu drücken («den Film anzuhalten»), wenn etwas ganz schwierig ist, ist hilfreich. Auf diese Weise können sie lernen, ihre Erinnerungen zu aktivieren, um sie zu integrieren und sich selber zu steuern.
  4. «Die vielen Teile des Selbst integrieren» -> ADHS-Betroffene haben oft Schwierigkeiten, den «Blick nach innen» zu wenden und sich selbst wahrzunehmen. Auch Emotionen vorbeiziehen zu lassen ist eine Herausforderung.
  5. «Das Selbst und andere integrieren» -> auch ADHS-Betroffene leben in einer Gemeinschaft, wenngleich sie oft Schwierigkeiten damit haben. Wie also können sie zum «Wir» gelangen? Siegel & Bryson plädieren für gemeinsame Freuden, aber auch für gemeinsames Bewältigen von Konflikten.

Diese Bausteine für eine gesunde Entwicklung (mit oder ohne ADHS) sind essentiell und können in jeder Lebenslage als Hilfe dienen. Sie sind in einer Psychotherapie mit Kindern oder Jugendlichen ebenfalls sehr wertvoll.

 

Therapieansätze bei ADSH und Angststörungen

Verschiedene Wege führen nicht nur nach Rom, sondern auch dazu, mit Angst gut leben zu lernen. Es gibt wohl keine psychotherapeutische Richtung, die sich nicht mit Ängsten und Angststörungen be­schäftigen würde. Hier ist nicht der Platz für eine grosse Übersicht und so soll nur ein Blick auf die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) geworfen werden. Insbesondere die Kombination von KVT und Achtsamkeit scheint eine vielversprechende Möglichkeit zu sein, wie Lindenkamp (2020) in seiner Metaanalyse aufzeigt. Er stellt fest, dass achtsamkeitsbasierte Ansätze, die heute oft mit kognitiver Verhaltenstherapie kombiniert werden, gute Erfolge haben bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS. Achtsamkeit hilft bei Ängsten, weil es dabei sehr stark um Selbstregulation, Konzentration und innere Ruhe geht (s.a. Brunsting, Nakamura, Simma, 2013).

Wer seine Erziehungsarbeit neurowissenschaftlich und achtsamkeitsbasiert entwickeln möchte, findet bei Siegel & Bryson (2013) ausgezeichnete Unterstützung. Auch Mila und Jon Kabat-Zinn sind hier sehr wichtige Autoren (2007).

In Therapien kann dies ebenfalls direkt oder indirekt genutzt werden, um die Eltern zu befähigen, dies möglichst gut zu tun.

Wie eine achtsamkeitsbasierte Psychotherapie mit ADHS-Jugendlichen aussehen kann zeigen Zylowska et al. (2008). Bereits vor einigen Jahren beschrieben Semple & Lee (2011, in Greco & Hayes), welche therapeutischen Themen in einer Therapie von Angststörungen wichtig sind. Das Erlernen der Achtsamkeit durch die Sinne, d.h. achtsames Atmen, Essen, Zuhören, Sehen, Berühren, Riechen und eine achtsame Wahrnehmung des Körpers sind sehr wichtige Stationen einer Therapie von Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen. Durch die Achtsamkeit treten Ängste zumindest vorübergehend in den Hintergrund. Mithilfe der Achtsamkeit lernen Kinder Gedanken als Gedanken zu begreifen (d.h. als etwas das kommt und geht) und nicht als Katastrophe, die unmittelbar bevor­steht oder als Realität.

Ein Beispiel aus einer Psychotherapie mit einem Jugendlichen soll dies illustrieren:

 

Ben, 13 Jahre, ADHS mit Lernstörungen, Schul- und Prüfungsangst

Ben sollte die Übung Stille Minuten lernen, während der er auf seinen Atem achten und möglichst alles andere ausblenden sollte, um seine Ängste zu regulieren. Er war sehr stark hyperaktiv und befürchtete, dies nicht zu schaffen. «Das kann ich sicher nicht!», wehrte er ab und geriet noch mehr in Stress. Die Therapeutin schlug vor: «Tu einfach mal so, als ob du es könntest. Das kann niemand einfach so. Aber man kann es lernen.». So tun als ob, fand er, das würde er wohl schaffen. Beruhigt versuchte er es. Normalerweise leite ich Stille Minuten während einer bis drei Minuten an und über­lasse dann die Steuerung den Kindern oder Jugendlichen. Ben darf also selber entscheiden, wie lang seine Stille Minute dauern soll und er bleibt 6 Minuten in dieser Übung drin. Erst als er gebeten wird, langsam, in seinem Tempo wieder zurückzukommen, tut er das ganz ruhig. Auf die Frage, wie er das so lang geschafft habe und wie es für ihn gewesen sei, antwortete er: «Super! So ruhig da oben!» und zeigte begeistert auf seinen Kopf. Er hatte also das Glück, bereits beim ersten Versuch einen Unterschied zu erleben.

Ben kann auf diesem Weg lernen, sich selbst zu beruhigen und seinen Stress abzubauen. Er erlebt Selbstwirksamkeit («Ich kann das selbst. Ich kann auch Ängste in Schranken halten»). Zu den Therapie­aufgaben gehörte, dass Ben die Stille Minute auch mit seinen Eltern machte. Das tat er ­– wie die meisten Kinder und Jugendlichen – gut. So kann die Effektivität der Therapie in vielen Fällen verbessert werden.

Der Grundlage vieler Ängste kann mit dieser einfachen Übung gut begegnet werden. In Snel (2013), Brunsting (2014, 2019), Grolimund & Rietzler (im Druck) und Zylowska et al. (2008) sind neben der theoretischen Einführung auch viele praktische Übungen zu finden. Diese auszuprobieren lohnt sich nicht nur für Kinder und Jugendliche, sondern auch für Eltern, Lehrpersonen und Therapeuten.

 

Zusammenfassung

  • Ängste sind normal, können vor Gefahren warnen und damit der Lebensbewältigung dienen.
  • Sie haben bei Kindern und Jugendlichen je nach Alter spezifische Themen (z.B. Trennungsangst, soziale Angst).
  • Solange sie im alterstypischen Rahmen bestehen, reicht es oft, wenn Eltern ihr Kind dabei unterstützen, in sich Ruhe zu finden (d.h. Selbstberuhigungsfähigkeit trainieren).
  • Bei manchen ADHS-Betroffenen bleiben Ängste besonders stark und lang bestehen und können sich zu Angststörungen entwickeln, was therapeutische Massnahmen erfordert. Kognitive Verhaltenstherapie kombiniert mit Achtsamkeitsübungen haben sich in den letzten Jahren bewährt.
  • Der Umgang mit Angst kann wie andere Themen der Selbstregulation trainiert werden.

Sich in Achtsamkeit zu üben, ist in unserer hektischen Zeit generell ein guter Weg. Kurse dazu siehe Website Verband MBSR Schweiz www.mindfulness.swiss

 

Literatur und Links:

Brunsting, M. (2014): Träumer oder ADS? Oberuzwil: Verlag am Weiher

Brunsting, M. (2019): Mein Autopilot und ich. Bern: Haupt

Brunsting, M.; Nakamura, Y. & Simma, Ch. (2013). Wach und präsent. Bern: Haupt

Greco, L.A. & Hayes, S.C. (Hrsg). (2011) Akzeptanz und Achtsamkeit in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Weinheim: Beltz

Kabat-Zinn, M. & J. (2007). Mit Kindern wachsen. Freiburg: Arbor

Lindenkamp (2020) Effektivität achtsamkeitsbasierter Therapieverfahren bei Kindern- und Jugendlichen mit ADHS – ein systematisches Review. Lernen & Lernstörungen 2020, 9 (1), 25-35. https://doi.org/10.1024/2235-0977/a000265

Rietzler, S. & Grolimund, F. (im Druck): Lotte. Träumst du schon wieder? Freiburg: Herder

Semple, R.J. & Lee, J. (2011): Behandlung von Angststörungen durch Achtsamkeit: Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie für Kinder. In: Greco & Hayes, 2011, S. 72-98

Siegel, D. & Payne Bryson, T. (2013). Achtsame Kommunikation mit Kindern. Freiburg: Arbor

Snel, E. (2013): Stillsitzen wie ein Frosch. München: Goldmann

Zylowska, L.; Ackerman, D.; Yang, M. et al. (2008): Mindfulness meditation training in adult and adolescents with ADHD. Journal of attention disorders, 11(6), 737-746

 


„Vom Zappelphilipp und Träumer zum Angsthasen und Katastrophisierer“

ADHS und Angststörung im Erwachsenenalter

Fabian Eberle, lic. phil. Fachpsychologe für Psychotherapie FSP, Leitender Psychologe/ Psycho-therapeut ZADZ AG – Zentrum für Angst- und Depressionsbehandlung Zürich mit Unterstützung von Stephan Fundinger, Psychologe, ZADZ

 

Wissenschaftlicher Hintergrund und die Schwierigkeit des Entdeckens

Das Risiko eine Angststörung zu entwickeln, ist bei Personen mit ADHS um 20 - 50% höher im Ver­gleich mit der Normalbevölkerung (Katzman et al.,2017). Zudem zeigen Menschen mit der Komor­bidität Angststörungen und ADHS im Vergleich zu Personen ohne ADHS eine Tendenz zu stärkeren Angstsymptomen und einem früheren Beginn der Angstsymptomatik. Eine Problematik ist, dass bei Personen mit ADHS und einer Angststörung, die Diagnose ADHS häufig viel später diagnostiziert wird als bei Personen ohne Angststörungen. Man geht davon aus, dass die Ängste die Impulsivität der ADHS-Symptomatik überdecken und es somit für den Behandler schwieriger wird, diese zu erkennen. Eine andere Schwierigkeit des Erkennens der ADHS-Symptomatik zeigt sich zum Beispiel bei Menschen, die unter einer sozialen Phobie leiden. Diese wirken im therapeutischen Kontext oft sehr angepasst (kommen pünktlich, zeigen sich verbindlich, möchten nichts Falsches sagen). Dieses Ver­halten ist untypisch für eine Person mit ADHS, jedoch könnte hier auch eine AD(Hypoaktivität)S Thematik vorhanden sein, welche dann nicht erkannt wird.

 

Wie kann ein möglicher Zusammenhang von ADHS und Angststörungen aussehen?

Eine langjährige Geschichte des Scheiterns in der der Schulzeit, während der Kindheit und den Jugend­jahren – bedingt durch eine ADHS Thematik – kann bei einer Person ein niedriges Selbst­vertrauen bewirken. Dies kann dazu führen, dass die Person bestimmte Situationen (z.B. Prüfungen) vermeidet, dass sie das Scheitern prophezeit oder sie sich durch andere nicht verstanden fühlt. Diese schwierigen emotionalen Erfahrungen werden verinnerlicht und können zu einer späteren Entwick­lung komorbider Ängste führen.

Ein weiteres Beispiel für einen Zusammenhang zwischen der Impulsivität der ADHS-Thematik und daraus resultierenden Ängsten wäre, dass ein Kind durch sein impulsives, sozial auffälliges Verhalten vermehrt in Konflikte gerät und es daraus eine soziale Phobie (innerer Leitsatz: „Andere sind für mich bedrohlich“) entwickeln kann. Ein impulsives Verhalten des Kindes kann auch dazu führen, dass sich die Eltern starke Sorgen um das Kind machen. Dies wiederum kann nach der Modelllerntheorie von Bandura beim Kind dazu führen, dass es die Ängste und Sorgen der Eltern übernimmt und schließlich eine generalisierte Angststörung entwickelt.

Eine mögliche Erklärung für resultierende soziale Ängste aus einer ADHS-Thematik wäre Folgende: Die ADHS bedingte Verträumtheit und leichte Ablenkbarkeit in Konversationen kann dazu führen, dass das Gegenüber sich in einem Gespräch nicht ernst genommen fühlt und dies dem Kind mit der ADHS-Symptomatik verbal oder auch nonverbal zu spüren gibt. Diese Signale wiederum können beim Kind mit der ADHS-Symptomatik zu einer nachvollziehbaren Verunsicherung führen.

Dieses Sich-Ausgeschlossen-Fühlen, das Vorhandensein stetiger Sorgen, der Gedanke „anders zu sein wie die anderen“, das Vermeiden ausgewählter Situationen und auch Rückzugstendenzen lassen sich bei ADHS-Patienten als beobachtbare Symptome beschreiben, wie auch bei Patienten mit Angststörungen. Beide verbinden zudem ein hohes Anspannungsniveau oder die Hyperfokussierung ausgewählter Reize (Becker, 2005).

 

Wie therapiert man am besten, wenn eine ADHS- und eine Angstsymptomatik vorhanden sind?

Da ich als Psychologe/Psychotherapeut über keinen medizinischen Hintergrund verfüge, stütze ich mich bezüglich der Empfehlung der medikamentösen Therapie auf die Studienlage. Ich möchte betonen, dass es sich hier um einen Ausschnitt handelt, der als Anregung gedacht ist.

Früher war oft die Meinung vertreten, dass Psychostimulantien keine lindernde Funktion auf eine Angstsymptomatik hätten oder diese in ungünstiger Weise sogar verstärken könnten. Neuere Studien belegen jedoch, dass solche Medikamente durchaus einen günstigen Einfluss auf die Angstsymptomatik haben können (Koynuncu, Celebi & Ertekin, 2015). Bei Erwachsenen mit ADHS und einer sozialen Phobie erzielte eine Behandlung mit Atomoxatin (Strattera, SNRI) den stärksten Effekt (Adler et al., 2009). Eine Behandlung mit Methylphenidat (Ritalin, Concerta) führte ebenfalls zu einer Reduktion der Symptomatik von ADHS und sozialer Phobie (Golubchik, Sever & Weizman, 2014).

Bei der Frage, welche Symptomatik sollte man zuerst behandeln, zeigt sich die aktuelle Studienlage leider nicht eindeutig. Dr. Liji Thomas MD (www.news-medical.net) meint, dass die Behandlung der ADHS-Symptomatik vor der darüber liegenden Angstsymptomatik angegangen werden sollte. Dies mit der Hypothese, dass durch die Behandlung der ADHS-Symptomatik beim Patienten auch die Ängste schwächer werden. Katzman et al. (2017) sind der Meinung, dass sich die Behandlung zuerst auf die Symptomatik fokussieren sollte, welche für den Patienten als belastender empfunden wird und ihn somit in seiner Lebensweise auch stärker einschränkt.

Aus meiner Erfahrung in der Praxis zeigt sich, dass es sich lohnt, zuerst eine breite, fundierte Abklä­rung und bei einem ADHS-Verdacht auch eine erste Testdiagnostik durchzuführen. Der innere Leit­satz, den Patienten dort abholen, wo er sich befindet, hilft mir als erster Anhaltspunkt, an welchem sich Therapieaufträge ableiten lassen. Aufgrund der daraus gewonnenen Informationen kann man als Behandler, mit dem Patienten zusammen, gezielt einen individuellen Therapiefahrplan mit realisti­schen Zielen erarbeiten. Diesen gilt es, im therapeutischen Prozess immer wieder zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen, damit aus einem Katastrophisierer wieder ein Träumer werden kann.

 

Literaturangaben:

https://www.news-medical.net/health/ADHD-and-Anxiety.aspx

Adler et al. (2009). Atomoxetine treatment in adults with attention-deficit/hyperactivity disorder or comorbid social anxiety disorder. Depression and Anxiety, 26, 212 – 221.

Becker, E.S. (2005). Generalisierte Angststörungen. In F. Petermann & H. Reinecker (Hrsg.) Handbuch der klinischen Psychologie und Psychotherapie (S. 499 – 506). Göttingen: Hogrefe.

Golubchik, Sever & Weizman (2014). Metylphenidate treatment in children with attention deficit hyperactivity disorder and comorbid social phobia. International Clinical Psychopharmacology, 29, 212 – 215.

Katzman et al. (2017), Adult ADHD and comorbid disorders : clinical implications of a dimensional approach, BMC Psychiatry. 17 :302

Koynuncu, Celebi & Ertekin (2015). Extended-release methylphenidate treatment and outcomes in comorbid social anxiety disorder and ADHD : 2 case reports. Journal of Psychiatric Practice. Epub ahead of print.


ADHS Analog

In unserer Serie schreibt Ursula Ammann, MAS Supervision und Coaching ZHAW und Studienleiterin icp über analoge Methoden, die sich im Therapie- und Coachingbereich bewährt haben, heute zum Thema:

 

Angst

Wer kennt sie nicht, die Angst? Ihr Fehlen würde uns zu Unvorsichtigkeit, zu Gedankenlosigkeit und zu risikoreichem Handeln verführen. Sie hat durchaus ihre Berechtigung – in der Schematherapie wird sie gewürdigt und ihr Anteil an gelingendem Leben definiert.

Ihr zweites Gesicht ist ein böses, einengendes und handlungsunfähig machendes. Die Angst ist unberechenbar, oft unplanbar und in der Regel sehr unwillkommen.

Meine Klienten machen häufig die Erfahrung, dass sie versuchen, die Angst zu vermeiden und deshalb immer mehr in ihrer Freiheit und ihrem Radius eingeschränkt werden.

Wie können hier analoge Methoden helfen?

Bereits vor vielen Jahren entdeckte ich in der Supervision das Buch von Mary Goulding

«Kopfbewohner: Wer oder was entscheidet unser Denken». Die grosse alte Dame der TA (und Gestalttherapie) geht hier lustvoll und mit viel Einfühlungsvermögen auf unsere inneren Stimmen (Kopfbewohner) ein. Sie macht Mut, diese zu visualisieren und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Schliesslich verabschiedet sie sie in Form eines Luftballons. Ihr Buch mag Vorbild für den Film «Alles steht Kopf» und diverse «Monster»-Bücher sein.

 

 

 

Ihren Ansatz adaptierend, malen oder gestalten meine Klienten ihre inneren Einflüsterer und geben diesen Namen. Da kommen spannende Bilder heraus, auch bei jenen, die vermeintlich nicht zeichnen können (einmal mehr: zum Visualisieren muss man nicht zeichnen können!!!).

Mit diesen Gestalten wird dann der reale Dialog gesucht (nicht der stille, innere, sondern wirklich hörbar!). Zum einen – je nach Situation – werden sie Schema-like gewürdigt. Dann aber wird ihnen ihre Stammwohnung gekündigt. In der Regel wohnen die nämlich Penthouse-mässig mit bester Übersicht im Stirnbereich – man muss ja alles mitbekommen und kommentieren können....

Nun ist ein Umzug angesagt (im Gegensatz zu Goulding lasse ich sie nicht wie ein Ballon entschweben, sie haben ja durchaus auch ihre Berechtigung). In der Regel lassen sie meine

Klienten in den Hinterkopf oder noch besser, hinters Ohr umziehen – da ist die Aussicht doch sehr beschränkt ;-)

 

 

Jetzt gilt es in einem wei­te­­ren Schritt, die Pent­house-Woh­nung neu zu vermie­ten! Ein wich­tiger Schritt, dem man ge­nügend Zeit ein­­räu­men muss. Hier geht es um ein lustvolles Ent­­wer­fen und Einrichten, da­mit sich die neuen Mieter wohl­füh­len. Sehr oft wählen meine Klienten dann «Zu­ver­sicht», «Ver­­trauen», «Freude» etc. als neue Bewohner.

Eine Arbeit, die den meisten Klienten sehr Spass macht, weil sie aus der Erstarrung in die Handlungsfähigkeit kommen. Sie werden aktiv, können in Angstsituationen mit ihrem inneren Monster in den Dialog treten und es an seinen Platz verweisen. Manchmal werde ich vom Erfolg dieser Methode selbst überrascht. So erinnere ich mich an einen 18-jährigen, sehr feinfühligen Klienten, der in seinem Arbeitsumfeld mit mehreren schwereren Unfällen konfrontiert war und eine beträchtliche Angst inklusive Schlafstörung entwickelte. Nach nur zwei Gesprächen berichtete er mir, dass er nun vollkommen angstfrei sei. Besonders spannend: Sein Bruder, den ich aktuell begleite, erlitt letzte Woche einen sehr schweren Unfall mit noch unbekannten Heilungsaussichten. In der Folge telefonierte ich meinem ehemaligen Klienten, um nachzufragen, wie es ihm gehe – und ich staunte und freute mich, dass er nicht in alte Muster zurückgefallen ist.

Daneben arbeite ich auch klassisch mit den Desensibilisierungen der Verhaltenstherapie – die sind in sich etwas “gruseliger”, da man ja eine angstauslösende Situation in mehrere Unterschritte unterteilt und diese dann bewusst abruft. Aber auch sehr effizient: So habe ich in der VT-Ausbildung meine Spinnenangst herrlich überwunden.... (Nicht vergessen: was wir unseren Klienten zumuten, sollten wir eigentlich selbst ausprobiert haben!). Auch dazu eine besondere Geschichte. Ein anderer junger Mann (tatsächlich sind die meisten meiner Klienten Männer) hatte eine ausgesprochene Soziophobie, die sich vor allem im ÖV manifestierte. So schaffte er kaum den Weg von Basel nach Laufen (20’ S-Bahn /der IC war völlig unmöglich). Zunächst nahm er bereits beim Bahnhof Basel ein Taxi, dann schaffte er es immerhin von Basel aus, eine Station zu fahren (Fahrdauer eine Minute). Bei ihm koppelte ich die Desensibilisierung unkonventionell mit dem Entspannungsbild, das ebenfalls aus der VT stammt. Ich gliederte auch dieses in 10 Schritte und fragte ihn, was ihm denn helfen würde (welches Bild), um sich zu entspannen. Wie aus der Pistole kam die Antwort «guter Sex mit der Freundin». Beim Aufteilen in zehn Unterschritte haben wir beide viel gelacht (mit Respekt und Würde, nicht ins Lächerliche kippend) und siehe da, nach ein paar wenigen Trainings (er rief mich vom Zug aus an und wir bauten das Entspannungsbild auf), schaffte er den Weg problemlos....

Wie stets wünsche ich Ihnen viel Freude beim Ausprobieren, was zu Ihrem Klienten passt und stehe für Fragen unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!zur Verfügung! Bliibet Si gsund!

 

Hinweise

 

  • Die Mitgliedertagung findet am 18. März 2021, 14.00 – ca. 17.30 Uhr im Bahnhofbuffet Olten statt.
  • Zertifikatsausbildung zum ADHS-Coach von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, Höhere Fachschule für Sozialpädagogik ICP. Ort: Coachingzentrum Olten, Start: 24. 10. 2020
  • Elpos Regionalverein Zürich Glarus Schaffhausen sucht eine Fachperson für die Leitung der Fach- und Beratungsstelle (Stellenbeschrieb: https://www.sfg-adhs.ch/dateien-veranstaltungen/741-60-stellenausschrieb-2020/file.html)0
  • Podcast zum Thema «Unaufmerksame und hyperaktive Kinder in der Schule fördern» speziell für Lehrpersonen.
  • Studie Kinderspital Zürich «Gehirnreifung und Schlaf»: Für diese spannende Studie werden gesunde und mit ADHS diagnostizierte Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 8 und 14 Jahren gesucht.

Weitere Informationen zu den beiden Weiterbildungen finden Sie auf unserer Homepage (Veranstaltungen): https://www.sfg-adhs.ch/

 

ADHS Aktuell

 
Editorial
 

Der aktuelle Newsletter legt den Schwerpunkt auf das Thema ADHS und ASS:

  • Isolde Schaffter-Wieland berichtet von der Mitgliedertagung 2019 unter dem Titel «ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen». Sie gibt einen Einblick in die Referate von Dr. med. Ronnie Gundelfinger und Dr. med. Peter Eisler, die zeigen: Fachpersonen, die mit ADHS-Betroffenen arbeiten, sollten sich auch mit ASS auskennen. So zeigen gemäss einer schwedischen Studie 50-75% der Kinder mit einer ASS-Diagnose eine klinisch relevante ADHS, während 7-15% der ADHS-betroffenen Kinder gravierende autistische Symptome aufweisen.
  • Dr. med. Peter Eisler beschreibt in seinem Artikel «Erfahrungsbericht eines Schweizer ASS-Pioniers» eindrücklich, wie fordernd und oft überfordernd der Alltag für ASS-Betroffene sein kann. Im Artikel wird deutlich, dass ASS-Betroffene und «Neurotypische» in unterschiedlichen «Kulturen» leben.
  • Ursula Ammann betont, wie wichtig die Psychoedukation bei ADHS ist und dass sie mit Besorgnis feststellt, dass ihre Klienten oft lediglich oberflächlich über ihre Symptomatik aufgeklärt wurden. Sie ihrer Kolumne stellt sie kreative Wege der Psychoedukation vor.
  • Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund gehen in ihrem Artikel der Frage nach, ob regelmässige Achtsamkeitspraxis für ADHS-Betroffene hilfreich sein könnte.

Herzliche Grüsse,

Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund

 
 

Mitglieder-Tagung 2019: ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen

Isolde Schaffter-Wieland, VS-Mitglied SFG ADHS
 

Das Tagungsmotto ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen interessierte offenbar eine grosse Mitgliederzahl: So fanden sich knapp 70 Fachpersonen im Bahnhofbuffet Olten zusammen. Ein echter Erfolg! SFG ADHS Co-Präsident Dr. Thomas Müller begrüsste die Anwesenden zum spannenden Anlass und wies darauf hin, dass Asperger in der Gesellschaft eher etabliert sei, als eine ADHS-Diagnose.

Das Eröffnungsreferat hielt Dr. med. Ronnie Gundelfinger, Leitender Arzt der Fachstelle Autismus in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychiatrie (KJPP) Zürich. Der frühkindliche Autismus wurde zuerst vom Kinder- und Jugendpsychiater Leo Kanner (1894-1981) beschrieben. Der in die USA ausgewanderte Österreicher diagnostizierte 1943 bei elf Kindern eine „autistische Störung des affektiven Kontakts“, die später unter dem Namen „frühkindlicher Autismus“ bekannt wurde.

Für den Kanner-Autismus galten folgende Merkmale:

  • Unfähigkeit, soziale Beziehungen einzugehen
  • Unfähigkeit, Sprache zur Kommunikation einzusetzen
  • Zwanghafter Wunsch, Gleichheit zu bewahren
  • Faszination für Objekte
  • Auftreten der Symptome vor dem Alter von 2 1⁄2 Jahren

Wie Kanner war der Pädiater Hans Asperger (1906-1980) gebürtiger Österreicher und definierte 1944 die Störung als „autistische Psychopathie“. Die beiden veröffentlichten fast zeitgleich ihre Publikationen zum frühkindlichen Autismus, die zudem grosse Ähnlichkeiten aufwiesen.

Aspergers Veröffentlichung enthielt die Beschreibung von vier Jungen, denen eine durchschnittliche bis hohe Intelligenz gemeinsam war, sowie:

Asperger nannte die Jungen „kleine Professoren“, da sie über das Gebiet ihres Spezialinteresses detailliert sprechen konnten und oft ein erstaunliches Wissen ansammelten. „Die Natur dieser Kinder offenbart sich am deutlichsten in ihrem Verhalten anderen Menschen gegenüber. In der Tat, ihr Verhalten in einer Gruppe ist das klarste Zeichen für ihre Behinderung und die Ursache für Konflikte von frühester Kindheit an.“

Im Alltag sind diese Kinder gemäss Ronnie Gundelfinger mit folgenden Problemen konfrontiert:

  • Sie finden keinen Anschluss, werden ausgegrenzt und geplagt
  • Sie halten sich nicht an Regeln und Konventionen
  • Sie machen verletzende Bemerkungen
  • Sie wollen fast ausschliesslich über ihr Lieblingsthema reden
  • Sie wenden extrem viel Zeit für ihre Hobbys auf
  • Sie hängen sehr an festen Abläufen und haben Mühe mit Unvorgesehenem
  • Sie haben Mühe mit Nähe und Distanz
  • Sie sind oft motorisch ungeschickt
  • Sie zeigen oft sensorische Überempfindlichkeiten (Essen, Gerüche, Lärm, Kleider)

Grundgefühle eines ASS-Betroffenen im Alltag sind Stress und Angst. Die beiden Hauptfaktoren werden beeinflusst und ausgelöst durch:

  • Reizüberflutung,
  • unbefriedigte Erwartungen
  • unerwartete Veränderungen
  • Mangel an Verständnis für soziale Situationen
  • berufliche / soziale Herausforderungen

Knaben, respektive Männer, sind prozentual häufiger von einer ASS betroffen als Mädchen und Frauen:

  • Die Symptomatik ist bei ihnen subtiler und im Vergleich zu derjenigen bei Jungen oft weniger ausgeprägt.
  • Mädchen verfügen über mehr soziales Interesse und mehr soziale Kompetenzen.
  • Mädchen reagieren eher passiv und mit Rückzug, was dem gesellschaftlichen Rollenbild (still, schüchtern) entspricht.
  • Mädchen fallen weniger auf und verhalten sich weniger störend. Die AS- Verhaltensweisen werden rollentypisch interpretiert (mangelnder Blickkontakt = schüchtern)
  • Mädchen tarnen ihre Schwierigkeiten besser. Sie nutzen ihre (gute) Intelligenz, um ihre sozialen Schwierigkeiten zu verstecken.

Gemäss einer schwedischen Studie haben:

  • 50 -75 % der Kinder mit Asperger-Syndrom eine klinisch relevante ADHS.
  • 7 – 15 % der Kinder mit ADHS gravierende autistische Symptome.

Wie bei einer ADHS gibt es auch bei einem Asperger auffallende Stärken:

  • Die Beziehung zu Mitmenschen ist geprägt von absoluter Zuverlässigkeit und Loyalität
  • Frei von sexistischem oder anderem vorurteilsbehaftetem Denken
  • Ehrliche Kommunikation ohne Hintergedanken oder Doppeldeutigkeiten
  • Originelle Art der Problemlösung
  • Aussergewöhnliches Gedächtnis für Details
  • Enzyklopädisches Wissen über Spezialgebiete

Interessierte Leser können sich im Mitgliederbereich das sehr aufschlussreiche Fachreferat von Dr. Gundelfinger als Handout herunterladen, indem auch die Diagnostik ausführlich zur Sprache kommt.

Dr. Peter Eisler, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Zürich holte das Publikum auf eine sehr persönliche und zuweilen humorvoll-provokative Art und Weise ab. Er schickte es gleich vorab, dass er lieber von einer «Struktur» spreche als von einer Störung. Er habe zuerst ADHS-betroffene Menschen kennengelernt und sich in der Folge zunehmend für die ASS-Thematik interessiert. Er zitierte die deutsche Journalistin und Autorin Denise Linke, bei der 2011 Autismus und 2014 ADHS diagnostiziert wurde: «Autismus ist keine Krankheit – es ist eine Art zu sein.»  Der Referent erklärte zu Beginn seiner Ausführungen und Fallbeispiele: «Ich musste eine Fremdsprache lernen, um meine Patienten verstehen zu können.» Auf nachvollziehbare Weise schilderte er, dass ASS-Betroffene den Blickkontakt meiden würden, weil dies für sie Angst auslösend sei, da sie soziale Gesichtsausdrücke nicht erlernen.

Im Kontakt mit anderen Menschen müsse für sie alles logisch sein: faktisch, mit klaren Regeln und bis ins Detail erklärt. Kurz zusammengefasst bedeute dies:

  • Details bedenken, erforschen, Fakten
  • Kommunikation ist schwierig
  • Ein Satz muss analysiert werden
  • Wenig Kontextsicht
  • Muster sind Orientierung
  • Veränderungen müssen vorhersehbar sein
  • Was soll „small talk“?
  • Wie machen es die Neurotypischen?
  • Was man sagt, meint man
  • Alles muss gelernt werden

«Für ASSler ist der Alltag ein Chrampf», betont Peter Eisler. Und so gibt der Facharzt mit den Worten von Albert Camus zu bedenken: «Niemand realisiert, dass einige Menschen unglaublich viel Energie aufwenden, um normal zu sein.» Auch von diesem Referat können Sie ein Handout herunterladen.

Nach der Fragerunde gab es einen regen Austausch unter den Teilnehmenden bei einem reichhaltigen Apéro. Erfreulich war, dass immerhin 26 Personen der Mitgliederversammlung beiwohnten, die auch von 7 Vorstandsmitgliedern begleitet wurde. Angenommen wurde unter anderem auch die neue Kategorie «Senioren-Mitgliedschaft»: Mitglieder, die das Pensionsalter erreicht haben, können den Status der Seniorenmitgliedschaft wählen und bezahlen dann als Jahresbeitrag noch CHF 100.- statt CHF 200.- Die Mitgliederzahlen sind aktuell stabil (179 Einzelmitglieder/9 Kollektivmitgliedschaften/9 Klinikmitgliedschaften/4 Passiv-Mitglieder und 2 Ehrenmitglieder). Besonders freut sich die SFG ADHS über die Zunahme der Klinik-Mitgliedschaften. Dankbar sind wir auch für Anregungen aus der Runde. So besteht der Wunsch, in den kommenden Newslettern Themen wie «ADHS und Job», «ADHS im Alter» oder «Berufliche Eingliederung von Jugendlichen mit ADHS» aufzunehmen. Der Vorstand hält fest, dass die SFG ADHS politisch aktiv sein wolle, auch in Bezug auf die Krankenkassen (Kostenübernahme der Stimulanzien-Behandlung). Dabei ist es auch ein Ziel, die Mitglieder zu entlasten, die oft mit zusätzlichen administrativen Herausforderungen konfrontiert werden, um ihre Patienten zu unterstützen.

Wir danken an dieser Stelle allen, die an der Tagung und Mitgliederversammlung teilgenommen haben – neue Mitglieder sind übrigens jederzeit herzlich willkommen.


Erfahrungsbericht eines Schweizer Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) Pioniers:
Menschen mit ASS – Menschen mit ADHS im Erwachsenenalter

Dr. med. Peter Eisler, Zürich

Ich möchte von meinen Erfahrungen und meinem Lernprozess in der Arbeit mit Menschen mit einer Autismus Spektrum Struktur berichten, von denen einige auch eine ADHS zeigten. Welche Gemeinsamkeiten haben Menschen mit ASS und Menschen mit einer „reinen“ ADHS und welches sind die Unterschiede?

Ich spreche lieber von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Struktur und auch Menschen mit einer Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Struktur. Denn heute ist klar, dass sich die Gehirne dieser Menschen von den Gehirnen der “Normalen“ (Neurotypischen) unterscheiden.

 

Fremde Kulturen

Menschen mit ASS und neurotypische Menschen haben unterschiedliche Kulturen. Nach meinem Verständnis sind die Werte die Grundlage der menschlichen Kultur. Auf diesen bauen dann Normen auf. Im Alltag äussern sich diese in unserem Verhalten, unserem Verständnis und unserem Umgang mit der Wirklichkeit.

Für Menschen mit einer ASS sind Fakten und Logik wichtige Werte zur Orientierung in dieser Welt. Und für uns sogenannt „Normale“? Im Internet habe ich eine Liste von 346 Werten gefunden. Die wenigsten davon sind logisch und/oder faktisch. Viele haben mit unseren Emotionen zu tun. Zusammengefasst kann man sagen: Menschen mit einer ASS sind logik- und faktenorientiert, die Neurotypischen kontextorientiert.

Werte sind wie eine Sprache. Wenn andere Menschen andere Werte haben, sprechen sie eine andere Sprache und die Kommunikation wird schwierig. Es kann zu Missverständnissen, Vorurteilen oder gar Vorverurteilungen kommen.

Über Menschen mit einer ASS gibt es eine Menge Mythen und Vorurteile wie:

  • Alle Autisten sind geistig behindert
  • Autisten sind gut im Kopfrechnen
  • Autisten reden komisch
  • Autisten bewegen sich komisch
  • Autisten sind am liebsten allein
  • Autisten haben keine Gefühle
  • Autisten schauen einen nicht an
  • Autisten fallen auf den ersten Blick auf
  • Autisten sind alle wie „Rainman“
  • Autisten haben besondere Fähigkeiten (Savants)
  • Autismus ist heilbar

Die Vorurteile bezüglich Menschen mit einer ADHS sind Ihnen sicher bestens bekannt.

Versetzen Sie sich in Gedanken auf eine Reise in eine fremde Kultur, ohne Fremdenführer, ohne Übersetzer. Vielleicht verstehen Sie sogar die Sprache, aber deren kulturelle Bedeutung nicht. Anstrengend! So ging es mir anfangs auch. Ich musste viel lernen. Ich musste also eine „Fremdsprache“ lernen, um diese Menschen zu erfassen und für sie therapeutisch hilfreich sein zu können.

Es gibt keinen typischen ASS-Menschen. Sie sind unterschiedlich! Jeder ist ein Individuum. In meiner Arbeit mit Erwachsenen traf ich wenige, die schon als Kinder diese Diagnose bekommen haben. Die Anmeldungen erfolgten meist über KollegInnen zur diagnostischen Klärung, oder weil jemand darüber gelesen hatte und sich fragte: „bin ich eventuell so?“ Oder: „Bei meinem Kind wurde die Diagnose eines Asperger Syndroms gestellt, habe ich das auch?“ Oder: „Meine Frau hat mich geschickt, sie meint....“, usw.

 

Sozialverhalten

Menschen mit einem ADHS beherrschen die „normalen“ sozialen Regeln grundsätzlich. Dass sie dennoch manchmal anecken, hat mit ihrer Impulsivität und den Aufmerksamkeitsproblemen zu tun.

Menschen mit einer ASS verstehen die sozialen Regeln nicht. Und so treten sie oft in „Fettnäpfchen“ mit ihren direkten, faktischen Äusserungen. „Sie sind dick“. Sie stinken“. Und so ist man im Kontakt mit ihnen oft irritiert.

Während Säuglinge mit einer ADHS die Mutter (Betreuer) geradezu anstrahlen, schauen Säuglinge mit einer ASS diesen schon bald nicht mehr in die Augen. Forschungen haben ergeben, dass bei ihnen die Amygdala beim Anblick von Augen „grösste Gefahr!“ funkt. Deshalb schauen sie auf andere Dinge wie Knöpfe, etwas das glänzt oder sich bewegt. Und so lernen sie weder Mimik, noch die verschiedenen sozialen Gesichtsausdrücke, die Grundlagen des sozialen Umgangs. Auch zärtliche Berührung ist ihnen zuwider. Und doch, viele Erwachsene mit einer ASS schauen einem in die Augen. Zumindest bekommt man den Eindruck. Wenn man aber nachfragt ist die Antwort oft: „Ich schaue auf etwas über ihren Augen, auf die Stirn oder tiefer, auf die Nase, den Mund“.

Sie selbst zeigen kaum Mimik oder eine aufgesetzt wirkende, starre Mimik. Es kann sein, dass sie einen anschauen, wenn jemand spricht, nicht aber, wenn sie selber sprechen. Oft müssen sie einem alles bis ins Detail berichten, aus der Überzeugung heraus, dass das Gegenüber alles wissen muss, um sie zu verstehen. Sie merken gar nicht, dass wir eventuell gelangweilt sind und schon längst begriffen haben. Denn sie selber müssen alle Fakten kennen, um sich zu orientieren.

Auch das konnte ich mir mit einem zusätzlichen Forschungsergebnis verständlicher machen. Gehirne von Menschen mit einer ASS sind grösser als die der „Normalen“. Nun ist es aber so, dass einzelne Gebiete viele Zellen haben und lokal eng verbunden sind. Zu den anderen Gehirnregionen bestehen aber wenig Verbindungen. Ganz im Gegensatz zum *normalen“ Gehirn. Dazu passen auch die Untersuchungen, die gezeigt haben, dass die Dichte der Spiegelneuronen bei diesen Menschen viel geringer ist als bei „normalen“ Menschen. Diese Untersuchungsergebnisse passen zum Modell der theory of mind. Der Fähigkeit, die sozialen Perspektiven anderer Menschen zu übernehmen, deren Handeln zu antizipieren und mitzuschwingen. Dies beinhaltet auch die Fähigkeit, übers Zuschauen zu lernen. Sie können demzufolge die Welt nur von sich aus sehen, also auch nicht über Nachahmung lernen. Das bezeichnet man als Egozentrismus.

Somit liegt die Stärke dieser Menschen beim Erkennen von Details, den Fakten, dem genauen, logischen Verstehen. Small talk was soll das? Gefühlssteuerung, was ist das? Veränderungen müssen vorbereitet, faktisch sinnvoll und gut durchdacht sein. Sonst sind sie der pure Stress. Was man sagt, gilt! Also, wenn ich dir einmal gesagt habe „Ich liebe dich!“ dann muss ich das doch nicht dauernd wiederholen! Wenn etwas nicht erklärbar oder unvorhergesehen ist, dann ist es eine unverständliche, überfordernde Situation. Dinge müssen Regeln haben: „Ich könnte nicht Metzger werden, denn ich kenne die Regeln nicht!“ „ Ich kann auch eine Schnupperstelle nicht besuchen, denn ich weiss die Regeln nicht, wie man das macht!“ Als „Normaler“ neigt man rasch dazu, dies als faule Ausrede abzutun. Das sind aber keine faulen Ausreden, denn Menschen mit einer ASS können in solchen Situationen überfordert sein. Die normalen menschlichen Reaktionen sind nicht logisch, sie sind verwirrlich. Wie kann ich mich orientieren? Und da nicht alle zwischenmenschlichen Situationen gleich sind, muss jede einzelne neu erlernt werden. So fragte mich ein Patient einmal in der ersten Stunde, wohin genau er sich setzen sollte, was genau er mir erzählen solle und was nicht. Er brauche diese Angaben, sonst könne er sich nicht orientieren, er sei nämlich das erste Mal bei einem Psychiater und er wolle es gut machen. Ein anderer erklärte, er habe die Regeln und Abläufe vieler Frauen beim Sex genau studiert und sei nun ein super Liebhaber. Offene Fragen wie: „Wie ist es Ihnen am letzten Wochenende gegangen?“ können nicht beantwortet werden. Wann? Wo? Mit wem? Gegangen? Ich bin meist gelegen!

Es ist aber nicht so, dass Menschen mit einer ASS selber keine Gefühle hätten. Sie können auch lieben und möchten auch geliebt werden. Nur drücken sie das anders aus. Hier möchte ich auf das Buch „Ein Kaktus zum Valentinstag“ von Peter Schmidt hinweisen.

Das Modell theory of mind erklärt für mich auch zum Teil die ausgeprägte Detailsicht von Menschen mit einer ASS. Verstärkend kommt noch die Schwierigkeit der zentralen Kohärenz hinzu, also der Fähigkeit zur Verallgemeinerung und Konzeptbildung. Das kann aber auch eine Stärke sein. So können Menschen mit einer ASS rasch Fehler in einer Programmierung oder in einem Text erkennen, quasi auf einen Blick: Etwas im Muster ist nicht korrekt.

Sie können aber in einer Situation Erlerntes nicht generalisieren und auf andere Situationen übertragen. Da sich jedoch kaum zwei Situationen gleichen, müssen sie jede neue Situation neu lernen. Neue Situationen, z.B. eine Reise in eine fremde Stadt, sind eine harte Herausforderung, denn alles ist neu, jeder Baum, jedes Haus, jedes Detail. Veränderungen machen grosse Mühe, nur keine Überraschungsgeschenke, keine Überraschungsreise! Ein Besuch bei einem Arzt muss faktisch begründet sein. Eine Mutter berichtete mir, dass sie für einen Besuch beim Arzt, der auf 14 Uhr terminiert war, um 11 Uhr damit beginnen musste, ihrem Sohn zu erklären weshalb, welchen Weg und was genau geschehen werde. Der Weg zum Einkauf muss immer wieder derselbe sein, wenn möglich das Benötigte auch. Einen neuen Weg zu gehen, erfordert manchmal monatelange gedankliche Vorüberlegungen bis das möglich ist.

Und so ist es nicht erstaunlich, dass auch bei Erwachsenen mit einer ASS das Sozialverhalten hölzern, unbeteiligt, gleichgültig, selbstgerecht wirkt, was dann als narzisstische Störung fehldiagnostiziert werden kann.

„Ich gelte als Sonderling, eigenartig, aufgesetzt, arrogant, besserwisserisch, rechthaberisch, lieblos, kalt, überheblich, berechnend, gefühllos, komisch. Ich hätte einen schlechten Charakter und ich sei krank. Mit mir stimme etwas nicht.“ So erklärte sich eine Patientin mir gegenüber im Erstgespräch.

Und wie ist das bei Menschen mit einer ADHS? Es kann nicht neu genug sein!

 

Aufmerksamkeit

Bei Menschen mit einer ADHS und Menschen mit einer ASS ist der präfrontale Cortex weniger ausgebildet als bei „normalen“ und somit auch die situationsangemessene Handlungsplanung und die Regulation emotionaler Prozesse. Ich beschränke mich hier auf die Aufmerksamkeit im Sinne einer Filterstörung. Während Menschen mit einem ADHS von einem Interesse zum nächsten hüpfen – es sei denn, sie sind fasziniert – „hyperfokussieren“ Menschen mit einer ASS auf eine Sache, ein Detail, eine Struktur, eine Regel. Sie haben Spezialinteressen.

Beide Typen von Menschen können aber auch sehr rasch überfordert werden. Die Reaktion von Menschen mit einer ADHS setze ich als bekannt voraus, inklusive impulsiver Handlungen. Menschen mit einer ASS mit ihren Schwierigkeiten im Erfassen und Verstehen der zwischenmenschlichen Kommunikation können dann in einen langen Denkprozess kommen, um etwas logisch verstehen zu wollen. Oder sie können blockiert sein, sich „trotzig“ verweigern, ausgeprägte Stereotypien zeigen, in ein „meltdown“ kommen, einem völligen Zusammenbruch, der wie ein psychotischer Stupor anmutet, oder in einen Gewaltausbruch sich selbst gegenüber (Kopf gegen die Wand schlagen) oder gegenüber Gegenständen (Einrichtung zerstören) geraten.

 

Wahrnehmung

Auch Erwachsene mit einer ASS haben Auffälligkeiten im Bereich der Sinne. Danach muss man sie aber fragen, denn für sie ist es selbstverständlich = normal, dass sie zum Beispiel sehr lärmempfindlich sind oder eine ganz feine Nase haben, wenig Licht sie schon blendet, gewisse Stoffe unerträglich sind, das Essen auf dem Teller voneinander getrennt sein muss, auf keinen Fall zusammenfliessen darf oder sie gar nicht merken was sie essen, oder dieses gewisse Farben nicht haben darf, oder immer gleich sein muss. Letzteres kann auch zu Mangelerscheinungen führen und sollte abgeklärt und bei Bedarf substituiert werden. Einige Beispiele aus meiner Praxis. Eine junge Frau ass über Jahre nur Pizza. Ein junger Mann fühlte sich unwohl. Erst nach langem Nachdenken fand er heraus, dass er fror.

 

ASS und ADHS

Und dann gibt es auch Menschen, die an beidem leiden. Oft wurde die Diagnose eines ADHS bereits in der Jugend gestellt, diese erklärte aber nicht alles, vor allem nicht ein „komisches“, „asoziales“ Verhalten als Erwachsene, das sich im Beruf vor allem dann zeigt, wenn es um Teamarbeit und Betriebsausflüge geht. Vordergründig können diese Menschen sehr kommunikativ wirken, stets in Bewegung, stets am Reden. So wurde ein Patient von mir wegen seiner hohen Fachkompetenz (Spezialinteresse) und seiner Beredsamkeit zum Gruppenleiter befördert, wo er nach kurzer Zeit überfordert war, arbeitsunfähig wurde und dann von der Sozialarbeiterin zu mir zur Abklärung geschickt wurde.

 

Stärken

„Niemand realisiert, dass einige Menschen unglaublich viel Energie aufwenden, um normal zu sein“ (Albert Camus). Das gilt für viele Menschen mit einer ASS. So sein wie die „Normalen“, um jeden Preis dazugehören bis zum Burnout, zum völligen Zusammenbruch. Dabei haben auch sie viele Stärken:

  • Sie sind zuverlässig.
  • Sie sind loyal.
  • Was sie sagen, gilt in der Regel „Wort-wörtlich“.
  • Sie können nur ganz schwer lügen.
  • Sie machen nicht aus emotionalen Gründen Ausnahmen, möchten aber dazugehören und lassen sich über den Tisch ziehen.
  • Sie sind „Fakten-Freaks“, erkennen also rasch Fehler in Mustern.
  • Sie können in gewissen Gebieten ein enormes Wissen und Können haben.

Nur glauben sie selber oft nicht daran oder sehen es als Schwächen. Meiner Meinung nach ist es wichtig, in einem therapeutischen Prozess das Selbstbewusstsein und die Selbstsicherheit für diese Seiten zu stärken, wenn möglich eine Arbeit zu finden, wo diese Stärken gesucht sind und nicht vor allem das Gewicht darauf zu legen, so zu werden wie die „Normalen“.

 
 

ADHS Analog (5) PSYCHOEDUKATION

Ursula Ammann, MAS Supervision und Coaching ZHAW, Studienleiterin icp ADHS Coaching
 

In einer regelmässigen Serie schreibt Ursula Ammann über analoge Methoden, die sich im Therapie- und Coaching-Bereich bewährt haben:

Heute möchte ich nicht über eine konkrete Methode schreiben, sondern über etwas, was oft unterschätzt, aber dringend notwendig ist. In den letzten Monaten ist mir wieder vermehrt aufgefallen, dass viele unserer Patienten kaum eine Ahnung haben, was ADHS eigentlich ist und bedeutet. Wenn wir uns den selektiven Wahrnehmungsstil unserer ADHS Betroffenen vor Augen führen, mag das wenig erstaunen. Umso erstaunlicher ist es, wie viele Fachpersonen dem Bereich Psychoedukation (PE) wenig Bedeutung beimessen, oder dabei auf überladene Fachdarstellungen zurückgreifen, die Patienten eher verwirren als aufklären. Bei unseren Studierenden verlangen wir das Erstellen eines eigenen Psychoedukationsmodelles. Etwas, was wirklich zu dem Therapeuten, dem Coach passt, der das Modell anwendet. Die Präsentation dieser Modelle ist immer ein Highlight in den Vorlesungen. Da kommt geballte Phantasie mit Fachwissen zusammen. Allerdings weisen wir auch da immer darauf hin, dass Psychoedukation nicht eine einmalige Angelegenheit ist, sondern so oft wie nötig (z.B. in Teilschritten) wieder aufgegriffen werden sollte.

Es war für mich ein Schlüsselerlebnis, welches ist in der Folge mehrmals erlebte. Eine Frau mittleren Alters fragte, ob sie ihren neuen Partner einmal mitbringen könnte, damit der nachher wisse, was eigentlich diese ADHS sei. Als wir dann mit ihm Stück für Stück durchgingen, was ADHS ist, wie es sich im Alltag äussert, welche Symptome, Komorbiditäten etc dazu gehören, wurden ihre Augen immer grösser. Erschüttert fragte sie mich, ob das wirklich so sei. Mit all diesen Symptomen würde sie seit Monaten von Arzt zu Arzt rennen. Sie habe befürchtet, sie sei an Demenz erkrankt, habe zusätzlich mindestens Krebs und niemand würde das erkennen.... Neben der bekannten Hypochondrie, zu der viele ADHS Betroffenen neigen (oft eben genau, weil sie die Symptome nicht zuordnen können und sich nicht ernst genommen fühlen), ist es eminent wichtig, dass unsere Patienten immer wieder davon hören, was mit ADHS alles zusammen hängen kann.

Einer meiner Studenten hat im jetzt zu Ende gehenden Ausbildungsgang ein geniales PE Modell für einen achtjährigen Schüler entwickelt, der durch enorme Aggression und fehlende Impulssteuerung auffällt.

(PE-Modell „Äntli-Schuel“ von Daniel Beer)

Mit diesem Modell kann er mittels Leuchtdioden die Probleme der Aufmerksamkeitssteuerung sehr eindrücklich aufzeigen. WIE gut der Klient das Modell verstand, zeigte sich darin, dass er nach der Erklärung kritisch guckte und anfügte, dass sein Coach aber eine ganz wichtig Ablenkungsquelle vergessen habe – die der Mitschüler, die ihn auch stören und provozieren würden.... Und hier kommt auch ein weiterer wichtiger Aspekt dazu: unsere Patienten sollen und dürfen mitdenken und reden. PE muss auf Augenhöhe passieren – wieviel Wertvolles an Wissen und Ergänzung ginge uns verloren, wenn wir nur aus der Ebene „Fachperson-Betroffener“ kommunizieren würden! Nehmen wir die Patienten ernst und fragen nach ihrem Erleben und ihrem Erkennen.

Eine andere Studierende, Ulrike Vogel, erklärt die Reizfilterschwäche mit Kaffeefiltern (sie arbeitet mit Erwachsenen). Dazu verwendet sie zwei handelsübliche Filtersysteme, bei einem lässt sie aber den Innenfilter weg, so dass der Kaffee ungefiltert in das darunter stehende Glasgefäss fliesst. Eine ungeniessbare Suppe. Als sie beim nächsten Termin nachfragte, was ihm denn vom letzten Mal noch so in Erinnerung sei, bestätigte sich, dass so anschauliche Methoden perfekt im Gedächtnis haften bleiben. Wie erklären Sie Ihren Patienten und Klienten, was ADHS ist? Gerne ermuntere ich Sie dazu, kreativ zu werden, Dinge zu suchen, die zu Ihnen und ihren Klienten passen und immer wieder darauf zu achten: Hat das Gegenüber wirklich verstanden, was ich gesagt habe. Die Ablenkbarkeit ist auch bei PE da ;-)

Übrigens: im Ausbildungsgang zum ADHS Coach, der im November beginnt, hat es noch freie Plätze – das Erstellen des eigenen PE Modelles kommt dann garantiert auf Sie zu ☺


 

Achtsamkeit - ein Ansatz für AD(H)S-Betroffene?

Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund

Achtsamkeit bzw. Mindfulness ist in aller Munde. Was verbirgt sich dahinter? Welche Übungen sind hilfreich? Und inwiefern könnte eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis Menschen mit ADS / ADHS das Leben erleichtern? 

 

Die Aufmerksamkeitslenkung bewusst trainieren?

Menschen mit AD(H)S sind häufig dazu in der Lage, sich lange und intensiv zu fokussieren, wenn sie intrinsisch motiviert sind. Zieht ein Fach oder Themengebiet sie an und trifft es ihre Interessen, werden sie oft regelrecht eingesaugt und entwickeln eine erstaunliche Ausdauer. Schwierig wird es, wenn man die Aufmerksamkeit bewusst auf einen Gegenstand lenken muss, der wenig spannend erscheint, oder man zwischen verschiedenen Aufträgen hin- und herschalten muss. 
Wenn AD(H)S-Betroffene ihre Aufmerksamkeitsleistung verbessern möchten, sollten sie lernen:

  • Den Fokus bewusst auf eine einzige Sache zu richten
  • Die Konzentration länger aufrechtzuerhalten
  • Zu registrieren, wenn sich etwas anderes in den Vordergrund drängt oder sie in Tagträume abdriften - und sich erneut auf die ursprüngliche Aufgabe zu fokussieren. 

Es gibt verschiedene Ansätze, um diese Bereiche zu trainieren, beispielsweise Übungen zur Stärkung der exekutiven Kontrolle, Neurofeedback oder Konzentrationstrainings. In diesem Artikel möchten wir Ihnen einen Weg vorstellen, der momentan viel Forschungsinteresse weckt: die Achtsamkeitspraxis.

 

Warum könnte regelmäßige Achtsamkeitspraxis AD(H)S-Betroffenen helfen?

Unter Achtsamkeit versteht man unter anderem eine Meditationstechnik, in deren Zentrum eine wachsame, urteilsfreie und nicht-reaktive Haltung den eigenen Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen gegenüber steht (Kabat-Zinn, 2003). Übungsphasen umfassen beispielsweise stille Sitzmeditationen, Atemübungen, bewusstes, langsames Gehen oder das willentliche Sich-Konzentrieren auf alltägliche Aktivitäten wie Essen oder Zähneputzen.

Das Ziel besteht nicht vorwiegend in der Entspannung – auch wenn diese ein schöner Nebeneffekt ist – sondern vielmehr darin, zu lernen, wie man die eigene Aufmerksamkeit willentlich und bewusst auf den gegenwärtigen Moment ausrichtet, sich für das Hier und Jetzt öffnet und ihm mit einer akzeptierenden Grundhaltung begegnet (vgl. Bishop et al., 2004). Es gilt, sich in der Regulation von Aufmerksamkeit und der emotionalem Empfinden zu üben.

In Programmen zur Stärkung von ADHS-Betroffenen werden vorwiegend zwei Bereiche trainiert: die fokussierte und die rezeptive Aufmerksamkeit (für eine Übersicht siehe Modesto-Lowe und Kollegen, 2015):

Übungen zur fokussierten Aufmerksamkeit zielen darauf ab, sich völlig auf eine bestimmte Körperempfindung oder einen Gedanken einzulassen. Man konzentriert sich beispielsweise ganz auf die Atmung und blendet dabei bewusst alles andere aus. Begeben sich die Gedanken auf Wanderschaft und lösen sich beispielsweise von der Atmung, wird man dazu angehalten, sie wieder zurückzuholen. Dadurch trainiert man, den Fokus auf einer einzigen Sache zu halten, Zerstreuung entgegenzuwirken und nicht in Tagträume abzugleiten.

Übungen zur rezeptiven Aufmerksamkeit halten uns dazu an, unseren Fokus zu öffnen und unsere Körperempfindungen, Gedanken und Gefühle im Hier und Jetzt neugierig wahrzunehmen, ohne direkt darauf zu reagieren. Dadurch soll nicht nur die allgemeine Wachsamkeit trainiert werden, sondern auch die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit gezielt und flexibel zu verlagern. Mit der Zeit soll der Zugang zu den eigenen Empfindungen, Gedanken und Gefühlen verbessert werden und die Fähigkeit sich ausbilden, sich von ungünstigen Reaktionsmustern aus dem Affekt heraus (z.B. Überreagieren bei Wut) innerlich zu distanzieren. Damit leisten diese Übungen einen wesentlichen Beitrag zur Emotionsregulation und Impulskontrolle.

 

Achtsamkeitspraxis und AD(H)S: Was sagt die Forschung?

Cairncross & Miller verfassten 2016 ein metaanalytisches Review, in welches sie die bis dato größten 10 Studien zur Wirksamkeit von achtsamkeitsbasierten Therapieverfahren bei AD(H)S einbezogen. Über alle Studien hinweg zeigte sich ein positiver Einfluss der Achtsamkeitspraxis auf alle Kernsymptome, wobei die Verbesserung der Aufmerksamkeitsleistung etwas größer ausfiel als jene im Bereich der Hyperaktivität / Impulsivität.

Auch Schmiedeler (2015) sowie Evans und Kollegen (2018) weisen in ihren Überblicksartikeln darauf hin, dass es mittlerweile einige Studien gibt, die die Wirksamkeit von Achtsamkeitsübungen bei Kindern mit AD(H)S und ihren Eltern belegen, dass aber qualitativ bessere Untersuchungen nötig sind, um einen definitiven und glaubwürdigen Nachweis zu erbringen.

Die Forschung zur Achtsamkeitspraxis bei AD(H)S steckt also noch in den Kinderschuhen. Erste Befunde deuten darauf hin, dass es sich um einen vielversprechenden Ansatz handelt. Wir dürfen gespannt sein, was die Wissenschaft in den nächsten Jahren noch zutage fördern wird.

 

Achtsamkeitsübungen

Haben Sie Lust, sich ein wenig in Achtsamkeit zu trainieren? Vielleicht gemeinsam mit Ihrem Kind? Im Folgenden lernen Sie einige Übungen kennen.

 

Fokus auf eine alltägliche Tätigkeit

Es fällt uns immer schwerer, nur eine Sache auf einmal zu tun: Wir essen vor dem Fernseher, lesen oder hören Musik, während wir einen Kaffee trinken oder nehmen sofort das Smartphone zur Hand, wenn wir zwei, drei Minuten warten müssten. Eine Studie von Killingsworth und Gilbert (2010) belegt, dass Menschen fast 50 % ihrer ganzen Zeit gedanklich nicht bei dem sind, was sie eigentlich gerade tun, und dass dieses Unachtsamsein sie unzufrieden macht. Wenn wir lernen möchten, unsere Aufmerksamkeit bewusst auf das Hier und Jetzt zu lenken, können wir dies tun, indem wir uns auf eine einzige Tätigkeit konzentrieren.

 

Widmen Sie sich voll und ganz einer Tätigkeit

Setzen Sie sich hin und trinken Sie ein Getränk, das Sie gerne mögen. Fokussieren Sie sich ganz auf den Geschmack und die Empfindungen, die dadurch in Ihnen ausgelöst werden. Wie riecht der Tee oder Kaffee? Wo spüren Sie den Geschmack? Welche Geschmacksnoten können Sie herausschmecken? Falls Sie ein kohlesäurehaltiges Getränk zu sich nehmen: Wie fühlt sich das ganz genau an? Auf der Zunge? Im Hals? Falls Sie ein warmes Getränk gewählt haben: Wo können Sie die Wärme wahrnehmen? Nur im Mund oder auch im Hals?

Wenn Sie diese Übung machen, werden Sie auf der einen Seite registrieren, dass Sie diese Tätigkeit verstärkt genießen können und sich ihre Wahrnehmung erweitert. Sie werden aber wahrscheinlich auch bemerken, wie schwierig es ist, ganz im Hier und Jetzt und bei einer einzigen Sache zu bleiben. Sie werden sich immer wieder dabei ertappen, wie Ihre Gedanken abdriften. Registrieren Sie das einfach, ohne es zu werten – und widmen Sie sich dann wieder bewusst der einen Sache, auf die Sie sich fokussieren möchten.

Wenn Sie Aufgaben dieses Typs häufiger durchführen, werden Sie auch bei anderen Tätigkeiten mit der Zeit besser registrieren, ob Sie abdriften.

Die Übungen müssen nicht lange dauern, sollten aber häufig durchgeführt werden: Beispielsweise ein bis zweimal pro Tag für zwei bis drei Minuten. Sie können fast jede Tätigkeit dazu nutzen: Essen, Trinken, Zähne putzen, das Geschirr spülen etc.

 

Nehmen Sie sich beim Warten ein wenig Zeit für sich

Im Alltag gibt es immer wieder Momente des Wartens: Wir stehen an der Bushaltestelle, in der Schlange an der Kasse – und haben meist Lust, uns sofort zu beschäftigen. 
Sie können diese Momente nutzen, um sich in Achtsamkeit zu üben. Nehmen Sie dazu wahr, wie Sie sich fühlen: Sind Sie entspannt und zufrieden? Oder gelangweilt, verärgert oder gestresst? Versuchen Sie das Gefühl oder den Mix aus Gefühlen genauer zu erkunden. Wie fühlt sich Langeweile oder Stress körperlich an? Scannen Sie offen und neugierig Ihren Körper: Gibt es Stellen, die angespannt sind?

Wenn Sie möchten, können Sie zum Ende der Übung diese Stellen bewusst entspannen.

ADHS Aktuell

 
Editorial
 

Im aktuellen Newsletter stehen Jugendliche/junge Erwachsene mit ADHS im Zentrum.

Dr. Roland Kägi zeigt auf, dass die für dieses Alterssegment zur Verfügung stehenden Ressourcen viel zu knapp sind und schildert, welche Erfahrungen er als Pädiater in seiner Praxis mit dem Ausbau des Angebots für Adoleszente und junge Erwachsene gemacht hat.

Welche Therapiehindernisse bei betroffenen Jugendlichen häufig anzutreffen sind und wie diese überwunden werden können, beschreibt Isolde Schaffter-Wieland gestützt auf Aussagen von ADHS-Spezialisten und ratsuchenden Eltern.

Bereits in der Jugend kann die Prokrastination ein wichtiges Thema werden. Was hinter der «Aufschieberitis» steht und welche Strategien hilfreich sind, vermittelt der Beitrag der Lerntherapeutin Susanne Hirsig.

Ursula Ammann widmet sich in ihrem neuesten Beitrag «ADHS Analog» dem «Online Coaching» – das aktuell besonders gefragt ist. Anschaulich zeigt sie die Voraussetzungen, Chancen und Risiken dieser Begleitungsform auf, die sie bereits vor einigen Jahren interessierte.

In Verbindung mit der Doppeldiagnose ADHS ist ASS ebenfalls ein spannendes Thema: Wir stellen aus diesem Grund die 2. aktualisierte Auflage des Buchs «Autismus verstehen - Aussen- und Innensichten» von Georg Theunissen (Hrsg.) vor.

Die SFG ADHS freut sich über Rückmeldungen und hofft, dass der Aufruf von Dr. Roland Kägi auf ein breites Echo stösst.

 

Herzliche Grüsse,
 

Isolde Schaffter-Wieland und Felicitas Furrer

 

Ist die Betreuung von Kindern, Adoleszenten und jungen Erwachsenen in altersübergreifender psychotherapeutischer Praxis möglich?

Dr. med. Roland Kägi, Kinderarzt FMH, Vorstandsmitglied SFG ADHS

 
Am 3. September 2016 hatte ich anlässlich der SFG ADHS Jahrestagung auf der Barmelweid eine einschneidende Begegnung, welche die Entwicklung meiner Praxis danach massgebend beeinflusste. Die Leiterin einer Wohnstation erzählte von ihren sozial, familiär und ausbildungsmässig gestrandeten Jugendlichen. Und sie weckte damit mein Interesse, dieses Thema anzupacken.

Seit 2003 bildete ich mich in kinderpsychologischen, familientherapeutischen und kinderpsychiatrischen Themen weiter und blieb beim häufigsten Störungsbild ADHS hängen. In vielen Fortbildungen kam ich dieser Thematik näher und hoffte stets, in der nächsten das “Betty Bossi”- Generalrezept für die ADHS-Diagnostik und Therapie zu finden. Weit gefehlt! Selbst nach 15 Jahren erfahre ich in der täglichen Arbeit und an jeder Fortbildung wieder etwas Neues zur “Dimension” ADHS. Vielen Dank spreche ich dafür an dieser Stelle meinem grossen Vorbild und Lehrer, dem Pädiater und Schweizer ADHS-Pionier Dr. med. Meinrad Ryffel, aus!
Mit der Schaffung der kinderpsychologischen Sprechstunde mit Schwerpunkt ADHS-Diagnostik und ADHS-Therapie konnten sich auch meine Pädiatrie-Klienten mit ihren nicht-somatischen Problemen melden – Schulpsychologen und andere Kinderärzte begannen mir Fälle zuzuweisen. Neben meiner pädiatrischen Grundversorgersprechstunde führte ich ADHS-Abklärungen und ADHS-Behandlungen durch – vereinzelte Fälle musste ich an externe Spezialisten weiterweisen.

Als Pädiater mit Fachausweis delegierte Psychotherapie FMPP, stellte ich bereits früh einen Kinderpsychotherapeuten ein. Bald kam ein zweiter Psychotherapeut hinzu – mit dem Ziel, die Kinder und deren Systeme Familie und Schule umfassend zu betreuen und zu beraten. In der Folge wuchs dieses Team auf 8 delegierte Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten an. Neben dem Schwerpunkt ADHS können wir aktuell die meisten kinderpsychologischen und familientherapeutischen Fragestellungen betreuen, inklusive der häufigsten ADHS-Komorbiditäten wie Depressionen, Ängste und Zwänge. Wir behandeln auch ADHS-Betroffene mit ASS-Tendenzen, da ADHS und ASS ja bekanntlich eine grosse gemeinsame Teilmenge an Symptomen und Problemen aufweisen.

Ich erkannte schon früh, dass die kinderärztliche Somatik-Sprechstunde und extensive kinderpsychologische Tätigkeit in denselben Räumen, mit derselben Infrastruktur und demselben nichtspezialisierten Personal (wie MPA/Reception/Administration), nicht einfach unter einen Hut zu bringen sind. So erhielt unsere Psychologieabteilung 2010 von der Pädiatrie getrennte Räumlichkeiten mit spezialisiertem Personal und teilweise getrennter Infrastruktur.
 
Unsere kinderpsychologische Sprechstunde wuchs und wuchs. Inzwischen war ich zu 70% kinderpsychologisch tätig – und unsere Klienten kamen in ein Alter, in dem sie normalerweise vom Pädiater zum Hausarzt wechseln. Fazit: Neuzugänge ab 17 Jahren lehnten wir als pädiatrische Praxis ab und verwiesen auf Erwachsenenpsychiater und Erwachsenen-Psychotherapeuten. Eigene Klienten wiesen wir im Alter von 18 Jahren an Erwachsenenspezialisten weiter. In beiden Fällen meldeten sich die meisten ab- oder weitergewiesenen Klienten jedoch in Kürze wieder. Einerseits weil die zuständigen Fachpersonen junge Erwachsene erst ab 20/22 nehmen oder es für diese Altersgruppe nur unbefriedigende Anlaufstellen gibt. Deshalb nahmen wir die einst von mir betreuten Klienten meist erneut auf. Hatten Adoleszente Mühe, in unserem Wartezimmer mit Babies zu warten, versuchten wir solche Wartezeiten zu vermeiden. Neue Klienten mit Diagnostik- oder Therapiebedarf blieben von unserer Seite her allerdings auf sich gestellt.
 
 

Mein Umbruch – Pädiater in der psychologischen Betreuung junger Erwachsener

 

Es war diese einschneidende Begegnung an der SFG ADS-Jahrestagung 2016, welche mich zu einer wichtigen Veränderung meiner Praxis motivierte:
Die Leiterin einer Wohnstation für Jugendliche (häufig ohne Lehr- oder Arbeitsstelle) erzählte mir und Prof. Dominique Eich, dass die  betreuten Jugendlichen oft einen medizinisch-psychologischen Diagnostikbedarf hätten und falls eine Diagnose bestünde,  es meistens am geeigneten Therapieplatz fehle. Es fehle in dieser Altersklasse    überregional an Diagnostik- und Therapiestellen. Und das Schwierigste sei, dass ihre adoleszenten Schützlinge von Pädiatern und Erwachsenenmedizinern nicht nur abgewiesen, sondern auch hin- und hergeschoben würden.

Frau Prof. Eich und ich nahmen uns als Vorstandmitglieder der SFG ADHS diesen Input zu Herzen und thematisierten ihn an unseren Vorstandssitzungen. Anlässlich des Psychiatriekongresses 2018 in Bern präsentierte ich im Auftrag der SFG ADHS einen Workshop mit dem Thema ADHS- Diagnostik und Therapie von Adoleszenten und jungen Erwachsenen in Kinder- und Erwachsenenpraxen und stiess damit auf grosses Interesse.

2018 entschied ich, meinen kinder- und jugendpsychologischen Betrieb administrativ und örtlich völlig von meiner Pädiatriepraxis zu trennen: Mit dem Umzug plante ich zudem, das Alterssegment der 15- bis 25-Jährigen zu berücksichtigen und gründete einen psychotherapeutischen Betrieb mit dem Leistungsauftrag der psychologischen Diagnostik und Therapie von Kindern und Jugendlichen (nach wie vor mit Schwerpunkt ADHS). Und dies bis zum Abschluss der ersten Berufsausbildung, d.h. mit einem zeitlichen Altershorizont der Klienten von maximal 25 Jahren. Mit minimen Anschaffungen von Fragebogen, Inventar und Testmaterial konnten wir diese Angebotsausweitung verwirklichen.

 

Unsere Erfahrungen mit jungen Erwachsenen 

 

Aktuell klären wir junge Erwachsen bis zum Alter von 22/23 Jahren ab. Probleme mit den Versicherern haben wir als pädiatrischer Leistungserbringer bislang keine bekommen.
Wir machen durchaus positive Erfahrungen mit unseren Klienten aus dem neuen Alterssegment und unser Horizont hat sich erweitert, speziell auch was die Transition vom Adoleszenten zum jungen Erwachsenen in der Berufswelt und im Privatleben betrifft. Wir profitieren von diesen neuen Erfahrungen in der Beratung von Familien mit jüngeren Kindern und in der Beratung der jüngeren Adoleszenten bezüglich Chancen und Stolpersteinen in der Zukunft.
Wir sind auf viele unserer jungen erwachsenen Klienten stolz, einige von ihnen haben wir bereits erfolgreich zum Ausbildungsabschluss begleitet. So zum Beispiel Kevin, der mit 26 und einem Masterabschluss der ETH in Informatik, einer Green Card und einem Business Class Ticket in der Hand in die USA geflogen ist, um dort für Microsoft zu arbeiten. Aber auch unzählige weniger spektakuläre Erfolge motivieren uns weiter, die jungen Erwachsenen auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben zu begleiten. Gewisse schwierige Fälle (beispielsweise mit Delinquenz oder Substanzkonsum), müssen wir jedoch an spezialisierte Erwachsenenmediziner oder Institutionen weiterweisen.

 

Aufruf

 

Die für das Alterssegment der Adoleszenten und jungen Erwachsenen zur Verfügung stehenden Ressourcen sind aktuell viel zu knapp.
Ich bitte deshalb kinderpsychiatrische, pädiatrische, erwachsenenpsychiatrische und darin erfahrene allgemeinmedizinische Leistungserbringer eindringlich, ihr Angebot aufgrund der oben dargelegten Sachlage für Adoleszente und junge Erwachsene zu erweitern.

 

Diese Generation ist ein wichtiger Teil der Zukunft unserer Gesellschaft. Und sie verdient die dringend notwendige Unterstützung, weil sie uns allen zu Gute kommen wird!

 

Ich bin sehr gespannt auf Feedbacks von Erwachsenen-Medizinern mit ihrem adoleszenten Klientel sowie im jungen Erwachsenenalter.

Infos zum Thema: elpost Nr. 70 Frühling 2020

 

Null Bock auf Medikation und Psychogedöns…

Wenn Jugendliche mit ADHS erwachsen werden

Isolde Schaffter-Wieland, ADHS Coach icp, Beraterin elpos Zürich, Glarus, Schaffhausen, Vorstandsmitglied SFG ADHS

 

Auf den elpos Fachstellen werden die Beraterinnen oft von verzweifelten Eltern kontaktiert, die in der jahrelangen Begleitung ihrer adoleszenten oder bereits volljährigen Kinder an fast unüberwindbare Grenzen stossen. Sie werden mit einem therapie- und medikationsmüden Sohn oder einer Tochter konfrontiert, die den nachvollziehbaren Wunsch nach Normalität und Selbständigkeit haben. Ihren Eltern gegenüber zeigen sie oft ein ablehnendes, impulsives und emotional negatives Verhalten. Die Sorge um das flügge werdende Kind wird bei den Eltern zudem dominiert von der Angst, ob es den Schritt in die Berufswelt oder die höhere Ausbildung schafft.

Auf ADHS-spezialisierte Fachperson wissen, dass für Betroffene und ihr familiäres Umfeld die wichtige Phase dieser Abnabelung zum Alptraum werden kann. Denn was, wenn die Medikation oder Therapie verweigert wird und die Selbstmedikation mit Cannabis «natürlicher» erscheint? In der heiklen Phase der Berufsfindung oder während der Lehre führt Substanzmissbrauch nicht selten zum Desaster. Hinzu kommt, dass die Suche nach einem Psychologen oder Psychiater für Erwachsene einerseits langwierig und andererseits immer wieder mal am Alter des Jugendlichen scheitert, wie unser SFG ADHS-Vorstandsmitglied Dr. Roland Kägi dies in seinem Artikel treffend beschreibt. Denn irgendwann naht der Moment, wo der Pädiater nicht mehr für seinen jungen Patienten zuständig sein kann. «Für die Therapieplanung in der Adoleszenz ist die aktive Unterstützung der Eltern, zumindest aber die grundsätzliche Akzeptanz der Notwendigkeit einer multimodalen Therapie weiterhin von höchster Wichtigkeit.» Dies betont unser geschätztes Mitglied Dr. med. Oliver Bilke-Hentsch MBA, Chefarzt, Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst Luzerner Psychiatrie (LUPS), in seiner Broschüre «Jugendliche mit ADHS in der Arztpraxis – der schwierige Patient?». Diese entstand 2014 in einer interdisziplinären Zusammenarbeit für Eli Lilly Suisse. Wir zitieren in der Folge teilweise aus dieser Publikation.

Vom Kind zum Jugendlichen

«Mit Entwicklung der Fähigkeit zum abstrakten Denken beginnen Jugendliche, die bisherigen therapeutischen Aktivitäten und Rollverteilungen zu hinterfragen.» Während sie im Kindesalter diese Massnahmen als gegeben befolgten, ändert sich diese Einstellung bereits in der Frühpubertät. Dr. Oliver Bilke-Hentsch erklärt, dass es ein Dilemma sei, wenn sich Kinder schnell an die positive Wirkung der ADHS-Medikation gewöhnen und die daraus resultierenden positiven Effekte kaum noch differenziert wahrnehmen können. Dies im Gegensatz zum Familiensystem, das sich sehr gut daran erinnert, wie es zuvor «ohne» war.... Die Ablehnung einer Therapie kann für den/die Jugendliche/n eine Möglichkeit sein, sich eine soziale Rolle gegenüber den Eltern zuzuschreiben. «Es gilt also mit dem Patienten gemeinsam den individuellen Primär- und Sekundärnutzen transparent zu erarbeiten. So hilft dem Patienten eine Identifikation mit seiner Therapie (sog. Informed consent) insbesondere bei Krisenzeiten oder wenn die Peers kritisch nachfragen.»

In der Folge kommt es in der Adoleszenz zu folgenden Therapiehindernissen:

  • Entwicklung der Leistungen (Leistungsknick)
  • Erhöhte Impulsivität
  • Hypomaniformes «sensation and novelty seeking»
  • Erheblicher Rückzug
  • Geringe Motivation zur Verhaltensmodifikation oder Abstinenz
  • Reduktion bestehender psychischer Symptome durch Drogenkonsum
  • Vernachlässigung früherer Freunde und Hobbys
  • Virtuelle Netzwerke und Spiele als zentraler Lebensinhalt
  • Narzisstische Selbstwertkrisen
  • Mangelnde bzw. abwesende Krankheitseinsicht

Therapie und/oder Coaching

«Sicher geh’ ich nicht zum Psychiater, ich bin doch kein Psycho!» oder «soll ich mir schon wieder anhören, was in meinem Kopf nicht richtig ist und Pillen schlucken, lasst mich doch einfach mal in Ruhe. Ich schaff’ das allein…». Dies sind Aussagen, die Eltern immer wieder zu hören bekommen. Angesichts dieses Widerstandes geraten sie selbst zunehmend in eine Überforderung. In ihrer Not suchen sie häufig Hilfe bei elpos. Die Beraterinnen versuchen, die negative Beziehungsspirale im lösungsorientieren Gespräch zu unterbrechen. Nach eruieren der Bedürfnisse und Familienstruktur wird eine medizinische oder therapeutische Fachperson gesucht, die zum Jugendlichen passen könnte. Gleichzeitig motivieren wir – im Sinne der Selbsthilfe und Stärkung – die Mutter oder den Vater zum Austausch mit anderen betroffenen Eltern. In Zürich findet die Gesprächsgruppe für Eltern von Jugendlichen einen grossen Zuspruch. Wenn der/die Jugendliche zudem bereit ist, an einem Beratungsgespräch teilzunehmen, kann oft einiges in Bewegung gebracht werden, weil erst im geschützten (nicht wertenden) Raum ein Dialog auf Augenhöhe und bedürfnisfokussiert möglich ist. Eine verstehende Haltung öffnet häufig den Weg, dass der/die adoleszente Betroffene bereit ist, selbstbestimmend Hilfe anzunehmen und zu entscheiden, wie diese aussehen soll. Manchmal führt er zuerst über ein spezifisches ADHS-Coaching, weil es für den jungen Menschen weniger nach medizinischer Indikation klingt – und sich daraus eine Compliance für die (falls nötig) therapeutische Begleitung entwickeln kann. In dieser Hinsicht kann der Coach zum wertvollen Bindeglied in der multimodalen Behandlung werden.

Empowerment und Compliance

 «Es bedarf bei vielen Patienten einer klaren und durch eine bestimmte Szenerie auch äusserlich deutlich werdenden Zäsur zwischen Kindheit und Jugend.» Besonders bewährt hat sich für die gute Arzt-Patienten-Beziehung in der Adoleszenz die Anwendung der sogenannten motivierenden Gesprächsführung (Motivational Interviewing). Mit dieser Technik (weltweit durch evidenzbasierte Studien belegt) können dem jungen Erwachsenen sofortige positive Erlebnisse vermittelt werden, was besonders wichtig ist. Dass der Patient in der späteren Phase (ab 17 Jahren) eine Therapie eingeht, setzt voraus, dass er vollumfänglich informiert und auch entscheidungsfähig ist. Im Vordergrund steht deshalb das sogenannte Empowerment, das ihn in der Folge zu eigenständigen Entscheidungen ermächtigt. «Eine Selbstmanagement-Therapie (Steuerung, Psychoedukation) ist zentral, damit eine kognitive Umstrukturierung sowie eine Verhaltensmodifikation ermöglicht werden.»

In ihrem sehr empfehlenswerten Expertenratgeber «Jugendliche und junge Erwachsene mit AD(H)S schreibt die renommierte Fachpsychologin, Heilpädagogin, Referentin und Autorin Cordula Neuhaus: «Der Jugendliche muss sich ernst genommen und verstanden fühlen, um sich überhaupt ins therapeutische Setting einlassen zu können. Tonfall, Mimik und Gestik des Therapeuten sind entscheidend…». Sie betont ausserdem, dass der Jugendliche vor allen Dingen die Selbststeuerung erlernen muss. Strategien, um Problemsituationen besser bewältigen zu können (oft gelingt dies erfahrungsgemäss allerdings besser in Kombination mit einer medikamentösen Unterstützung). Cordula Neuhaus hält weiter fest, dass eine Behandlung des Jugendlichen mit ADHS grundsätzlich unter verhaltenstherapeutischen Prämissen erfolgen muss. Diese orientiert sich unter anderem am Wahrnehmungsstil, an der aktuellen Konfliktbewältigung und dem konkreten Alltagserleben des Betroffenen und seiner Eltern.

Dr. Oliver Bilke-Hentsch, der von 2012 bis 2019 Chefarzt und Co-Geschäftsführer Modellstation SOMOSA, Winterthur war, sieht es als eine anspruchsvolle Aufgabe des Therapeuten, den «Jungerwachsenen» zu begleiten und seine neue Autonomie in ein realistisches, aber nicht demotivierendes Verhältnis zu den «alten» Symptomen zu setzen.

Grundsätze der Arbeit mit adoleszenten und jungen Erwachsenen

  • Lebensweltnahe Beratung
  • Realistische Therapieplanung an pragmatischen Zielen
  • Peer-Gruppen-Bezug
  • Einbezug des romantischen Partners
  • Vorbildfunktion qua Alter, Funktion und prosozialer Orientierung
  • Salutogenetischer und ressourcenorientierter Grundsatz
  • Kenntnis des gesellschaftlichen und medialen Wandels
  • Hilfe bei psycho-sozialen Übergängen und Transitionsphasen

Für eine solche Therapie braucht der Betroffene einen langen Atem, die Überzeugung es für sich selbst zu tun und einen Arzt, Psychologen, Sozialpädagogen oder Coach, der ihn motiviert und gelassen begleitet. Dr. Bilke-Hentsch: «Den hilfreichen und erfolgreichen Arzt und Therapeuten für Patienten dieser Altersphase zeichnen Bescheidenheit und Zähigkeit aus.»

Es ist zu hoffen, dass Dr. Roland Kägis Aufruf in diesem Newsletter nicht ungehört verhallt und sich in naher Zukunft möglichst viele auf ADHS-spezialisierte Mediziner, Psychiater und Psychologen für Betroffene in dieser enorm wichtigen Lebensphase einsetzen werden.



Lernen?! – Später!

Susanne Hirsig, dipl. Heilpädagogin MA, zertifizierter Lerncoach/Lerntherapeutin

 

Müllzeit tauschen gegen Lernzeit! Das ist das erste, was ich im Buch «Vom Aufschieber zum Lernprofi» von Fabian Grolimund gelesen habe und ich sofort mit meiner bestehenden Arbeit mit ADHS-Kindern und -Jugendlichen verbinden und Anknüpfungspunkte zur Theorie herstellen konnte (vgl. Grolimund, 2018). Deshalb ist es mir ein grosses Anliegen, aus meiner Praxis zu berichten, um allenfalls den einen oder anderen Gedankenanstoss und Tipp mit auf den Weg geben zu können.

Das Phänomen «Aufschieben» führt zu «Müllzeit»

Was bedeutet diese fürs Lernen so wichtige Müllzeit? Die Müllzeit symbolisiert die Zeit, die weder zur Freizeit, noch zur Arbeitszeit gehört; in der man sich weder erholt fühlt, noch vorangekommen ist. Es ist diese Zeit, die am Abend den Gedanken: «Was verflixt, habe ich heute auch nur gemacht?» aufkommen lässt. Sie verkeilt auf ungesunde Art und Weise die Lern- und die Freizeit miteinander und hinterlässt ein ungutes Gefühl in einem. Um dieses schlechte Gefühl während dem Lernen zu umgehen, muss man ein gutes Gefühl aufkommen lassen. Dies hält gesund und befähigt uns zum Lernen.

Die Salutogenese steht eng in Verbindung zum Lernen

Was benötigt man denn genau, um gesund zu bleiben?

Aaron Antonovsky spricht in seiner Salutogenese von einem Kohärenzgefühl, das drei verschiedene Kompetenzbereiche vereint. Dies sind die Verstehbarkeit, die Handhabbarkeit und die Bedeutsamkeit. Je mehr von allen drei Bereichen in Bezug auf das zu Erlernende vorhanden ist, umso gesünder ist man. Ich habe versucht, dieses theoretische Schema aus der Gesundheitsforschung auf die Pädagogik zu übertragen und die Begrifflichkeiten einander gegenüberzustellen. Dabei ist folgende Zuteilung entstanden:
 
 

       «Kohärenzgefühl» von Antonovsky (1997) nach Hirsig (2019)

 

Diese Gegenüberstellung ist folgendermassen zu verstehen:

  • Versteht man was man lernt, ist man konzentriert bzw. die Bereitschaft zur Konzentration ist vorhanden.
  • Kann man das zu Erlernende selber in die Hände nehmen und managen, ist die Basis für die Selbstwirksamkeit gelegt.
  • Ist der Lerninhalt bedeutsam, so ist die Motivation garantiert.

Gerade letzterer Punkt ist für ADHS-betroffene Kinder und -Jugendliche von zentraler Wichtigkeit.

Es macht nun folgerichtig Sinn, die Ausgangslage der Müllzeit mit der theoretischen Basis der Gesundheit zu vereinen. Für ADHS-Kinder und -Jugendliche bedeutet dies die Förderung zweier Bereiche – die des Stirnhirns und die der Amygdala, wie nachfolgend erläutert:

Stirnhirn

Amygdala

Die Unterstützung des Stirnhirns durch die Ermöglichung und Aufrechterhaltung der Konzentration und Selbstwirksamkeit.

Die Regulierung der Emotionalität durch die Motivationsförderung.

 

Das Hirn führt einen ewigen Kampf der Giganten

Warum ist die Förderung dieser beiden Bereiche des Stirnhirns und der Amygdala so zentral? Das Gehirn eines ADHS-Betroffenen steht in einem ewigen Kampf zwischen diesen zwei Gehirnarealen. Das Stirnhirn, das alles geregelt und strukturiert haben will, steht der Amygdala, die im lymbischen System angesiedelt ist, gegenüber. Gerade die Amygdala führt zu Störungen im geordneten Hirn- und Lernablauf. Bei Jugendlichen kommt die Schwierigkeit hinzu, dass die Entwicklung des Stirnhirns nicht abgeschlossen ist – Konflikte mit der Umwelt sind die Folge. Wen wundert’s, weshalb das Aufschiebesyndrom typisch für ADHS-Kinder und -Jugendliche und übrigens auch Erwachsene ist.

 

«Kampf der Giganten» von Gyseler (2015)

 

Mit den richtigen Strategien dem Aufschieben ein Ende bereiten

Was heisst das nun für den praktischen Alltag und die Schule? Es gibt viele unterschiedliche und nützliche Tipps im Umgang mit dem Aufschieben. Nachfolgend stelle ich die aus eigener Erfahrung in der Praxis wirkungsvollsten Strategien vor. Viele dieser Inputs sind angelehnt an Fabian Grolimund. Zur Vereinfachung und auch als Checkliste dienend, zähle ich diese als einzelne Punkte auf. Dabei unterscheide ich zwischen den zwei wesentlichen Bereichen – der Strukturierung des Stirnhirns und der Zufriedenstellung der Amygdala:

Strategien für das Stirnhirn

Strategien für die Amygdala

Arbeitszeit- und Freizeitplanung durch die Erarbeitung eines Wochenplans

Beachtung des eigenen Biorhythmus währen des Planens

Einplanung von kurzen und effizienten Arbeitsfenstern

Einplanung von kurzen und effizienten Arbeitsfenstern

Einplanung von limitierten Pausen 

Einplanung von limitierten Pausen 

Setzen von kleinen, realistischen

(Tages-)zielen

Nur kurz anfangen ist besser als gar nicht anfangen – schrittweises Vorgehen

Würdigen kleiner Fortschritte

Schreiben einer «Have-done-Liste» anstatt einer «To-do-Liste»

Positives Wunschträumen ersetzen durch die Auseinandersetzung mit den Widrigkeiten (was macht die «next steps» so schwierig und wie kann ich sie angehen)

Positives Wunschträumen ersetzen durch die Auseinandersetzung mit den Widrigkeiten (was macht die «next steps» so schwierig und wie kann ich sie angehen)

 
 
 

«Wochenplanerarbeitung» von Hirsig (2019)

Quelle: Susanne Hirsig hat diesen Artikel für die elpost Ausgabe 68 im Sommer 2019 verfasst (S. 23), die dem Thema Prokastrination gewidmet war.

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Literarturliste

  • Grolimund, F. (2016). Erfolgreich lernen mit ADHS. Der praktische Ratgeber für Eltern. Bern: Hogrefe Taschenbuch.
  • Grolimund, F. (2018). Vom Aufschieber zum Lernprofi. Bessere Noten, weniger Stress, mehr Freizeit. Wien: Herder Taschenbuch.
  • Gysler, D. (2015). Kinder mit Schulproblemen. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse und Folgen für die Praxis. Olten: Vortrag.
  • Jürries, A. (2004). Anpacken statt aufschieben. Das Trainingsbuch. Zürich: Haufe Taschenbuch.
  • Storch, J. & Weber, J. (2013). Wolf packt La(h)ma. Wie Sie Dinge zügig anpacken und konsequent erledigen. Bern: Huber.

Literarturempfehlung

  • Grolimund, F. (2018). Vom Aufschieber zum Lernprofi. Bessere Noten, weniger Stress, mehr Freizeit. Wien: Herder Taschenbuch.

 

ADHS Analog

In unserer Serie schreibt Ursula Ammann, MAS Supervision und Coaching ZHAW und Studienleiterin icp über analoge Methoden, die sich im Therapie- und Coachingbereich bewährt haben.

 

Online-Coaching – mit Jugendlichen und Erwachsenen

Wer hätte im Januar 2012 daran gedacht, wie aktuell dieses Thema einmal werden könnte. Damals habe ich im Rahmen (meines reichlich verspäteten Masterstudiums) mit zwei Kollegen eine Sequenz zum Online-Coaching erarbeitet. Das Thema stiess auf grosses Interesse – so zu arbeiten, konnte sich noch niemand vorstellen. In der Literatur gab es gerade mal zwei Fachbücher dazu, inzwischen sind es tausende… Und nun hat uns Corona erreicht und viele von uns mussten neue Wege suchen. Zurzeit (und teilweise bereits zuvor) finden alle unsere Praxis-Gespräche sowie die Vorlesungen unseres Institutes in dieser Form statt. Beim aktuellen ADHS Analog beschränke ich mich auf visuelles Online-Coaching per Zoom oder ähnliche Plattformen. Im Wissen, dass diese Form nur eine von sehr vielen ist und es noch viel mehr darüber zu sagen und schreiben gäbe, vermittle ich hier einen kleinen Einblick in ein sehr weites Feld (Psychotherapeuten empfehle ich den ersten, der am Schluss aufgeführten Links).

Voraussetzungen fürs Online-Coaching

  • Stabile Internet-Verbindung mit guter Datenleistung
  • Eher mittels Computer als mit dem Handy
  • Auch beim Online-Termin ist es gut, wenn man einander sieht.
    > Achtung: Klienten können sich sehr herausgefordert fühlen, wenn das Gegenüber einen Einblick in ihre private Situation erhält. Zoom (und andere) bieten hier die Möglichkeit eines virtuellen Hintergrundes.
  • Anbieter prüfen: HIN bietet für IV und Ärzte gut verschlüsselte Möglichkeiten. Wir arbeiten mit Zoom im Wissen, dass dies – wie viele andere auch – nicht ganz sicher ist.
  • Gratisprogramme haben nur einen beschränkten Zugang: Wird ein Gespräch nach 40 Minuten beendet, kann das herausfordernd sein ;-).
  • Technikaffinität oder die Bereitschaft, sich in die Möglichkeiten des Programms ein zu arbeiten und diese auch wirklich zu nutzen. In den meisten Programmen lassen sich Dokumente und Bilder problemlos teilen, was sehr hilfreich ist, wenn man zusammen an Projekten oder Hausaufgaben arbeitet.
  • Bei Online-Sitzungen mit mehreren Personen: Unbedingt darauf achten, dass sich diese alle in unterschiedlichen Räumen befinden, da es sonst zu üblen Rückkoppelungen kommt.
  • Zu beachten: Während im Zweiersetting schnell geklärt werden kann, dass es Sinn macht, sich in dieser Form zu sehen, können TL von Gruppen und Vorlesungen nicht verpflichtet werden via Bildschaltung teilzunehmen (dies wissen viele nicht, teilweise nicht einmal die Unis ).
  • Akustik: Ältere Computer haben oft störende Lüftungsgeräusche, die dem Benutzer selbst nicht bewusst sind, aber die Kommunikation (vor allem bei Gruppen) sehr erschweren können.
  • Hilfreich: Parallel im Gespräch mit Telegramm oder Whatsapp zu arbeiten, da damit auch zeitnah ein Bild zur Visualisierung geschickt werden kann. (Wenn jemand beispielsweise das Mikrofon zum Einstellen nicht findet, sende ich jeweils schnell ein Bild von meinem Bildschirm, wo es sich befindet.)
  • Erfahrung, nicht nur im Umgang mit der Technik: Der Coach sollte zudem in der Anwendung verschiedenster Coachingskills versiert sein und über ein hohes emotionales Gespür verfügen.

Besonderheiten des Online-Coachings

Online-Gespräche machen schneller müde und sind teilweise auch in der Thematik begrenzt. Weniger ist im Online-Coaching – genau wie in den Vorlesungen oder im Schulunterricht – definitiv mehr. Gerade Jugendliche sind von einer Stunde oft überfordert – hier bringt es mehr, 30 Minuten zielgerichtet zu arbeiten oder zu sprechen und dafür die Häufigkeit der Gespräche zu erhöhen.

In Bezug auf die vertrauliche Thematik ist zu beachten, dass der Coachee sich in einem sicheren Raum befindet. Eine PC-Station mitten im Wohnzimmer ist nicht ideal. Ebenfalls nicht, wenn das Gespräch durch dünne Wände zu hören ist. Gemäss meiner Erfahrung macht es Sinn, den Klienten immer wieder darauf hin zu weisen, ob bei diesem Thema gerade niemand zuhören kann.

Generell empfehle ich, nicht nur die technischen Möglichkeiten vorgängig gut auszuprobieren, sondern auch für sich selbst einmal eine Online-Supervision oder ähnliches zu buchen. Dadurch wird einem relativ schnell klar, was man selbst möchte und was nicht.

Da ich sehr visuell und analog arbeite, musste ich mir gut überlegen, wie meine Methoden online funktionieren. So habe ich eine kleinere Flipchart, die man auf dem Bildschirm auf einen Blick einsehen kann. Dazu stets griffbereit eine beschränkte Auswahl Tierfiguren und einen Zeichenblock. Mit diesen Methoden habe ich gute Online-Erfahrungen gemacht – andere scheinen mir weniger zielführend zu sein (Bildarbeit, Arbeit mit dem leeren Stuhl etc.)

Wie erwähnt, kann es zur Wahrung der Privatsphäre sinnvoll sein, den Coachee im Vorfeld darauf hin zu weisen, dass er sich überlegen soll, welchen Hintergrund er mir präsentieren möchte. Wenn einem dieser sehr irritiert, sollte es klar angesprochen werden (Beispiel: jemand sammelt Totenköpfe....).

Chancen der Online-Begleitung

Eine grosse Chance ist die Online-Begleitung für Menschen, für die eine Anreise zum Coach/Therapeuten zur logistischen oder zeitlichen Herausforderung wird. Beispielsweise:

  • abgelegenes Wohnen
  • kaum Angebote in erreichbarer Nähe
  • fehlende Kinderbetreuung (wobei darauf geachtet werden sollte, dass KEINE Kinder im Hintergrund sind, da damit der sichere/ungestörte Raum nicht gewährt ist)
  • körperliche Einschränkungen
  • Kurzsitzungen sinnvoller scheinen, als übliche 50 bis 60 Minuten Termine
  • Je nach somatischer oder psychischer Ausgangslage, kann ein Gespräch online besser funktionieren als in Vivo. So spricht einer meiner jugendlichen Klienten mit einer ADHS/ASS Kombination online viel mehr als in der Praxis

Grenzen der Online-Beratung

  • Unsicherer Umgang mit den neuen Medien seitens des Coaches oder Coachees
  • Schlechtes Zeitmanagement (in der Praxis sehen meine Klienten die Uhr – im Online- Gespräch muss ich sie darauf hinweisen, dass die Zeit gleich um ist. Unbedingt Pufferzone einplanen!)
  • Nonverbale Aspekte gehen häufig unter, da wenig sichtbar (somatische Marker, Körperhaltungen gesamtheitlich, etc.)

Alles in allem habe ich für mich festgestellt, dass mir die Online-Begleitung neue Möglichkeiten eröffnet und meinen Alltag in einigen Punkten deutlich entspannt. Ich werde deshalb weiterhin beide Coaching-Formen anbieten.

Wie immer stehe ich für Rückmeldungen unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! zur Verfügung

Weiterführende Links:

https://www.therapie.de/fileadmin/dokumente/Presseartikel/therapiede_Dossier_Online-Therapie.pdf

https://www.coaching-magazin.de/wissenschaft/chancen-und-grenzen-von-online-coaching

 
 

Buchbesprechung

Isolde Schaffter-Wieland, ADHS Coach icp, Beraterin elpos Zürich, Glarus, Schaffhausen, Vorstandsmitglied SFG ADHS.

 

 

Autismus verstehen

Aussen- und Innensichten

Georg Theunissen (Hrsg.), Kohlhammer

  1. aktualisierte Auflage/2020

Professor Dr. Georg Theunissen ist Herausgeber dieser 247 Seiten starken Schrift für therapeutische Fachpersonen sowie Eltern, Pädagogen oder andere Bezugspersonen im unterstützenden Umfeld. Der Ordinarius für Geistigbehindertenpädagogik (i.R.) war 2012 Gründer des ersten Lehrstuhls für Pädagogik bei Autismus an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er versteht sein Werk unter anderem als ein Plädoyer für die Wertschätzung von autistischen Fähigkeiten und Stärken sowie für die Bedeutsamkeit einer verstehenden Sicht von Autismus. Deshalb ist seine Publikation in Zusammenarbeit mit autistischen Persönlichkeiten (Jürgen Boxberger, Ralf Drenkhahn, Gerrit Helmholz-Vero, Imke Heuer, Wolfram Kulig, Peter Schmidt, Hajo Seng, Stefan Wepil, Gina Wohlert, Dietmar Zöller) und Angehörigen (Kerstin Rückerl, Regina Wohlert) entstanden. Sie gewähren Aussenstehenden mit ihren Schilderungen einen spannenden Einblick in die Innensicht von Betroffenen.

Das Thema Autismus erlebte in den letzten Jahren einen beachtlichen Aufschwung. So wurde eine Fülle an autobiografischer Literatur über autistisches Wahrnehmen, Denken und Handeln publiziert und die weit verbreitete klinisch-pathologisierende Sicht von Autismus in Frage gestellt. Das Interesse der Gesellschaft für diese Thematik wurde erstmals auf einer breiteren Ebene durch den Film «Rain Man» geweckt. Inzwischen wurden auch die Diagnose-Instrumente zur Erfassung autistischer Verhaltensweisen verfeinert und weiterentwickelt. Dieses Buch will die Sichtweisen von autistischen Personen verstehen und mit wissenschaftlichen Erkenntnissen vor allem aus dem Bereich der Neurowissenschaften abgleichen. Dabei werfen neurowissenschaftliche Erkenntnisse ein ganz neues Licht auf die Fähigkeiten und Intelligenz von Menschen im Autismus-Spektrum. Die dabei herausgearbeiteten Merkmale werden in der Folge von Betroffenen selbst – gewissermaßen aus der "Innensicht" – beleuchtet: Unter anderem in den Bereichen Wahrnehmungsbesonderheiten, unübliches Lernverhalten, fokussiertes Denken, Schwierigkeiten bei der Kommunikation und sozialen Interaktion.

Der erste Teil des Buches stellt den aktuellen Stand der Forschung dar. Dabei geht es gemäss der Einführung von Wolfram Kulig erstens – nach einem kurzen Blick auf das traditionelle (überwiegend medizinische) Verständnis – um die Vorstellung der modernen Auffassung eines Autismus-Spektrums. Beschrieben wird dies anhand von sieben Kriterien, die ursprünglich von der Autistin D. Raymaker stammen und von der US-amerikanischen Selbstvertretungsbewegung (Autistic Self Advocacy Network) übernommen wurden. Zweitens werden aktuelle Theorien zur Erklärung von Autismus vorgestellt, die vor allem neurowissenschaftlicher Art sind. Dem Autor ist es lobenswert gelungen, die teilweise komplizierten Darstellungen der Fachliteratur verständlich aufzubereiten. Insgesamt werden sieben verschiedene Ansätze thematisiert. Drittens legt Georg Theunissen seinen Schwerpunkt auf die Beschreibung von autistischen Fähigkeiten, besonders der autistischen Intelligenz. Dabei werden zwölf verschiedene Eigenschaften beschrieben, die (auch) als Stärken des Denkens von Menschen im Autismus-Spektrum verstanden werden können. Diesen «Aussensichten» auf Autismus stehen im zweiten Teil des Buches die «Innensichten» gegenüber. Für Aussenstehende, die sich zuvor noch nie wirklich mit diesem Thema auseinandergesetzt haben, wirken die analytischen und tiefgründigen Texte der verschiedenen Autoren wie eine Offenbarung. Mit dem authentischen Einblick ins autistische Denken, Handeln und Fühlen erreicht diese Publikation, was sich der Herausgeber gewünscht hat: Verständnis, aber auch Respekt gegenüber diesen Menschen, ihren Sichtweisen und Fähigkeiten.

Einziger Einwand: Wer in diesem Buch nach einer vertieften Thematisierung der ADHS mit ASS sucht, wird (leider) nicht fündig. In Anbetracht dessen, dass rund 70 % der Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung auch von einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung betroffen sind und bei rund 13 % der Kinder mit ADHS auch ASS diagnostiziert wird, wäre dies eine wünschenswerte Ergänzung in dieser 2. aktualisierten Ausgabe gewesen. Wer sich eingehender darüber informieren möchte: Die Ausgabe Pädiatrie 1/2019 (springermedizin.de) widmet der Doppeldiagnose einen Artikel von Dr. Anna Felnhofer, Dr. Oswald D. Kothgassner, Prof. PD Dr. Claudia Klier.

Weiterbildungshinweise

 

  • Weiterbildung in Coaching mit Vertiefung in ADHS und Autismus-Spektrum-Störung, Schweizerischer Berufsverband für angewandte Psychologie. Ort: PH Zürich, Start: 28. 8. 2020
  • Zertifikatsausbildung zum ADHS-Coach von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, Höhere Fachschule für Sozialpädagogik ICP. Ort: Coachingzentrum Olten, Start: 24. 10. 2020

Weitere Informationen zu den beiden Weiterbildungen finden Sie auf unserer Homepage (Veranstaltungen): https://www.sfg-adhs.ch/